Julie Löwy (1856–1934), die Mutter von • Franz
Kafka und Ehefrau von • Hermann
Kafka (1952-1931) stammte aus einer wohlhabenden jüdischen
Kaufmannsfamilie aus Podébrady, einer kleinen tschechischen Stadt an
der Elbe.
Ihre Familie lebte dort in fünfter Generation. Nach der
josephinischen Namensreform (1787) hatten sich Julies Großeltern
entschieden, künftig den "Allerweltsnamen" Löwy als Stammnamen zu
führen.statt wie bisher Borias bzw. später Borges zu heißen (vgl. Stach
(2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.48f.). FISCHER E-Books.
Kindle-Version)
Wie die Kindheit Julies aussah, liegt weitgehend im Dunkeln.
Besonders prägend für sie dürfte allerdings der frühe Tod ihrer
leiblichen Mutter und der bald darauf folgende Suizid ihrer
Großmutter gewesen sein. Zu den psychischen Folgen kam hinzu, dass
sie fortan "umgeben von fünf Brüdern, [...] mit scheinbarer
Naturnotwendigkeit" (vgl.
ebd.,
S.51), in eine weiblich-fürsorgliche Rolle hineinwuchs, die ihr
andernfalls nicht in diesem Ausmaß zugefallen wäre. Damit war auch
ein Gedanke, an einen von dieser Rolle abweichenden anderen
Lebensentwurf vom Tisch, da sich die junge Frau so sehr mit ihrer
Rolle identifizierte, "dass Charakter und Sozialcharakter
miteinander verschmolzen." (vgl.
ebd.,
S.52)
Die Familie war ihr Leben. Das galt für die Familie, aus der sie
kam, aber auch für die Familie, die sie sich selbst gegründet hatte.
Dabei ging es nicht nur um die äußeren Umstände, sondern auch um
ihre Gefühle. Die Mühen, die damit verbunden waren, empfand sie wohl
oft als leidvoll, aber nicht als persönliches Opfer. Sie hatte
früher als andere Mädchen gelernt, sich dem übergeordneten
Familieninteresse unterzuordnen, war frühzeitig haushälterische und
gefühlsmäßige Managerin des Familienlebens. Beobachter schätzten
ihre Warmherzigkeit und Freundlichkeit, Wesenszüge, die sie von
klein auf gelernt hatte, wenn sie sich fürsorglich um andere
kümmerte. Der frühe Tod der Mutter im Alter von nur 29 Jahren führte
dazu, dass die älteste Tochter trotz der erneuten Heirat des Vaters
bereits in jungen Jahren im elterlichen Haushalt zur Hand gehen und
sich zudem um ihre fünf Brüder kümmern musste. Dies hatte zur Folge,
dass ihre schulische Bildung darunter litt und sich wohl lediglich
auf Privatunterricht im elterlichen Haushalt beschränkte. Dies war
jedoch nicht ungewöhnlich für diese Zeit. Allerdings hatte es den
Nachteil, dass Julies Möglichkeiten, andere gleichaltrigen Mädchen
außerhalb der jüdischen Gemeinde zu treffen, sehr eingeschränkt
waren.
Ihr Vater Jakob Löwy gab, warum auch immer, im Jahr 1876 sein
Stoffgeschäft auf, veräußerte es und zog als wohlhabender Privatier
mit seiner zweiten Frau, seiner Tochter Julie und seinen noch im
Haushalt lebenden beiden Söhnen im Alter von elf und fünfzehn Jahren
nach Prag.
Im Jahr 1882 lernte
Julie Löwy Hermann Kafka über einen Heiratsvermittler kennen. Die Schadchan oder Schadchen, wie diese Personen genannt werden, führen
ihre Tätigkeit gemäß uralter Traditionen in jüdischen Gemeinden aus.
Sie arrangieren die Ehe allerdings nicht, sondern sollen helfen,
dass sich Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter im öffentlichen
und privaten Raum begegnen, kennen lernen und im Idealfall sogar
lieben lernen können. Bis heute spielt diese Form der Eheanbahnung,
die stets auch auf der Zuneigung der zukünftigen Partner beruhen
soll, eine außerordentliche große Rolle im jüdischen Leben.
