•
Zugänge zu Kafkas Parabeln im
Literaturunterricht
Das Spektrum
unterschiedlicher Interpretationsansätze, die die verschiedenen
Schulen der Kafka-Forschung zu • Franz Kafkas
Erzählung •
Auf der Galerie vorgelegt haben, ist außerordentlich
breit. Es reicht, wie Roger
Hermes
(1994/2003, S.226) betont, "von
religionsphilosophischen bis zu
feministischen, von
biographischen bis zu literaturästhetischen
Ansätzen", ohne dass damit die ganze Vielfalt der Zugänge zu diesem
Text erfasst sind. Sie sollen an dieser Stelle ergänzt um
Zugänge über das Schreiben von Franz Kafka und die
wahrnehmungspsychologische Perspektive knapp skizziert werden,
wobei die Etiketten für die verschiedenen Zugänge zum Text nicht
immer trennscharf sind.
Für Mast
(1961, S.246, zit. n.
Hermes
(1994/2003, S.225), drücken die Tränen des jungen
Galeriebesuchers am Ende von • Franz Kafkas
Erzählung •
Auf der Galerie seine
Verzweiflung am Sinn menschlichen Daseins aus und stehen zugleich
für die Erkenntnis, "daß es eine höchste Instanz, ein untrügliches
Gesetz, ein Unzerstörbares im Menschen gibt, vor dem der empirische
Mensch nicht zu bestehen vermag." Die Lösung für die Probleme seiner
existenziellen Verunsicherung, die der Mensch durch den Verlust
religiöser Orientierungen in der Moderne erfährt, kann von ihm, nur
noch affektiv erfahren werden.
Diese
religionsphilosophische Deutungsperspektive kann sich - und muss
dies natürlich auch nicht - nicht auf Franz Kafka selbst berufen,
der selbst weder ein gläubiger Jude gewesen, auch wenn er sich immer
wieder einmal mit religiösen Fragen befasst hat. Am 16.9.1915
notiert er dazu in seinem Tagebuch, nachdem er wieder einmal die
Bibel aufgeschlagen hatte, dass das, was da geschrieben steht, für
ihn keine Bedeutung hat: "...ich werde in solchen Dingen niemals
sichtbar gelenkt, vor mir flattern nicht die Blätter der Bibel." (Kafka,
Tagebücher 1910-1923, S.393)
So steht auch für
Meurer (1988/31999, S.79) fest, dass die Rolle, die
der Galeriebesucher spielt "nur um eine bildhafte Übersetzung des
Protests gegen die Idee eines unbarmherzigen ›wütenden‹ Gottes
handeln, die Kafka in Alten Testament zu finden glaubt."
Die
gesellschaftskritische
Perspektive, die die Zeitumstände bzw. •
gesellschaftshistorische
Kontexte hinzuzieht und reflektiert, in der der Text
entstanden ist, legt für
Emrich (1958/31961/1975) "die Deutung nahe, dass der Galeriebesucher den
wahren Charakter der Gesellschaft sowie die Rolle des Einzelnen als
Opfer erkennt, das in einen monotonen Kreislauf der modernen
Arbeitswelt eingespannt" sei. So spiegele der erste Absatz "die
gesellschaftliche Realität wider, die dem Einzelnen seine
Individualität" raube und ihn zu
"irgendeine[m]" mache. Der Einzelne
erfahre damit eine extreme Entfremdung und Selbstentfremdung, wie
sie die gesellschaftliche Situation des modernen Menschen ausmache.
Dies führe aber letzten Endes unabwendbar zum Tode. Weil der
Galeriebesucher dies in seinem "schweren Traum" erkenne,
weine er.
Dieser Deutungsansatz geht also davon aus, dass Kafka in
dieser Parabel seine Gesellschaftskritik formuliert, indem er in
Person des jungen Galeriebesuchers "hinter der Maske des rein
oberflächlich Wahrgenommenen »die Lüge der Gesellschaft
erkennt«." (Hermes1994/2003,
S.225) Für
Emrich (1958/31961/1975) führt der Text dies als "ein
Paradoxon vor: Die trostlose Lebenswirklichkeit wird als Schein
ausgegeben, die heile Zirkuswelt als Sein; in Wahrheit ist es genau
umgekehrt, der Widerspruch ist aber nicht auflösbar."
