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Die familiäre Sozialisation Franz Kafkas

Die Mutter: Julie Kafka, geb. Löwy

Franz Kafka (1883-1924) – BiografieEinzelne biografische Aspekte

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur
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Julie Löwy (1856–1934), die Mutter von • Franz Kafka und Ehefrau von • Hermann Kafka (1952-1931) stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie aus Podébrady, einer kleinen tschechischen Stadt an der Elbe.

Ihre Familie lebte dort in fünfter Generation. Nach der josephinischen Namensreform (1787) hatten sich Julies Großeltern entschieden, künftig den "Allerweltsnamen" Löwy als Stammnamen zu führen.statt wie bisher Borias bzw. später Borges zu heißen (vgl. Stach (2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.48f.). FISCHER E-Books. Kindle-Version)

Wie die Kindheit Julies aussah, liegt weitgehend im Dunkeln. Besonders prägend für sie dürfte allerdings der frühe Tod ihrer leiblichen Mutter und der bald darauf folgende Suizid ihrer Großmutter gewesen sein. Zu den psychischen Folgen kam hinzu, dass sie fortan "umgeben von fünf Brüdern, [...] mit scheinbarer Naturnotwendigkeit" (vgl. ebd., S.51), in eine weiblich-fürsorgliche Rolle hineinwuchs, die ihr andernfalls nicht in diesem Ausmaß zugefallen wäre. Damit war auch ein Gedanke, an einen von dieser Rolle abweichenden anderen Lebensentwurf vom Tisch, da sich die junge Frau so sehr mit ihrer Rolle identifizierte, "dass Charakter und Sozialcharakter miteinander verschmolzen." (vgl. ebd., S.52)

Die Familie war ihr Leben. Das galt für die Familie, aus der sie kam, aber auch für die Familie, die sie sich selbst gegründet hatte. Dabei ging es nicht nur um die äußeren Umstände, sondern auch um ihre Gefühle. Die Mühen, die damit verbunden waren, empfand sie wohl oft als leidvoll, aber nicht als persönliches Opfer. Sie hatte früher als andere Mädchen gelernt, sich dem übergeordneten Familieninteresse unterzuordnen, war frühzeitig haushälterische und gefühlsmäßige Managerin des Familienlebens. Beobachter schätzten ihre Warmherzigkeit und Freundlichkeit, Wesenszüge, die sie von klein auf gelernt hatte, wenn sie sich fürsorglich um andere kümmerte. Der frühe Tod der Mutter im Alter von nur 29 Jahren führte dazu, dass die älteste Tochter trotz der erneuten Heirat des Vaters bereits in jungen Jahren im elterlichen Haushalt zur Hand gehen und sich zudem um ihre fünf Brüder kümmern musste. Dies hatte zur Folge, dass ihre schulische Bildung darunter litt und sich wohl lediglich auf Privatunterricht im elterlichen Haushalt beschränkte. Dies war jedoch nicht ungewöhnlich für diese Zeit. Allerdings hatte es den Nachteil, dass Julies Möglichkeiten, andere gleichaltrigen Mädchen außerhalb der jüdischen Gemeinde zu treffen, sehr eingeschränkt waren.

Ihr Vater Jakob Löwy gab, warum auch immer, im Jahr 1876 sein Stoffgeschäft auf, veräußerte es und zog als wohlhabender Privatier mit seiner zweiten Frau, seiner Tochter Julie und seinen noch im Haushalt lebenden beiden Söhnen im Alter von elf und fünfzehn Jahren nach Prag.

Im Jahr 1882 lernte Julie Löwy Hermann Kafka über einen Heiratsvermittler kennen. Die Schadchan oder Schadchen, wie diese Personen genannt werden, führen ihre Tätigkeit gemäß uralter Traditionen in jüdischen Gemeinden aus. Sie arrangieren die Ehe allerdings nicht, sondern sollen helfen, dass sich Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter im öffentlichen und privaten Raum begegnen, kennen lernen und im Idealfall sogar lieben lernen können. Bis heute spielt diese Form der Eheanbahnung, die stets auch auf der Zuneigung der zukünftigen Partner beruhen soll, eine außerordentliche große Rolle im jüdischen Leben.