Wahrscheinlich
waren es Julies Eltern, die den Heiratvermittler engagierten, um
einen geeigneten Mann für ihre Tochter zu finden. Dabei ist es im
Judentum, für das die Ehe ein sehr hoher Wert ist,
untersagt, auf
einen der Beteiligten Druck auszuüben. Dementsprechend hatten auch
Julies Eltern ihrer mit 26 Jahren längst heiratsfähigen Tochter alle
Freiheit gelassen, in Ruhe unter den von dem Heiratsvermittler
vorgeschlagenen Bewerben auszuwählen.
Was Julie an wohl
zunächst Hermann imponierte, war, wie entschlossen er den Sprung in
die Selbständigkeit mit dem eigenen Geschäft meisterte. Fortan
konnte sie die soziale Rolle übernehmen, die einer jüdischen
bürgerlichen Frau zugedacht waren. Als Geschäftsfrau und Mutter sah
sie in der Heirat mit Hermann Kafka kein "Zuschnappen einer Falle,
sondern im Gegenteil als eine beträchtliche Erweiterung ihrer
Spielräume und als persönliche Aufwertung" (
ebd.,
S.54), zumal ihre Stellung als Ehefrau, Mutter, Erzieherin und
erfolgreicher Geschäftsfrau ihren Status deutlich markierte.
Für den jungen und
ehrgeizigen Hermann, der lange Zeit als »Hausierer,
d. h.
als Vertreter für Gemischtwaren, von Haustüre zu
Haustüre unterwegs gewesen war, war dies eine gute Partie, denn
Julie brachte eine ansehnliche Mitgift in die Ehe ein.
Im Jahr darauf
brachte sie ihren Sohn Franz zur Welt. dem in den nächsten Jahren
noch die beiden Söhne Georg (1885-87) und Heinrich (1887/88)
folgten, die allerdings schon im Säuglings- bzw. frühen
Kleinkindalter verstarben. Bis 1892 brachte sie, nahezu im
jährlichen Abstand, hintereinander ihre drei Töchter »Elli
(1889-1942, ermordet im »Vernichtungslager
Kulmhof).),
»Valli
(1890-1942, ermordet im »Vernichtungslager
Kulmhof) und
»Ottla (1892-1943, ermordet im
»KZ
Auschwitz-Birkenau) zur Welt.
Mit der Aussteuer, die Julie mitbrachte, konnte Hermann am nördlichen »Altstädter
Ring, in bester Innenstadtlage von Prag eine Großhandlung für Stoff- und »Galanteriewaren (Stöcke,
Schirme, »Kurzwaren)
eröffnen.
Damit begann auch für Julie an seiner Seite und die ganze Familie "eine Lebensphase
im Zeichen des bürgerlichen Erfolgs" (Alt 2008,
S.24),
an der aber auch Julie einen maßgeblichen Anteil hatte. Nicht nur
dass sie jeden Tag von morgens früh bis abends spät im Geschäft
mitarbeitete, sie sprach bei allen
unternehmerischen Entscheidungen mit.
Beide Eheleute brachten in
einer Phase, in der sich Prag auf dem Weg zu einer modernen
Metropole befand, alles mit, was man brauchte, um in dieser
Aufbruchsära einen guten Platz einzunehmen und zu behaupten. Sie
verfügten beide über "Fleiß, Ausdauer, Zielstreben und Beständigkeit
unter den Bedingungen eines rücksichtslosen Existenzkampfes", waren
in der Lage, sich an ihr komplexes politisches Umfeld anzupassen und
verfügten über "genügend Pragmatismus, um lebensnotwendige
Entscheidungen zu fällen." (Haring
2010, S.1) Zugleich aber akzeptierten sie, vor allem aber wohl
Hermann keinen anderen moralischen Codex "als den des ökonomischen
Kriegsrechts, angepasst an die Bedingungen eines permanenten
Ausnahmezustands: ›Jeder für sich und alle gegen mich.‹" (Stach
(2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.64). FISCHER E-Books.