Das •
Autorenwissen
verweist beim •
biografischen Ansatz, so
Emrich
(1958/31961/1975), auf "die beiden Hauptfiguren
(...) auf die historischen Personen Franz Kafka und seinen Vater •
Hermann Kafka. So
seien alle Versuche Kafkas, verkörpert durch die "hinfällige,
lungensüchtige Kunstreiterin", dem übermächtigen Vater - dem "peitschenschwingenden,
erbarmungslosen Chef" - zu imponieren" zum Scheitern verurteilt. Der
Vater treibe seinen Sohn, der sich dem nicht erwehren könne, immer
wieder dazu an, sich eine von diesem ungeliebte bürgerliche Existenz
zu schaffen. Dieser nehme jedoch, die ihm aufgezwungene soziale
Rolle nur vordergründig an, in der Hoffnung, dadurch von seinem Vater
die sehnlichst erhoffte Anerkennung zu erlangen, die schließlich
auch die "schöne Dame“ genieße. Doch von oben, von der Galerie aus,
erkenne der junge Zirkusbesucher, der in einer weiteren Analogie für den
seine Lebenssituation reflektierende Kafka stehe, alles als
"manipulierte, geschönte Scheinwelt".
Von diesem
biografischen Ansatz aus ist es nicht weit zu einer
psychoanalytischen Interpretation, die im Grunde genommen
"nichts anderes als eine Fortsetzung der biographischen Deutung mit
anderen Mitteln, also nicht mit Hilfe der Alltagspsychologie,
sondern mit der des Systems einer psychoanalytischen Schule" (Engel
2010, S.420) darstellt. Ihr erscheint dann "die Schilderung der
Ausbeutung der Kunstreiterin durch den Zirkusdirektor, das
Orchester, das Publikum und letztendlich durch den Leser" als
"Darstellung eines ödipalen Verhältnisses, 'Darstellung der
Erfahrung der Gewalt des Vaters und vergebliche Identifikation mit
der Mutter' [Böhme
1978, S.65]" (Hermes1994/2003,
S.225f.)
Für die Anhänger der psychoanalytischen Lehre von
»Sigmund Freud (1856 -1939)
steht der so genannte •
Ödipuskomplex im Zentrum des Konflikts, den Vater und Sohn,
Hermann und Franz Kafka, miteinander austragen und bewältigen
müssen. Auch
wenn das Konzept des Ödipus-Konflikts mittlerweile umstritten ist, "da es in einer Zeit entstand,
für die eine Tabuisierung der Sexualität charakteristisch war" (Grosses
Wörterbuch Psychologie 2005, S.246), genießt die Theorie vom
Ödipus-Konflikt und dem Ödipus-Komplex bis heute eine große
Verbreitung. In der
psychosozialen Entwicklung durchläuft ein Kind nach
»Sigmund Freud (1856 -1939)
auch die
phallische psychosexuelle Phase (ca. zwischen dem 3. bis 5.
Lebensjahr, in der sich die Triebenergie (Libido)
erstmals auf soziale Objekte bezieht und mit sozialen
Beziehungen verquickt wird. (vgl.
Fend 32003, S.82) Freud nahm an, "dass Jungen in der
phallischen Phase die genitale Stimulierung suchen. Unbewusst
richten sie ihre sexuellen Wünsche auf die Mutter und entwickeln
Eifersucht und Hass auf den Vater, den sie als Rivalen betrachten.
Mit solchen Gefühlen entwickeln Jungen vermutlich Schuldgefühle und
eine schleichende Angst vor Bestrafung, vielleicht die Kastration
durch den Vater. Diese Ansammlung von Gefühlen nannte Freud Ödipuskomplex". (Myers 2005,
S.570)
Eine andere psychologische Deutung sieht das "latente Sinnpotenzial
des Textes" in der tiefenpsychologischen Bedeutung, die der
Erzählung zugrunde liegt, und versucht dazu bestimmte Inhalts- und
Strukturaspekte mit authentischem Traummaterial Franz Kafkas aus dem
Jahr 1911 in Beziehung zu setzen, das dieser in seine
Tagebuchaufzeichnungen notiert habe. In einem solchen Traum spielen
z. B. eine Galerie und ein Mädchen in einer Hosenrolle eine wichtige
Rolle. (9.11.1911) Ein ander Mal, zehn Tage später, notiert Kafka
einen weiteren Theatertraum. Dabei sieht er sich von der zweiten
Reihe aus eine Vorstellung von »Arthur
Schnitzlers (1862-1931) »Tragikomödie
»›Das
weite Land‹ (1910) in der Bearbeitung von
Emil Utitz (1883-1956) an, der Gymnasium ein Mitschüler Kafkas
gewesen war.