Wahrscheinlich waren es Julies Eltern, die den Heiratvermittler engagierten, um einen geeigneten Mann für ihre Tochter zu finden. Dabei ist es im Judentum, für das die Ehe ein sehr hoher Wert ist, untersagt, auf einen der Beteiligten Druck auszuüben. Dementsprechend hatten auch Julies Eltern ihrer mit 26 Jahren längst heiratsfähigen Tochter alle Freiheit gelassen, in Ruhe unter den von dem Heiratsvermittler vorgeschlagenen Bewerben auszuwählen.

Was Julie an wohl zunächst Hermann imponierte, war, wie entschlossen er den Sprung in die Selbständigkeit mit dem eigenen Geschäft meisterte. Fortan konnte sie die soziale Rolle übernehmen, die einer jüdischen bürgerlichen Frau zugedacht waren. Als Geschäftsfrau und Mutter sah sie in der Heirat mit Hermann Kafka kein "Zuschnappen einer Falle, sondern im Gegenteil als eine beträchtliche Erweiterung ihrer Spielräume und als persönliche Aufwertung" ( ebd., S.54), zumal ihre Stellung als Ehefrau, Mutter, Erzieherin und erfolgreicher Geschäftsfrau ihren Status deutlich markierte.

Für den jungen und ehrgeizigen Hermann, der lange Zeit als »Hausierer, d. h. als Vertreter für Gemischtwaren, von Haustüre zu Haustüre unterwegs gewesen war, war dies eine gute Partie, denn Julie brachte eine ansehnliche Mitgift in die Ehe ein.

Im Jahr darauf brachte sie ihren Sohn Franz zur Welt. dem in den nächsten Jahren noch die beiden Söhne Georg (1885-87) und Heinrich (1887/88) folgten, die allerdings schon im Säuglings- bzw. frühen Kleinkindalter verstarben. Bis 1892 brachte sie, nahezu im jährlichen Abstand, hintereinander ihre drei Töchter »Elli (1889-1942, ermordet im »Vernichtungslager Kulmhof).), »Valli (1890-1942, ermordet im »Vernichtungslager Kulmhof) und »Ottla (1892-1943, ermordet im »KZ Auschwitz-Birkenau) zur Welt.

Mit der Aussteuer, die Julie mitbrachte, konnte Hermann am nördlichen »Altstädter Ring, in bester Innenstadtlage von Prag eine Großhandlung für Stoff- und »Galanteriewaren (Stöcke, Schirme, »Kurzwaren) eröffnen.

Damit begann auch für Julie an seiner Seite und die ganze Familie "eine Lebensphase im Zeichen des bürgerlichen Erfolgs" (Alt 2008, S.24), an der aber auch Julie einen maßgeblichen Anteil hatte. Nicht nur dass sie jeden Tag von morgens früh bis abends spät im Geschäft mitarbeitete, sie sprach bei allen unternehmerischen Entscheidungen mit.

Beide Eheleute brachten in einer Phase, in der sich Prag auf dem Weg zu einer modernen Metropole befand, alles mit, was man brauchte, um in dieser Aufbruchsära einen guten Platz einzunehmen und zu behaupten. Sie verfügten beide über "Fleiß, Ausdauer, Zielstreben und Beständigkeit unter den Bedingungen eines rücksichtslosen Existenzkampfes", waren in der Lage, sich an ihr komplexes politisches Umfeld anzupassen und verfügten über "genügend Pragmatismus, um lebensnotwendige Entscheidungen zu fällen." (Haring 2010, S.1) Zugleich aber akzeptierten sie, vor allem aber wohl Hermann keinen anderen moralischen Codex "als den des ökonomischen Kriegsrechts, angepasst an die Bedingungen eines permanenten Ausnahmezustands: ›Jeder für sich und alle gegen mich.‹" (Stach (2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.64). FISCHER E-Books. Kindle-Version)