Kindle-Version)
Auch wenn es geschäftlich stets bergauf ging, ließ
die Angst vor dem geschäftlichen Ruin Hermann und Julie offenbar
kaum los. Um mit dieser Angst umgehen zu können, vergrößerten sie
ständig das Angebot in ihrem Geschäft, reinvestierten die erzielten
Gewinne und nutzen jede Gelegenheit, die sich ihnen bot, mit ihrem
Geschäfte an besser gelegene Orte umzuziehen, um in den jeweils
größer werden Geschäftslokalen das Sortiment zu erweitern. Man
verkaufte Leinen und Unterwäsche, Spitzen und Schleifen, Strümpfe
und Schürzen, Taschentücher, Schnallen, Döschen, Fächer, Knöpfe,
Krägen, Muffs, Filzschuhe … daneben Spielmurmeln, Nadeln,
Taschenmesser, Zahnbürsten. Am Ende " gab es bei den Kafkas beinahe
alles". (ebd.)
Angesicht der in
dieser Zeit noch immer hohen Kindersterblichkeit war der der frühe
Tod der beiden Söhne nicht unbedingt außergewöhnlich. Dennoch
ist Julie Kafka, die ohnehin zu Schwermut neigte, daran beinahe zerbrochen.
Das lag sicher auch daran, dass der Tod der Kinder in der Familie
ein Tabu war, über wohl das ebenso wenig gesprochen wurde wie über
die eigene Trauer. (vgl. Müller
2008, S.47)
Während ihr Mann
zur Tagesordnung überging, plagten Julie heftige Schuldgefühle, weil
sie glaubte, dass ihre Kinder mit größerer mütterlicher Fürsorge
hätten überleben können. Daran hatte auch ihr Mann seinen Anteil.
Während Julie sich nämlich vorwarf, sich nicht genug selbst um die
kranken Kinder zu kümmern, hatte Hermann sie genau davon abgehalten,
weil er sie "möglichst viele Stunden des Tages um sich sehen wollte
und der ihre Mitarbeit im Geschäft für unverzichtbar hielt" (Stach
(2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.61). FISCHER E-Books.
Kindle-Version) Allerdings lastet auch hier sicherlich nicht die alleinige
Schuld auf Hermann Kafka, denn der Tod von Georg, dem ersten der beiden
so tragisch verstorbenen Kinder, hat offenbar auch die Mutter Julie
nicht dahin gebracht, "zum Schutz aller weiteren Kinder den
absoluten Vorrang des Geschäfts anzufechten und damit eine offene
Auseinandersetzung zu riskieren." (ebd.)
Die Ehe, die
Hermann und Julie ihren Kindern vorlebten, war von einer klaren
Rollenverteilung geprägt. Von ihrer inneren Ordnung her gesehen war
sie patriarchalisch, d. h. "Aufgabe und Lebensprojekt der
Geschlechter waren verschieden, die wesentlichen letzten
Entscheidungen lagen - nach Recht wie nach Sitte - beim Mann, er
dominierte eindeutig." (Schenk
1995, S.84) Zwar entsprach Julie keines keineswegs dem Bild
eines bürgerlichen "Hausmütterchens" entsprach, wie es in
Heiratsanzeigen immer noch angepriesen wurde, aber die Mitsprache
der Mutter und die paternalistische Entscheidungsgewalt des Vaters
waren auch im Hause Kafka zweierlei. Selbst wenn Julie bei allen
Entscheidungen des privaten und geschäftlichen Lebens mitreden
durfte, wurden die Entscheidungen letztlich "in den unerforschlichen
Hirnwindungen des Familienvorstands" getroffen "und diesen Amtsweg
in Frage zu stellen – selbst dann, wenn es sich um eindeutige
Fehlentscheidungen handelte – hätte wesentliche Spielregeln außer
Kraft gesetzt, welche die Ehe der Kafkas im Innersten
zusammenhielten." (Stach
(2014/, Kafka: Die frühen Jahre (S.61f.). FISCHER E-Books.
Kindle-Version)
Das Frauenbild, das hinter dieser
Geschlechterbeziehung stand, wonach die Frauen zwar "Einfluss und
Verantwortung, Männer aber darüber hinaus Macht besitzen" (ebd.,
S.62), entsprach den zeitgenössischen Vorstellungen über das
Geschlechterverhältnis, "war keine Frage der Weltanschauung, der
Erziehung oder der Moral; es war soziale, kulturelle und juristische
Realität, und eine so tiefgreifende, dass sie wie ein
unhintergehbares Apriori das Denken und Sprechen der Geschlechter
vollständig beherrschte. Ganz gleich wie die Lasten tatsächlich
verteilt waren: Männer arbeiteten, Frauen arbeiteten mit, so war es
in der Ordnung." (ebd.)