Ausgerechnet ein kleiner zehn- bis fünfzehnjähriger Junge, der
"trockenes, gescheiteltes, gerade geschnittenes Haar" hat (wie im
Übrigen es auch Kafka getragen hat) und nicht einmal weiß, wie man
eine Serviette richtig auf seine Oberschenkel legt, "soll in diesem
Stück einen Lebemann spielen". (Kafka,
Tagebücher 1910-1923, S.143) Die Probleme beim Essen (Serviette)
könnten dabei für Essprobleme stehen, die Kafka immer wieder hatte
und das kindliche Alter des vermeintlichen Lebemannes für seine
Angst im Leben nicht seinen Mann zu stehen, so wie es sein Vater,
seine Mutter und die Gesellschaft von ihm erwartete.
Irgendwann nach dem ersten Akt fängt eine Petroleumlampe an Funken
zu versprühen. Kafka beobachtet einen "Herrn", der die defekte Lampe
offenbar wieder in Ordnung bringen will. Er geht dazu "förmlich"
über die Zuschauer, die eine "Masse, schwarz wie Erde" bilden,
zu der Lampe, bleibt dort eine Weile stehen und überlegt offenbar
eine Weile hin- und her, ehe er am Ende doch unverrichteter Dinge
wieder an seinen Platz zurückkehrt, "in dem er versinkt". (ebd.)
Da sich Kafka im Traum mit ihm verwechselt, neigt er, ganz ähnlich
wie der resignierte junge Galeriebesucher am Ende in Kafkas •
Auf der Galerie, "das
Gesicht ins Schwarze" (ebd.)
Für
Meurer (1988/31999, S.82) ist "die Leichtigkeit, mit
der sich das Ich mit einer anderen Figur ›verwechselt‹", ein klarer
Hinweis darauf, "dass Galeriebesucher und Kunstreiterin wie der
Galeriebesucher und der kindliche Lebemann auf der Bühne zwei
Aspekte der kafkaschen Gesamtperson bilden: den Bobachter seiner
selbst und den Agierenden." Auch wenn die Vorstellung, Kafka habe
sich als Mann mit der weiblichen Kunstreiterin identifiziert,
vielleicht etwas befremdlich wirke, sei doch zu sehen, dass er seine
"eigene Nichtigkeit immer wieder in Gestalt defizitärer Existenzen
(Kind, Affe, Hund, Schakal usw.)" darstelle. Zwar werde im Text von
irgendeiner (namenlosen) Kunstreiterin gesprochen, aber ihr Merkmal
"lungensüchtig" wirke individualisierend, zumal der Erzähler, der
die Figur sonst nur in der Außensicht präsentiere von vornherein
davon wisse. So liege der Schluss nahe, "dass es sich um jene wohl
bekannte stigmatische Lungenschwäche" handle, die Kafka mit einer
Vielzahl seiner Figuren verbinde. Ferner kämen weiter Merkmale
hinzu, die Kafka die Identifikation mit der weiblichen Kunstreiterin
ermöglichten: "Das Umhergetriebenwerden und Kreisen als
Existenzbewegung, die [...] Opposition zur Zentralfigur [der
Galeriebesucher, d. Verf.], die abwertende Zuordnung der
künstlerischen Existenz zur Sphäre von Zirkus und Varietee, in der
Selbstdarstellung Kafkas
vom Tagebuch 1910 bis hin zum
Hungerkünstler
(1922) ein signifikantes Leitmotiv bildet."
Auch der
• Zugang über das Schreiben
Kafkas ist im Grunde genommen Teil des biografischen Ansatzes.
Hier stehen die Figuren oder Gegenstände der Geschichten Franz
Kafkas nicht mehr für bestimmte soziale Gruppen oder Erscheinungen.
Stattdessen sollen sie innerpsychische Instanzen darstellen. Ereignisse und Handlungsabfolgen, die erzählt werden, stehen dann
für innere Konflikte.