Auch wenn es geschäftlich stets bergauf ging, ließ die Angst vor dem geschäftlichen Ruin Hermann und Julie offenbar kaum los. Um mit dieser Angst umgehen zu können, vergrößerten sie ständig das Angebot in ihrem Geschäft, reinvestierten die erzielten Gewinne und nutzen jede Gelegenheit, die sich ihnen bot, mit ihrem Geschäfte an besser gelegene Orte umzuziehen, um in den jeweils größer werden Geschäftslokalen das Sortiment zu erweitern. Man verkaufte Leinen und Unterwäsche, Spitzen und Schleifen, Strümpfe und Schürzen, Taschentücher, Schnallen, Döschen, Fächer, Knöpfe, Krägen, Muffs, Filzschuhe … daneben Spielmurmeln, Nadeln, Taschenmesser, Zahnbürsten. Am Ende " gab es bei den Kafkas beinahe alles". (ebd.)

Angesicht der in dieser Zeit noch immer hohen Kindersterblichkeit war der der frühe Tod der beiden Söhne nicht unbedingt  außergewöhnlich. Dennoch ist Julie Kafka, die ohnehin zu Schwermut neigte, daran beinahe zerbrochen.  Das lag sicher auch daran, dass der Tod der Kinder in der Familie ein Tabu war, über wohl das ebenso wenig gesprochen wurde wie über die eigene Trauer. (vgl. Müller 2008, S.47)

Während ihr Mann zur Tagesordnung überging, plagten Julie heftige Schuldgefühle, weil sie glaubte, dass ihre Kinder mit größerer mütterlicher Fürsorge hätten überleben können. Daran hatte auch ihr Mann seinen Anteil. Während Julie sich nämlich vorwarf, sich nicht genug selbst um die kranken Kinder zu kümmern, hatte Hermann sie genau davon abgehalten, weil er sie "möglichst viele Stunden des Tages um sich sehen wollte und der ihre Mitarbeit im Geschäft für unverzichtbar hielt" (Stach (2014/16), Kafka: Die frühen Jahre (S.61). FISCHER E-Books. Kindle-Version) Allerdings  lastet auch hier sicherlich nicht die alleinige Schuld auf Hermann Kafka, denn der Tod von Georg, dem ersten der beiden so tragisch verstorbenen Kinder, hat offenbar auch die Mutter Julie nicht dahin gebracht, "zum Schutz aller weiteren Kinder den absoluten Vorrang des Geschäfts anzufechten und damit eine offene Auseinandersetzung zu riskieren." (ebd.)

Die Ehe, die Hermann und Julie ihren Kindern vorlebten, war von einer klaren Rollenverteilung geprägt. Von ihrer inneren Ordnung her gesehen war sie patriarchalisch, d. h. "Aufgabe und Lebensprojekt der Geschlechter waren verschieden, die wesentlichen letzten Entscheidungen lagen - nach Recht wie nach Sitte - beim Mann, er dominierte eindeutig." (Schenk 1995, S.84) Zwar entsprach Julie keines keineswegs dem Bild eines bürgerlichen "Hausmütterchens" entsprach, wie es in Heiratsanzeigen immer noch angepriesen wurde, aber die Mitsprache der Mutter und die paternalistische Entscheidungsgewalt des Vaters waren auch im Hause Kafka zweierlei. Selbst wenn Julie bei allen Entscheidungen des privaten und geschäftlichen Lebens mitreden durfte, wurden die Entscheidungen letztlich "in den unerforschlichen Hirnwindungen des Familienvorstands" getroffen "und diesen Amtsweg in Frage zu stellen – selbst dann, wenn es sich um eindeutige Fehlentscheidungen handelte – hätte wesentliche Spielregeln außer Kraft gesetzt, welche die Ehe der Kafkas im Innersten zusammenhielten." (Stach (2014/, Kafka: Die frühen Jahre (S.61f.). FISCHER E-Books. Kindle-Version)

Das Frauenbild, das hinter dieser Geschlechterbeziehung stand, wonach die Frauen zwar "Einfluss und Verantwortung, Männer aber darüber hinaus Macht besitzen" (ebd., S.62), entsprach den zeitgenössischen Vorstellungen über das Geschlechterverhältnis, "war keine Frage der Weltanschauung, der Erziehung oder der Moral; es war soziale, kulturelle und juristische Realität, und eine so tiefgreifende, dass sie wie ein unhintergehbares Apriori das Denken und Sprechen der Geschlechter vollständig beherrschte. Ganz gleich wie die Lasten tatsächlich verteilt waren: Männer arbeiteten, Frauen arbeiteten mit, so war es in der Ordnung." (ebd.) Und auch Julie scheint die patriarchalische Dominanz als komplementäre Ergänzung ihrer sozialen Rolle aufgefasst zu haben.

