Kaum deutlicher als mit Hilfe der beiden "Oldenbourg Interpretationen"
von
Meurer (1988/31998) und
Niehaus (2010)
kann kaum verdeutlicht werden, wie sich der Umgang mit Literatur in den
dreißig Jahren, die zwischen der Erstveröffentlichung der Darstellung
Meurers und der von Niehaus liegen, verändert hat.
Während sich
Meurer (1988/31998) • Franz Kafkas
Prosastück • "Auf der Galerie" dem
Text mit ausgesprochen großer philologischer Akribie nähert, und sich
stark auf grammatische und sonstige Strukturen konzentriert, um eine
möglichst textnahe Interpretation des Textes vorzulegen, die in dem von
der Rezeptionsforschung als "literarische(n) Rorschachtext" (ebd.,
S.75) inszenierten Wettstreit unterschiedlicher Rezeptionsmöglichkeiten
des Textes bestehen zu können, sucht
Niehaus (2010)
von Anfang an einen Zugang, der von der Parabelstruktur des Textes
ausgeht und diese als "Parabel über Sein und Schein" (ebd.,
S.70), um sich mit dieser These kritisch auseinanderzusetzen. Dabei
greift seiner Ansicht nach dieser Ansatz letzten Endes zu kurz.
Auch das Unterrichtsmodell, das das »Institut
der Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) im Jahr 2015
entwickelt hat, setzt mit seiner Arbeitsanweisung zur Interpretation des
Textes auf die Interpretationshypothese von Sein und Schein. Dabei
werden die Schülerinnen und Schüler ausdrücklich aufgefordert, bei ihrer
Interpretation auf die Aspekte "Wirklichkeitsdarstellung, Verhalten und
Rolle des Galeriebesuchers und des Publikums, ggf. Übertragbarkeit auf
die heutige Medienwelt" einzugehen.
Ob allerdings diese vereindeutigende textexterne Sinnkonstruktion dem
Text gerecht wird, ist mehr als zweifelhaft, zumal der Text weniger eine
Erzählung im Sinne einer
narrativen
Zustandsveränderung bzw. Situationsveränderung (vgl.
Schmid 2005,
S.13) als eine "literarische Versuchsanordnung" (Sudau
2021, S.16) darstellt. Das wiederum könnte auch dafür sprechen,
sie eher als • "Denkbild"
(Zymner (2010,
S. 456), denn • als Parabel
aufzufassen, auch wenn die Grenzen zwischen beiden nicht einfach zu
ziehen sind.
Ob es sich bei überhaupt • um eine
Parabel oder um ein Denkbild handelt, bleibt gewöhnlich außen vor,
weil der Bedeutungstransfer von den meisten Ansätzen unabhängig davon, ob sie
• religionsphilosophisch, •
gesellschaftskritisch, •
feministisch,
• biografisch, •
existenzialistisch, •
literaturästhetisch
oder
•
wahrnehmungspsychologisch orientiert sind, selbstredend
vorausgesetzt wird.
Für Peter
Bekes (1988a,
S.19f.) ist es hingegen im Literaturunterricht wenig hilfreich, "den
Sinn dieser Parabel durch
Allegorisierung erschließen zu wollen." Damit komme man zwar den
Verlangen von Schülerinnen und Schülern entgegen, "Bedeutungen
festzulegen, verbindliche Erkenntnisse zu formulieren, doch zerstört man
auch die artistische Komposition des Textes." So ist es seiner
Auffassung nach verständlich, dass Schülerinnen und Schüler dazu neigen,
der Parabel mit unterschiedlichen Ansätzen durch einen textexternen
Bedeutungstransfer Sinn verleihen wollen. So könnten der existenzielle
Ansatz (Zirkus als 'theatrum mundi'), ebenso wie der religiöse
(Beziehung von Gott und Mensch), oder der sozialkritische
(Unterdrückungs- und Ausbeutungsmechanismen in der
industriell-kapitalistischen Gesellschaft) sowie der biografische Ansatz
(entfremdete Vater-Sohn-Beziehung) die grundsätzliche Offenheit der
parabolischen Struktur des Textes des Textes in keiner Weise ausdeuten.