Und auch Julie scheint die patriarchalische Dominanz als
komplementäre Ergänzung ihrer sozialen Rolle aufgefasst zu haben.
Auch wenn sie schon
von frühauf ein Sensorium für allgemeines menschliches Leid
entwickelte (vgl.
Stach
2014/16, S.52), verfügte sie im Umgang mit ihren Kindern, bei
aller mütterlichen Fürsorge, die ihr die begrenzte Zeit als
Mitarbeiterin im Geschäft ließ, wenig Empathie "für jede Art von
Leid, das sich an individuellen Reibungsflächen entzündet" hat.
ebd.)
Wirklich und zwar unter eigener emotionaler Teilnahme konnte sie
jedenfalls mit den inneren Konflikten, die ihre Kinder bewegten,
nicht umgehen: "vor solchen Sorgen stand sie gänzlich hilflos und
ohne eigene Sprache" (ebd.)
Was sie ihnen in solchen Fällen mitgab, ging oft über mehr oder
weniger gutgemeinte, aber hohle Phrasen nicht hinaus. Und beim Kampf
um Selbständigkeit und Selbstachtung, den ihre Tochter »Ottla (1892-1943) gegen
den Vater führte, stellte sie sich ohne jede Empathie klar an die
Seite ihres Mannes und zeigte nicht die geringste Spur von
Verständnis.
Bei der
tagtäglichen Kindererziehung, die in der Familie Kafka wegen der
ganztäglichen Arbeit der Eltern auf immer wieder wechselnde
Dienstmädchen und Gouvernanten delegiert war, war Julie nicht dabei.
An ihrer Stelle, keineswegs ungewöhnlich für bürgerliche Haushalte
in der Zeit, waren Dienstmädchen und Gouvernanten, die
zum Teil auch aus Frankreich kamen, für alle alltäglichen Dinge
zuständig. Sie kümmerten sich um die Körperpflege der Kinder, lasen ihnen vor,
unternahmen mit den Mädchen Spaziergänge und brachten ihnen bei, wie man
eine gehobene Konversation führen konnte. Außerdem erteilten sie ihnen Sprach-, sowie
Klavier- und Violinenunterricht. Mit diesem Erziehungsprogramm orientierten
sich Hermann und Julie Kafka an den Erziehungs- und Verhaltensregeln des
Großbürgertums. (vgl.
Alt 2008, S.61).
Julie organisierte
den Haushalt, leitete die Dienstmädchen bei ihrer Arbeit an und
erledigte in der Mittagspause die erforderlichen Einkäufe. Sie
bemühte sich auch darum, Konflikte und Spannungen in der Familie und
innerhalb des Personals auszugleichen. Allerdings, so hat sich ihr
Sohn Franz 1919 in seinem • Brief an den Vater
(kurz genannt: Brief) darüber beklagt, dass sie ihm nicht den Schutz
vor dem Vater gegeben habe, den er sich gewünscht hätte: "Man konnte bei ihr zwar immer Schutz finden, doch nur in Beziehung
zu Dir. Zu sehr liebte sie Dich und war Dir zu sehr treu ergeben, als dass sie in dem
Kampf des Kindes eine selbständige geistige Macht für die Dauer hätte sein können. Ein
richtiger Instinkt des Kindes übrigens,
denn die Mutter wurde Dir mit den Jahren immer
noch enger verbunden; während sie immer, was sie selbst betraf, ihre Selbständigkeit in
kleinsten Grenzen schön und zart und ohne Dich jemals wesentlich zu kränken, bewahrte,
nahm sie doch mit den Jahren immer vollständiger, mehr im Gefühl als im Verstand, Deine
Urteile und Verurteilungen hinsichtlich der Kinder blindlings über, besonders in dem
allerdings schweren Fall der »Ottla."