Auch wenn sie schon von frühauf ein Sensorium für allgemeines menschliches Leid entwickelte (vgl. Stach 2014/16, S.52), verfügte sie im Umgang mit ihren Kindern, bei aller mütterlichen Fürsorge, die ihr die begrenzte Zeit als Mitarbeiterin im Geschäft ließ, wenig Empathie "für jede Art von Leid, das sich an individuellen Reibungsflächen entzündet" hat. ebd.) Wirklich und zwar unter eigener emotionaler Teilnahme konnte sie jedenfalls mit den inneren Konflikten, die ihre Kinder bewegten, nicht umgehen: "vor solchen Sorgen stand sie gänzlich hilflos und ohne eigene Sprache" (ebd.) Was sie ihnen in solchen Fällen mitgab, ging oft über mehr oder weniger gutgemeinte, aber hohle Phrasen nicht hinaus. Und beim Kampf um Selbständigkeit und Selbstachtung, den ihre Tochter »Ottla (1892-1943) gegen den Vater führte, stellte sie sich ohne jede Empathie klar an die Seite ihres Mannes und zeigte nicht die geringste Spur von Verständnis.

Bei der tagtäglichen Kindererziehung, die in der Familie Kafka wegen der ganztäglichen Arbeit der Eltern auf immer wieder wechselnde Dienstmädchen und Gouvernanten delegiert war, war Julie nicht dabei. An ihrer Stelle, keineswegs ungewöhnlich für bürgerliche Haushalte in der Zeit, waren Dienstmädchen und Gouvernanten, die zum Teil auch aus Frankreich kamen, für alle alltäglichen Dinge zuständig. Sie kümmerten sich um die Körperpflege der Kinder, lasen ihnen vor, unternahmen mit den Mädchen Spaziergänge und brachten ihnen bei, wie man eine gehobene Konversation führen konnte. Außerdem erteilten sie ihnen Sprach-, sowie Klavier- und Violinenunterricht. Mit diesem Erziehungsprogramm orientierten sich Hermann und Julie Kafka an den Erziehungs- und Verhaltensregeln des Großbürgertums. (vgl. Alt 2008, S.61).

Julie organisierte den Haushalt, leitete die Dienstmädchen bei ihrer Arbeit an und erledigte in der Mittagspause die erforderlichen Einkäufe. Sie bemühte sich auch darum, Konflikte und Spannungen in der Familie und innerhalb des Personals auszugleichen. Allerdings, so hat sich ihr Sohn Franz 1919 in seinem Brief an den Vater (kurz genannt: Brief) darüber beklagt, dass sie ihm nicht den Schutz vor dem Vater gegeben habe, den er sich gewünscht hätte: "Man konnte bei ihr zwar immer Schutz finden, doch nur in Beziehung zu Dir. Zu sehr liebte sie Dich und war Dir zu sehr treu ergeben, als dass sie in dem Kampf des Kindes eine selbständige geistige Macht für die Dauer hätte sein können. Ein richtiger Instinkt des Kindes übrigens, denn die Mutter wurde Dir mit den Jahren immer noch enger verbunden; während sie immer, was sie selbst betraf, ihre Selbständigkeit in kleinsten Grenzen schön und zart und ohne Dich jemals wesentlich zu kränken, bewahrte, nahm sie doch mit den Jahren immer vollständiger, mehr im Gefühl als im Verstand, Deine Urteile und Verurteilungen hinsichtlich der Kinder blindlings über, besonders in dem allerdings schweren Fall der »Ottla." Für Franz war die Situation der Mutter in der Familie nicht gerade einfach. Sie habe sich in ihrer "Zwischenstellung" zwischen seinem Vater und den Kinder in gewisser Weise aufgerieben, wenn sie die Vorhaltungen ihres Mannes wegen ihrer vermeintlich zu großen Nachsicht in Fragen der Kindererziehung ertragen und gleichzeitig die Erwartungen die Erwartungen ihrer Kinder erfüllen wollte. In dem zwischen den beiden Eheleuten "eingeschliffene(n) Ritual" (Stach (2004/42015): Kafka: Die Jahre der Entscheidungen, S.132 Kindle-Version), bei dem ihr Mann, besonders in den Jahren als Franz längst erwachsen war, die offene Konfrontation mit seinem Sohn zu vermeiden versuchte, war es ihre Aufgabe geworden, seine Vorwürfe und "Anklagen in einer weniger beleidigenden, dafür effektiveren, weil an das Gewissen des Adressaten appellierenden Form weiterzuleiten – eine traurige Aufgabe, deren fragwürdiger Gewinn darin bestand, dass sie ihre eigenen Interessen bisweilen mit der geliehenen Autorität des Familienpatriarchen ummanteln und auf diese Weise ex officio zur Geltung bringen konnte." (ebd.)