Roger
Hermes
(1994/2003, S.226), der mit seiner Deutung, die
lebensgeschichtliche Situation Kafkas zur Entstehungszeit seines
Textes berücksichtigt, zeigt auf, dass Kafka im Winter 1916 nach
seiner Rückkehr nach Prag Phasen großer literarischer Produktivität
aber auch von "Schreibstockungen" erlebt hat, die er selbst auf
seine Doppelbelastung als Versicherungsangestellter und als
Schriftsteller zurückgeführt hat.
Kafka konnte in
dieser Zeit offenbar nur in der Dunkelheit der Nacht schaffen und
die wenigen Glücksmomente im Schaffensprozess erwiesen sich in
dieser Zeit bestenfalls "als kurze Haltepunkte in einem »Spiel«, das
»[sich fortsetzte] in die immerfort weiter sich öffnende graue
Zukunft«". (Emrich
1958/31961/1975, Kursiv, d. Verf.)
Dementsprechend
finden sich in Briefen und Tagebucheinträgen etliche Passagen, in
denen Kafka seiner Verzweiflung über diesen Zustand Ausdruck
verliehen hat. Oft zerreißt er sich den Kopf darüber, wie er unter
solchen Bedingungen weiterhin seine literarische Produktion
überhaupt aufrecht erhalten kann und appelliert dabei in einer
"geradezu militärische(n) Strenge" (Hermes
(1994/2003, S.228) an sich selbst: "Regelmäßig schreiben! Sich
nicht aufgeben!" (zit. n.
ebd.)
In gewisser
Hinsicht setzt Kafka mit Auf der Galerie um, was er knapp
zwei Jahre später in seinem • Brief an den
Vater in
gewisser Weise als seine "Poetik" darstellt. Darin gebe er, wie
Walter H. Sokel (1917-2014) (2006,
S.25f.) erklärt, "zwei einander widersprechende Intentionen an, die
seinem Schreiben zugrunde liegen. Einerseits, so behauptet er,
handelt all‘ sein Schreiben von seinem Vater. Schreiben ist ein
armseliger Ersatz für die fehlende Anwesenheit des Vaters, für die
Verbundenheit mit ihm, die der Vater seinem Sohn immer versagt hat.
Im Schreiben, so legt es Kafka dar, stimmt er die Klage an, die ihm
an des Vaters Brust zu äußern untersagt ist. Das Schreiben wird zum
Ersatz des Lebens. Es gibt der Abwesenheit eine Stimme; es weist auf
die Lücke hin, durch die verschwunden ist, was das Herz ersehnt.
Schreiben ist Trauern um einen Verlust, ein verhüllter Hilferuf um
eine Wiederherstellung, die aber niemals kommen wird. Schreiben
drückt die Sehnsucht nach der unmöglichen Wiederkehr väterlicher
Gnade aus. […] Obgleich das erwachsene Ich die Wiederkehr blockiert,
deutet die Tätigkeit des Schreibens wenigstens die Richtung an, in
der eine Überwindung dieser Blockierung liegen mag. Schreiben
fungiert als symbolischer Ersatz für die Auflösung des Hindernisses,
das das Ich ist. […](Sokel
2006, S.25f.)
Zugleich müsse man aber auch berücksichtigen, dass Kafka an einer
anderen Stelle im • Brief an den Vater von einer geradezu entgegengesetzten Intention für sein Schreiben spreche. An dieser Stelle
nämlich erklärt er, "dass sein Schreiben Flucht vor dem Vater ist, ein Streben
fort von ihm: Zuflucht und einzig mögliches Sich-Verbergen dort, wohin
die Macht des Vaters sich nicht erstreckt.“ (ebd.)
