Als
inhaltich-thematischer Einstieg eignet sich eine vergleichende
Bildbetrachtung von drei Bildern. Zwei davon sind im Abstand von
drei Jahren am Ende des 19. Jahrhunderts von zwei »post-impressionistischen
Malern entstanden, die von unterschiedlichen Standpunkten aus die
Kunst der »Moderne
vorbereitet haben. Gemeinsam war ihnen, wie den anderen Vertretern
des Postimpressionismus, dass sie sich von der reinen Nachahmung der
Natur abwandten und begannen, das Bild als eine selbstständige
Kunstform aufzufassen, das Gegenstand reiner Darbietung von Farbe
und Form werden sollte. Unter diesem Blickwinkel zielten ihre
hauptsächlich Werke auf den ästhetischen Genuss bei der Rezeption
und die Vermittlung subjektiver Empfindungen des Künstlers.
Es handelt sich
dabei um
Das
1888 entstandene Gemälde "Au cirque Fernando, l'écuyère (Die
Kunstreiterin im Zirkus Fernando)" von »Henri
Marie Raymond de Toulouse-Lautrec (1864-1901) fängt den
Moment ein, als eine Zirkusartistin sich anschickt, auf dem in der
Zirkusmanege trabenden Pferd aufzustehen und im Anschluss daran,
durch einen Papierreifen zu springen, der von einem Clown in die
Höhe gehalten wird.Der Pferdedompteur, mutmaßlich der Zirkusdirektor
selbst, dirigiert den Apfelschimmel, der nur von hinten zu sehen
ist, und treibt ihn mit seiner Peitsche an. Der Reiterin steht in
Blickkontakt mit dem Dompteur der Pferdedressur, wobei beide einen
ernsten Gesichtsaisdruck haben, so als ob die Zirkusnummer insgesamt
vom Direktor "durchgepeitscht" werde. Der Bildausschnitt beschränkt
sich auf einen kleinen Teil der Manege und ein paar wenige nur
teilweise sichtbare Zuschauer in den unteren, ziemlich leeren
Zuschauerrängen, deren Gesichter im Bildausschnitt "abgeschnitten"
oder wie im Falle des eines Mannes mit Frack und Zylinder kaum zu
sehen sind. Am Ausgang der Manage stehen zwei weitere Männer im
Frack. Ganz offensichtlich soll der Blick des Betrachters auf die
Reiterin und den mit der Peitsche agierenden Dompteur gerichtet
werden, während die Zuschauer eine untergeordnete Rolle spielen.
Das
Bild der "Zirkus" von »Georges-Pierre
Seurat (1859-1891) stellt einen Ausschnitt einer
Zirkusvorstellung dar, die in einem Zirkuszelt stattfindet. das
Innere eines Zirkuszelts während einer Vorstellung. Der Betrachter
blickt auf die Szenerie von einer Position aus, die hinter dem von
einem Clown im Vordergrund mit beiden Händen geöffneten
Manegevorhang. Ihm ist mit seinem geöffneten Mund ein gewisses
Erstaunen ins Gesicht geschrieben, das er offenbar nonverbal mit dem
im Zirkusrund auf den Rängen platzierten Publikum kommuniziert, um
die Attraktion, die dargeboten wird, noch zu unterstreichen. In der
Manage führen zwei Artisten, mutmaßlich eine Frau und ein Mann,
waghalsige Kunststücke vom Rücken eines in einem langgestreckten
Sprung befindlichen weißen Pferdes aus. Während die Artistin auf dem
Rücken des Schimmels, der ohne jegliches Zaumzeug oder Sattel durch
die Arena springt, auf einem Bein scheinbar schwerelos balanciert
und posiert, ist ihr Partner offenbar gerade vom Pferd abgesprungen
und vollführt einen Salto. Das Pferd wird von einem Dompteur im
Frack mit seiner nach unten gerichteteten Peitsche dirigiert, dessen
Blick in einer Mischung aus Konzentration bei der Dressur und
Bewunderung für die Artistin den Bewegungen des Pferdes folgt. Im
hinteren Teil des Zirkusrunds "kommentiert" ein weiterer, lachender
Clown in einer dem Publikum zugewandten Pose die Darbietung.
Den Hintergrund der
Szene bilden die Zuschauerränge, die allerdings nur zum Teil gefüllt
sind, und die oben nur angedeutete Musikkapelle. Auf den vorderen
Plätzen, in den ersten Reihen, haben es sich Frauen mit ausladenden
Hüten und in feiner Kleidung und andere fein gekleidete Personen
bequem gemacht, um dem dem bunten Treiben von der Nähe aus folgen zu
können. Sie nehmen alle eine äußerst aufrechte Sitzhaltung ein.