Sicher war es auch für Julie Kafka eine Enttäuschung, dass ihr Sohn überhaupt keine Neigung zeigte, einmal das von ihr und ihrem Mann geführte Geschäft zu übernehmen. Die Tatsache, dass er einen Gymnasialabschluss machte und anschließend ein Jurastudium aufnahm, machte auch ihr klar, dass ihr Sohn anderes im Sinn hatte, als den ganzen Tag im Geschäft zu stehen. Vor allem seiner Leidenschaft zu schreiben, konnte sie ebenso wenig abgewinnen, wie ihr Ehemann. Im Gegenteil: Seine Art, Nächte hindurch zu schreiben, und am nächsten Morgen zur Arbeit zu gehen, hat sie, als ihr Sohn 1906 nach dem Studium bei der »Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt für das Königreich Böhmen in Prag« anfängt, immer wieder für seine schwächliche Gesundheit verantwortlich gemacht.

Eine ihrer wichtigsten Aufgaben, die Julie gemeinsam mit ihrem Mann in der Familie zu bewältigen hatte, war, für eine möglichst auf Dauer angelegte, standesgemäße und sozial abgesicherte Verheiratung ihrer drei Töchter zu sorgen, so dass sie die ihnen zugedachte soziale Rolle als Ehefrau und Mutter erfüllen konnten.

Nachdem die Töchter ihre Schulen abgeschlossen hatten, befanden sie sich, wie in den meisten gut bürgerlichen Familien der Zeit, auch im Hause Kafka in einer Art Ehewartestand. Außer der jüngsten Tochter Ottilie, genannt »Ottla (1892-1943) die wahrscheinlich auf eigenen Wunsch hin, im elterlichen Geschäft mitarbeitete, verbrachten die beiden anderen Töchter Gabriele, genannt »Elli (1889-1942) und Valerie, genannt »Valli (1890-1942), ihre Zeit damit, auf einen geeigneten Ehepartner zu warten, der ihnen über den Weg der für solche Aufgaben meistens herangezogenen jüdischen Heiratsvermittlung, so wie ja auch bei Hermann Kafka und Julie, zugeführt werden sollte.

Für Julie Kafka war die Zeit, in der die beiden ältesten Töchter heiraten sollten, auch deshalb eine außerordentlich wichtige Zeit, weil der Heiratsmarkt, auf dem sozusagen der ›Wert‹ ihrer Töchter als künftige Bräute› ermittelt‹ wurde, auch "ihre eigene Leistung als Mutter [...] unter Beweis" (Wagnerová 22002, S.123) stellte sowie die soziale Position der Kafkas in der bürgerlichen Gesellschaft markierte. Als ihre älteste Tochter Elli, der ihr Vater in der Kindheit aus welchen Gründen auch immer wenig Zuneigung, geschweige Anerkennung zuteil werden ließ, im November 1910 den sechs Jahre älteren Geschäftsmann Karl Hermann heiratete, wurde groß Hochzeit gefeiert und ihr eine stattliche Mitgift mitgegeben.