Für Franz war die Situation der Mutter in der Familie nicht gerade
einfach. Sie habe sich in ihrer "Zwischenstellung"
zwischen seinem Vater und den Kinder in gewisser Weise aufgerieben,
wenn sie die Vorhaltungen ihres Mannes wegen ihrer vermeintlich zu
großen Nachsicht in Fragen der Kindererziehung ertragen und
gleichzeitig die Erwartungen die Erwartungen ihrer Kinder erfüllen
wollte. In dem zwischen den beiden Eheleuten "eingeschliffene(n)
Ritual"
(Stach (2004/42015): Kafka: Die Jahre der Entscheidungen,
S.132 Kindle-Version), bei dem ihr Mann, besonders in den Jahren als
Franz längst erwachsen war, die offene Konfrontation mit seinem Sohn
zu vermeiden versuchte, war es ihre Aufgabe geworden, seine Vorwürfe
und "Anklagen in einer weniger beleidigenden, dafür effektiveren,
weil an das Gewissen des Adressaten appellierenden Form
weiterzuleiten – eine traurige Aufgabe, deren fragwürdiger Gewinn
darin bestand, dass sie ihre eigenen Interessen bisweilen mit der
geliehenen Autorität des Familienpatriarchen ummanteln und auf diese
Weise ex officio zur Geltung bringen konnte."
(ebd.)
Sicher war es auch
für Julie Kafka eine Enttäuschung, dass ihr Sohn überhaupt keine
Neigung zeigte, einmal das von ihr und ihrem Mann geführte Geschäft
zu übernehmen. Die Tatsache, dass er einen Gymnasialabschluss machte
und anschließend ein Jurastudium aufnahm, machte auch ihr klar, dass
ihr Sohn anderes im Sinn hatte, als den ganzen Tag im Geschäft zu
stehen. Vor allem seiner Leidenschaft zu schreiben, konnte sie
ebenso wenig abgewinnen, wie ihr Ehemann. Im Gegenteil: Seine Art,
Nächte hindurch zu schreiben, und am nächsten Morgen zur Arbeit zu
gehen, hat sie, als ihr Sohn 1906
nach dem Studium bei der
»Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt
für das Königreich Böhmen in Prag« anfängt, immer wieder für seine
schwächliche Gesundheit verantwortlich gemacht.
Eine ihrer
wichtigsten Aufgaben, die Julie gemeinsam mit ihrem Mann in der
Familie zu bewältigen hatte, war, für eine möglichst auf Dauer
angelegte, standesgemäße und sozial abgesicherte Verheiratung ihrer
drei Töchter zu sorgen, so dass sie die ihnen zugedachte soziale
Rolle als Ehefrau und Mutter erfüllen konnten.
Nachdem die Töchter
ihre Schulen abgeschlossen hatten, befanden sie sich, wie in den
meisten gut bürgerlichen Familien der Zeit, auch im Hause Kafka in
einer Art Ehewartestand. Außer der
jüngsten Tochter Ottilie, genannt »Ottla (1892-1943)
die wahrscheinlich auf eigenen Wunsch hin, im elterlichen Geschäft
mitarbeitete, verbrachten die beiden anderen Töchter Gabriele,
genannt »Elli
(1889-1942) und Valerie, genannt »Valli
(1890-1942), ihre Zeit damit, auf einen geeigneten
Ehepartner zu warten, der ihnen über den Weg der für solche Aufgaben
meistens herangezogenen jüdischen Heiratsvermittlung, so wie ja auch
bei Hermann
Kafka und Julie, zugeführt werden sollte.
Für Julie Kafka war
die Zeit, in der die beiden ältesten Töchter heiraten sollten, auch
deshalb eine außerordentlich wichtige Zeit, weil der Heiratsmarkt,
auf dem sozusagen der ›Wert‹ ihrer Töchter als künftige Bräute›
ermittelt‹ wurde, auch "ihre eigene Leistung als Mutter [...] unter
Beweis" (Wagnerová
22002, S.123) stellte sowie die soziale Position der
Kafkas in der bürgerlichen Gesellschaft markierte. Als ihre älteste
Tochter Elli, der ihr Vater in der Kindheit aus welchen Gründen auch
immer wenig Zuneigung, geschweige Anerkennung zuteil werden ließ, im
November 1910 den sechs Jahre älteren Geschäftsmann Karl Hermann
heiratete, wurde groß Hochzeit gefeiert und ihr eine stattliche
Mitgift mitgegeben.