Für Bekes (1988a,
S.20) seht daher fest: "Der ambivalente Status dieser Geschichte besteht
gerade darin, daß sie sich gegenüber Sinnfestlegungen jedweder Art
verschließt, diese aber gleichzeitig herausfordert. Einen solchen
Widerspruch sollten auch Schüler aushalten können."
So unterschiedlich das Vorgehen, so unterschiedlich auch die beiden
kurzen Unterrichtsvorschläge von
Meurer (1988/31998) und
Niehaus (2010).
Während es
Meurer (1988/31998, S.102) darum geht, dass die
Schülerinnen und Schüler "das paradoxe Verhältnis von Wirklichkeit und
Schein" in seiner erzählerischen Gestaltung durch möglichst genaue "Detailanalyse(n)"
der beiden Texthälften erkennen sollen, um sich am Ende mit der Frage zu
befassen, welche der beiden Versionen wahr ist, will
Niehaus (2010,
S.160) die Rezeption und die Anschlusskommunikation über den Text mit
der Hypothese steuern, dass der Text häufig als "Parabel von Schein und
Wirklichkeit" bezeichnet werden. Diese Hypothese soll bei der
Textanalyse durch die Herausarbeitung der "antithetische(n) Struktur des
Prosastücks" mit "möglichst viele(n) einzelne(n) Details" auf
inhaltlicher Ebene überprüft werden. Ziel ist es dabei, dass die
Schülerinnen und Schüler am Ende verstehen, dass es in den beiden
Versionen zu einer "Entgegensetzung von Wiederholung des
Immergleichen und einmaliger Geschichte" komme, die
verdeutliche, dass die übliche Vorstellung Interpretation der "Parabel
über Sein und Schein" zumindest nicht zwingend ist. Mit der Lesart von
Niehaus können bestimmte Stolpersteine (Kohärenzlücken) gewissermaßen
auf Textebene geschlossen werden, ohne dass die textexterne
Bedeutungskonstruktion nötig ist.
So löst sich seiner Auffassung nach auch das Rätsel um das innerliche
Weinen des Galeriebesuchers am Ende in einer anderen Art und Weise als
in der üblichen Sein-Schein-Interpretation. Als Teil des Publikums
vergesse man, dass die Darbietung der Kunstreiterin nicht einmalig sei,
von der nächsten Nummer einfach abgelöst werde und am nächsten Tag
wieder inszeniert werde, als sei sie einmalig. Der junge Galeriebesucher
erlebe dies aber völlig anders. Zwar habe er verschiedene Gründe,
weshalb er am Ende weine, doch liefen sie alle auf dasselbe hinaus: "Er
weint, weil das Einmalige zu Ende ist und weil es sich wiederholen wird.
Er weint, weil er sich hat mitreißen lassen wie die anderen und weil er
nicht dazu gehört. Aber all das heißt nur, dass er weint, weil er nicht
nur gesehen hat, was er zu sehen bekommen hat, sondern irgendwie auch
die unsichtbare Kehrseite, die sich ihm vielleicht in dem schweren Traum
zeigt, Denn die erste Version ist im strengen Sinne die Kehrseite der
zweiten. Sie bedingen einander." (ebd.,
S.173)
So weit verbreitet die parabolische Deutung von • Franz Kafkas
Prosastück • "Auf der Galerie" auch
sein mag, ist ein kritischer Umgang damit angeraten. Dies könnte auch
dadurch erreicht werden, dass man sie mit jenen Texten vergleicht, die •
gemeinhin als moderne Parabeln verstanden und die als Prototypen
beim Vergleich herangezogen werden können. Als Prototyp der Parabel
taugt • "Auf der Galerie" im Übrigen wohl
auch dann nicht, wenn aus der Vielzahl unterschiedlicher •
Interpretationsansätze der eine oder
andere als Kontextmaterial eingebracht wird, mit dem sich die
Schülerinnen und Schüler zusätzlich auseinandersetzen können, um eine
Vorstellung von der die prinzipiellen Vieldeutigkeit des Textes zu
gewinnen.
Grundsätzlich sollen auch in diesem Bereich den Schülerinnen und
Schülern unterschiedliche didaktisch fundierte Zugänge zum Text mit
verschiedenen • Bausteinen angeboten werden.