Eines Morgens, im Dezember 1911, spricht Franz beim Frühstück, wie er in einer Tagebuchnotiz vom 19.12.1911 schreibt, mit der Mutter "zufällig über Kinder und Heiraten, nur ein paar Worte". Dabei fällt ihm offenbar zum ersten Mal auf,  "wie unwahr und kindlich die Vorstellung ist, die sich meine Mutter von mir macht. Sie hält mich für einen gesunden jungen Mann, der ein wenig an der Einbildung leidet, krank zu sein. Diese Einbildung wird mit der Zeit von selbst schwinden, eine Heirat allerdings und Kinderzeugung würden sie am gründlichsten beseitigen. Dann würde auch das Interesse an der Literatur auf jenes Maß zurückgehn, das vielleicht den Gebildeten nötig ist. Das Interesse an meinem Beruf oder an der Fabrik oder an dem, was mir gerade in die Hände kommt, wird in selbstverständlicher ungestörter Größe einsetzen. Zu dauernder Verzweiflung an meiner Zukunft ist daher nicht der geringste, mit keiner Ahnung zu berührende Grund; zu zeitweiliger Verzweiflung, die aber auch nicht tief geht, ist dann Veranlassung, wenn ich wieder einmal den Magen verdorben zu haben glaube oder wenn ich, weil ich zu viel schreibe, nicht schlafen kann. Lösungsmöglichkeiten gibt es tausende. Die wahrscheinlichste ist, daß ich mich plötzlich in ein Mädchen verliebe und von ihr nicht mehr werde ablassen wollen. Dann werde ich sehn, wie gut man es mit mir meint und wie man mich nicht hindern wird. Wenn ich aber Junggeselle werde wie der Onkel in Madrid, wird es auch kein Unglück sein, weil ich in meiner Gescheitheit mich schon einzurichten wissen werde." (Kafka, Tagebücher 1910-1923, S.168-169)

Wie sehr Julie sich diese Zukunft wünschte, machte deutlich, als sie sich knapp ein Jahr später in die sich anbahnende Beziehung ihrer Sohnes mit der Prokuristin »Felice Bauer (1887-1960) aus Berlin kennen, die er erstmals im August bei seinem Freund Max Brod (1884-1968) getroffen hatte. Franz hatte sich, "um sich vor der Neugierde seiner Mutter zu schützen" (Wagnerová 22002, S.135) die Briefe, die sich die beiden im Herbst 1912 schrieben, vorsorglich an seine Dienststelle in der Arbeiter-Unfall-Versicherung senden lassen. Als sie, weil Franz einer der Briefe in seiner Manteltasche mit nach Hause nahm, fand sie diesen und las ihn. Sogleich nimmt sie in einem Brief selbst Kontakt mit Felice Bauer auf, um sie auf die schwache Gesundheit ihres Sohnes und ihre Ursache aus ihrer Sicht hinzuweisen:

"Daß er sich in seinen Mußestunden mit dem Schreiben beschäftigt, weiß ich schon viele Jahre. Ich hielt dies aber nur für einen Zeitvertreib. Auch dies würde ja seiner Gesundheit nicht schaden, wenn er schlafen und essen würde wie andere junge Leute in seinem Alter. Er schläft und ißt so wenig, daß er seine Gesundheit untergräbt [...] Darum bitte ich Sie sehr, ihn auf eine Art darauf aufmerksam zu machen, und ihn [zu] befragen wie er lebt, was er ißt, wieviel Mahlzeiten er nimmt, überhaupt seine Tageseintheilung." (zit. n. Wagnerová 22002, S.135f.)

Ihr Sohn war, als er davon erfährt, natürlich entrüstet und für eine gewisse Zeit lang war das Verhältnis beider zueinander dadurch ernsthaft getrübt, zumal sie auch später, "als die Beziehung zwischen ihrem Sohn und Felice ernster wird, darauf besteht, Auskünfte über die Familie Bauer einzuholen." (ebd., S.136)

Natürlich war Julie zu dieser Zeit im "Heiratsmodus", was zumindest ein Stück weit, ihre übergriffige Intervention in das Liebesleben ihres Sohnes erklären kann. Kaum ein Jahr später war dann Valli, die erklärte Lieblingstochter ihres Mannes, deren mit dem acht Jahre älteren Angestellten Josef Pollak im Januar 1913 verheiratet und begründete damit ihren eigenen Hausstand. In der Familie lebten fortan nur noch das "Nesthäkchen" die zweiundzwanzig Jahre alte »Ottla (1892-1943) sowie der dreißigjährige Sohn • Franz (1883-1924).