Eines Morgens, im
Dezember 1911, spricht Franz beim Frühstück, wie er in einer
Tagebuchnotiz vom 19.12.1911 schreibt, mit der Mutter "zufällig über
Kinder und Heiraten, nur ein paar Worte". Dabei fällt ihm offenbar
zum ersten Mal auf, "wie unwahr und kindlich die Vorstellung
ist, die sich meine Mutter von mir macht. Sie hält mich für einen
gesunden jungen Mann, der ein wenig an der Einbildung leidet, krank
zu sein. Diese Einbildung wird mit der Zeit von selbst schwinden,
eine Heirat allerdings und Kinderzeugung würden sie am gründlichsten
beseitigen. Dann würde auch das Interesse an der Literatur auf jenes
Maß zurückgehn, das vielleicht den Gebildeten nötig ist. Das
Interesse an meinem Beruf oder an der Fabrik oder an dem, was mir
gerade in die Hände kommt, wird in selbstverständlicher ungestörter
Größe einsetzen. Zu dauernder Verzweiflung an meiner Zukunft ist
daher nicht der geringste, mit keiner Ahnung zu berührende Grund; zu
zeitweiliger Verzweiflung, die aber auch nicht tief geht, ist dann
Veranlassung, wenn ich wieder einmal den Magen verdorben zu haben
glaube oder wenn ich, weil ich zu viel schreibe, nicht schlafen
kann. Lösungsmöglichkeiten gibt es tausende. Die wahrscheinlichste
ist, daß ich mich plötzlich in ein Mädchen verliebe und von ihr
nicht mehr werde ablassen wollen. Dann werde ich sehn, wie gut man
es mit mir meint und wie man mich nicht hindern wird. Wenn ich aber
Junggeselle werde wie der Onkel in Madrid, wird es auch kein Unglück
sein, weil ich in meiner Gescheitheit mich schon einzurichten wissen
werde." (Kafka,
Tagebücher 1910-1923, S.168-169)
Wie sehr Julie sich
diese Zukunft wünschte, machte deutlich, als sie sich knapp ein Jahr
später in die sich anbahnende Beziehung ihrer Sohnes mit der
Prokuristin
»Felice
Bauer (1887-1960) aus Berlin kennen, die er erstmals im
August bei seinem Freund Max
Brod (1884-1968) getroffen hatte. Franz hatte sich, "um sich vor der
Neugierde seiner Mutter zu schützen" (Wagnerová
22002, S.135) die Briefe, die sich die beiden im
Herbst 1912 schrieben, vorsorglich an seine Dienststelle in der
Arbeiter-Unfall-Versicherung senden lassen. Als sie, weil Franz
einer der Briefe in seiner Manteltasche mit nach Hause nahm, fand
sie diesen und las ihn. Sogleich nimmt sie in einem Brief selbst
Kontakt mit Felice Bauer auf, um sie auf die schwache Gesundheit
ihres Sohnes und ihre Ursache aus ihrer Sicht hinzuweisen:
"Daß er sich in
seinen Mußestunden mit dem Schreiben beschäftigt, weiß ich schon
viele Jahre. Ich hielt dies aber nur für einen Zeitvertreib. Auch
dies würde ja seiner Gesundheit nicht schaden, wenn er schlafen und
essen würde wie andere junge Leute in seinem Alter. Er schläft und
ißt so wenig, daß er seine Gesundheit untergräbt [...] Darum bitte
ich Sie sehr, ihn auf eine Art darauf aufmerksam zu machen, und ihn
[zu] befragen wie er lebt, was er ißt, wieviel Mahlzeiten er nimmt,
überhaupt seine Tageseintheilung." (zit. n.
Wagnerová
22002, S.135f.)
Ihr Sohn war, als
er davon erfährt, natürlich entrüstet und für eine gewisse Zeit lang
war das Verhältnis beider zueinander dadurch ernsthaft getrübt,
zumal sie auch später, "als die Beziehung zwischen ihrem Sohn und
Felice ernster wird, darauf besteht, Auskünfte über die Familie
Bauer einzuholen." (ebd.,
S.136)
Natürlich war Julie
zu dieser Zeit im "Heiratsmodus", was zumindest ein Stück weit, ihre
übergriffige Intervention in das Liebesleben ihres Sohnes erklären
kann. Kaum ein Jahr später war dann Valli, die erklärte
Lieblingstochter ihres Mannes, deren mit dem acht Jahre älteren
Angestellten Josef Pollak im Januar 1913 verheiratet und begründete
damit ihren eigenen Hausstand. In der Familie lebten fortan nur noch
das "Nesthäkchen" die zweiundzwanzig Jahre alte »Ottla (1892-1943)
sowie der dreißigjährige Sohn • Franz (1883-1924).