Etwas weiter oben befinden sich einige Zuschauer und Zuschauerinnen
auf den weniger komfortablen und enger konstruierten Rängen. Auch
sie folgen fast alle dem Geschehen in der Manege. Zwei Männer mit
Hut allerdings scheinen davon nicht sonderlich angetan zu sein. In
lässiger Körperhaltung scheinen sie sich über alles andere als das
Zirkusgeschehen zu unterhalten. Ganz oben schließlich hinter einer
weißen Bande gibt es noch eine Reihe von Zuschauern, die offenbar
von Stehplätzen aus auf das Geschehen blicken.
Einen ganz anderen
Blick auf das Ganze hat der »Expressionist
»Ernst
Ludwig Kirchner (1880-1938), der mit seinem Gemälde "Zirkus/Zirkusreiterin"
1913 den Voyerismus und die dekadente Schaulust des Bürgertums, das
sich mit der Eintrittskarte in den Zirkus bzw. das Varietés einen
vermeintlichen Freiraum erkauft, indem sich das Abenteuer, das
unverfälschte Leben, Kraft und Aggressivität als Konsequenz eines
ausgeklügelten Dressurakts inszenieren lässt. Der Zirkus ist dabei
der Ort, um diese Inszenierung "aus gesicherter Distanz zu
betrachten, statt es zu suchen und selbst direkt zu erleben."
(Werkbeschreibung der »Sammlung
Pinakothek)
der „Cirkus“
spiegelt somit deutlich die Bewunderung des Künstlers für eine
exotisch fremde Gegenwelt, die ihm jedoch auch zum Gleichnis der
eigenen Situation wird."
In den Themen
Varieté und Zirkus spiegelt sich die Konfliktsituation des
spätbürgerlichen Bohemien und gebildeten Künstlers: Die Inszenierung
von Abenteuer, unverfälschtem Leben, Kraft und Aggressivität ist
Konsequenz eines ausgeklügelten Dressurakts. Hier ist der
vermeintliche Freiraum des Großstädters, der sich das Abenteuer mit
einer Eintrittskarte erkauft, um es .
Die Darstellung
zeigt einen Ausschnitt aus der sehr eng bemessenen Zirkusarena, in
dem eine nackte Artistin, mit einem Bein in einer Schlaufe fixiert
seitlich vom Rücken ihres im Verhältnis zur Arena übergroßen
Schimmels in Richtung auf den Dompteur und einen Clown
herunterhängt. Die vorderen Ränge des Zirkusrunds sind bis auf den
letzten Platz gefüllt, die Gesichter der Zuschauerrinnen und
Zuschauer indessen nicht erkennbar.
Die
Werkbeschreibung in betont dabei die Unterschiede der Gestaltung des
Themas bei Kirchner im Gegensatz zu Seurats Werk, auf das Gemälde
Kirchners referiert. "Grundlage für Kirchners Komposition war
offensichtlich Georges Seurats Bild "Der Zirkus" von 1891 (Musée
d’Orsay, Paris), das er jedoch stark uminterpretierte. Die
dekorative Wirkung bei Seurat weicht einer beunruhigenden Stimmung,
die durch Kirchners für diese Zeit typischen, nervösen, an den
Gegenstandsrändern splittrigen Pinselduktus, durch die Beschränkung
der Palette auf Schwarz, Grau-Grün und Rot und schließlich durch die
Konfrontation von zwei unterschiedlichen Perspektiven erzeugt wird.
Während die beiden akklamierenden "Anheizer" in Clownskostümen und
die drei rot livrierten Männer am Zirkuseingang fast frontal gesehen
sind, erscheinen Manege und schwarz gekleidetes Publikum in extremer
Aufsicht, wodurch der Eindruck entsteht, die Zuschauer würden nicht
das spannende Geschehen in der Manege verfolgen, sondern blicklos
nach unten starren. Pferd und Reiterin nehmen beide Perspektiven auf
und wirken dadurch zugleich überproportioniert und verzerrt.
Publikum, Pferd und Reiterin verbindet nicht mehr die
spannungsreiche Atmosphäre des Zirkusgeschehens, sie spielen einen
isolierten Part – dort die anonyme, gesichtslose Menge, hier die für
sich agierende Akrobatin, verbunden untereinander nur durch die
Künstlichkeit der Beleuchtung und eine aggressive Farbigkeit."

Einen interessanten Überblick über die beiden Gemälde, sowie das
Bild von Arthur Kirchner gibt das
YouTube-Video: the artinspector: George Seurat - Der Zirkus (4:09)

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.10.2024