Als sich ihr Sohn Franz und »Felice Bauer (1887-1960) zur förmlichen Verlobung entschieden, sah es in ihren Augen so aus, als würde sich endlich alles doch noch zum Guten werden und "die bürgerliche Normalität endlich die Oberhand über zuviel Tiefsinn und Zweifel [... ] gewinnen." (Wagnerová 22002, S.153) Zur Vorbereitung der Verlobungsfeier reiste sie mit ihrer Tochter schon am 26. Mai 1914 auf Einladung der Familie Bauer nach Berlin, um sich kennen zu lernen und um die Einrichtung der zukünftigen Wohnung des Paares, das im Herbst des gleichen Jahres heiraten wollte, zu kümmern. Ihnen folgten ein paar Tage später Franz Kafka und sein Vater für die in Berlin ausgerichtete • Verlobungsfeier nach.

Kaum sechs Wochen später wurde die Verlobung wieder offiziell aufgelöst. Für Julie war dies ein besonders harter Schlag. Als Franz sie in einem Brief über die näheren Umstände informierte, war sie völlig konsterniert, war, wie sie selbst in einem Brief an die Mutter von Felice vom 20.7.1914 schreibt, "zur Salzsäule erstarrt [...] den ganzen Tag wie zerschlagen", gab aber doch die Hoffnung noch nicht ganz auf. Ihrer Meinung nach, sollten sich beide einfach noch Zeit lassen, denn es habe ja keine Eile mit dem Heiraten. Und was sie sich dabei von Felice erhoffte, machte sie ebenfalls unmissverständlich klar, als sie über ihren Sohn und sie schrieb: "Vielleicht ist er nicht für die Ehe geschaffen, denn sein Trachten ist nur sein Schreiben, das ist ihm das Wichtigste im Leben. Dabei baue ich auf die Klugheit Felicens, denn ich sagte mir, daß eine gescheite Frau die Kraft besitzt, einen Mann umzumodln." (zit. Wagnerová 22002, S.154) Im Grunde trug sie Felice damit das gleiche "Umerziehungsprogramm" auf, das sie schon in dem zum Zerwürfnis mit Franz führenden Brief an Felice Bauer 1911 dargelegt hatte.

Mit ihrem "ewige(n) Lamento, allein der Franz sei schuld an der Verbitterung und an der schlechten körperlichen Verfassung des Vaters", das sie 1912 erhob, als sich Franz partout nicht so, wie vom Vater gewünscht. um die ins Trudeln geratene • Asbest-Fabrik in Prag, eine kleinere Werkstätte mit etwa 20 Mitarbeitern, die Hermann, sein Sohn und der Ehemann ihrer Tochter Elli 1911 gegründet hatten,  belastete die zeitweise schlechte Stimmung zwischen ihr und ihrem Sohn.

Da Franz sich durch die von ihm fortan erwarteten Pflichten als stiller Teilhaber des Unternehmens neben anderen Vorbehalten vor allem in seinem Schreiben schmerzlich gehindert sieht, gerät Franz im Oktober 1912, in einer Zeit intensivster literarischer Nachtarbeit in eine existenzbedrohende Krise, bei der er sich sogar mit Selbstmordgedanken trägt. Während einer vierzehntätigen Abwesenheit seines Schwagers Karl Hermann, dem Ehemann seiner Schwester »Elli (1889-1942), sollte er regelmäßig in der Fabrik sein. »Max Brod (1884-1968) war über die Verfassung seines Freundes so entsetzt, dass er bei Julie Kafka vorsprach und erreichte, dass diese ihrem Mann vorgaukelte, ihr Sohn sei jeden Tag in der Fabrik, während in Wirklichkeit jemand anderer dort die Aufsicht führte. (vgl. Alt 2008, S.341)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 11.10.2024

   
 

 
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