Als sich ihr Sohn
Franz und »Felice Bauer
(1887-1960) zur förmlichen Verlobung entschieden, sah es in
ihren Augen so aus, als würde sich endlich alles doch noch zum Guten
werden und "die bürgerliche Normalität endlich die Oberhand über
zuviel Tiefsinn und Zweifel [... ] gewinnen." (Wagnerová
22002, S.153) Zur Vorbereitung der Verlobungsfeier
reiste sie mit ihrer Tochter schon am 26. Mai 1914 auf Einladung der
Familie Bauer nach Berlin, um sich kennen zu lernen und um die
Einrichtung der zukünftigen Wohnung des Paares, das im Herbst des
gleichen Jahres heiraten wollte, zu kümmern. Ihnen folgten ein paar
Tage später Franz Kafka und sein Vater für die in Berlin ausgerichtete •
Verlobungsfeier nach.
Kaum sechs Wochen
später wurde die Verlobung wieder offiziell aufgelöst. Für Julie war
dies ein besonders harter Schlag. Als Franz sie in einem Brief über
die näheren Umstände informierte, war sie völlig konsterniert, war,
wie sie selbst in einem Brief an die Mutter von Felice vom 20.7.1914
schreibt, "zur Salzsäule erstarrt [...] den ganzen Tag wie
zerschlagen", gab aber doch die Hoffnung noch nicht ganz auf. Ihrer
Meinung nach, sollten sich beide einfach noch Zeit lassen, denn es
habe ja keine Eile mit dem Heiraten. Und was sie sich dabei von
Felice erhoffte, machte sie ebenfalls unmissverständlich klar, als
sie über ihren Sohn und sie schrieb: "Vielleicht ist er nicht für
die Ehe geschaffen, denn sein Trachten ist nur sein Schreiben, das
ist ihm das Wichtigste im Leben. Dabei baue ich auf die Klugheit
Felicens, denn ich sagte mir, daß eine gescheite Frau die Kraft
besitzt, einen Mann umzumodln." (zit.
Wagnerová
22002, S.154) Im Grunde trug sie Felice damit das
gleiche "Umerziehungsprogramm" auf, das sie schon in dem zum
Zerwürfnis mit Franz führenden
Brief an Felice Bauer
1911 dargelegt hatte.
Mit ihrem "ewige(n)
Lamento, allein der Franz sei schuld an der Verbitterung und an
der schlechten körperlichen Verfassung des Vaters", das sie 1912
erhob, als sich Franz partout nicht so, wie vom Vater gewünscht. um
die ins Trudeln geratene •
Asbest-Fabrik in Prag, eine kleinere Werkstätte mit etwa 20
Mitarbeitern, die Hermann, sein Sohn und der Ehemann ihrer Tochter
Elli 1911 gegründet hatten, belastete die zeitweise schlechte
Stimmung zwischen ihr und ihrem Sohn.
Da Franz sich durch
die von ihm fortan erwarteten Pflichten als stiller Teilhaber des
Unternehmens neben anderen Vorbehalten vor allem in seinem Schreiben
schmerzlich gehindert sieht, gerät Franz im Oktober 1912, in einer
Zeit intensivster literarischer Nachtarbeit in eine
existenzbedrohende Krise, bei der er sich sogar mit
Selbstmordgedanken trägt. Während einer vierzehntätigen Abwesenheit
seines Schwagers Karl Hermann, dem Ehemann seiner Schwester »Elli
(1889-1942), sollte er regelmäßig in der Fabrik sein. »Max
Brod (1884-1968) war über die Verfassung seines Freundes so
entsetzt, dass er bei Julie Kafka vorsprach und erreichte, dass
diese ihrem Mann vorgaukelte, ihr Sohn sei jeden Tag in der Fabrik,
während in Wirklichkeit jemand anderer dort die Aufsicht führte.
(vgl.
Alt 2008, S.341)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.10.2024