Die Vaterfigur, die Franz Kafka erlebt und in seinem ambivalenten
autobiographischen Schreiben darüber verarbeitet, wird dabei nach
Ansicht Sokels in seinem späteren Werk "erweitert und verallgemeinert
[…] zu patriarchalischer Autorität überhaupt und schließlich
kollektivisiert als Familie, Gemeinschaft, Volk, biologische Art und
Gattung und letzten Endes als prokreatives Leben, als Natur, als
physische Wirklichkeit“ (Sokel
2006, S.26)
Walter Sokel erkennt aber in dem Bemühen von Franz Kafka, sich vor
dem Vater zu verbergen, nicht nur eine Fluchttendenz, die den Sohn nur
zum Opfer eines übermächtigen Vaters stempelt. Denn "Flucht ist", so
Sokel, "eben auch eine Art von Selbstbehauptung, da sie versucht, das
Selbst aus der Reichweite patriarchalischer Macht zu retten. In dieser
selbsterhaltenden Abwehr entdeckt das Selbst seine eigene Macht, zwar
völlig verschieden von der naturverliehenen Macht der Vatergestalt, aber
potenziell ihr überlegen wie das Geistige und Magische der natürlichen
Macht überlegen ist. In dieser Poetik der Flucht ist Schreiben kein
Trauern mehr um Fernbleiben und Verlust, sondern Basis trotziger
Selbsterhöhung und deren Bekräftigung." (Sokel
2006, S.26)
In ähnlicher Weise hat dies
»Marcel Reich-Ranicki
(1920-2013) (1982,
S.315ff.) ausgedrückt, der die "Angst vor dem Tod und also vor dem Leben"
als das zentrale Movens in Kafkas Leben allgemein und bei seinem
Schreiben ansieht. Seine Angst habe ihn letztlich zum Schreiben
gezwungen und sein Leben zur Qual gemacht und sein Werk sei damit
"Beschreibung eines Kampfes mit der Angst", "Angst vor der Demütigung
und Hilflosigkeit, vor Folter und Grausamkeit, vor dem Vater und vor der
Familie, vor der Schwäche und vor Impotenz, vor der Heimatlosigkeit und
der Vereinsamung, der Wurzellosigkeit und der Entfremdung, vor dem
jüdischen Schicksal".
Dabei sei es, so
Hermes
(1994/2003, S.227) "der Vergleich zwischen Pferdedressur und
Schreibakt, der Auf der Galerie als Parabel auf Kafkas
literarisches Schaffen und seine Existenz als Schriftsteller
erscheinen lässt." (ebd.,
S.227) Im Grunde genommen stelle der ganze erste Abschnitt des
Textes die "die Phasen der Qual, der Ergebnis- und
Hoffnungslosigkeit in Kafkas schriftstellerischer Existenz dar." (ebd.,
S.228) Sein Schreiben spielt sich dabei vor einer "grausamen
Öffentlichkeit" (Emrich
1958/31961/1975) ab, die unter dem Druck eines "nichtaussetzenden
Brausen des Orchesters und der Ventilatoren" und des "vergehenden
und neu anschwellenden Beifallsklatschen der Hände, die eigentlich
Dampfhämmer sind" letzten Endes tödlich enden muss.
Allgemein betrachtet stellt der Text unter dieser
Deutungsperspektive "das literarische Schreiben also als einen zur
Vernichtung des Schriftstellers führenden Prozess, dem keiner zu
Hilfe kommt und ,Halt' ruft." (ebd.) Dass Kafka sein
künstlerisches Schaffen mit der Pferdedressur vergleicht, liege, so
Hermes
(1994/2003, S.227),
unter Umständen daran, dass die Bändigung der vitalen Energien eines
Pferdes durch die Dressur gleichgesetzt werden kann "mit der
schriftlichen Fixierung eines literarischen Einfalls". (Hermes
(1994/2003, S.227)
Zugleich müsse man aber auch berücksichtigen, dass Kafka an einer
anderen Stelle in seinem •
Brief an den
Vater von einer geradezu entgegengesetzten Intention für sein Schreiben spreche. An dieser Stelle
nämlich erklärt er, "dass sein Schreiben Flucht vor dem Vater ist, ein Streben
fort von ihm: Zuflucht und einzig mögliches Sich-Verbergen dort, wohin
die Macht des Vaters sich nicht erstreckt.“ (ebd.)
Die Vaterfigur, die Franz Kafka erlebt und in seinem ambivalenten
autobiographischen Schreiben darüber verarbeitet, wird dabei nach
Ansicht Sokels in seinem späteren Werk "erweitert und verallgemeinert
[…] zu patriarchalischer Autorität überhaupt und schließlich
kollektivisiert als Familie, Gemeinschaft, Volk, biologische Art und
Gattung und letzten Endes als prokreatives Leben, als Natur, als
physische Wirklichkeit“ (Sokel
2006, S.26)
Die
poetologisch-ästhetische bzw. literarästhetische Deutungsperspektive
verstehe, so
Emrich
(1958/31961/1975), Auf der Galerie als einen
Text über das Entstehen von Kunst und Literatur und über die
Möglichkeit ihres Gelingens oder Scheiterns. Dabei betrachte man die
Arbeit im Zirkus als Bild für den künstlerischen Schaffensprozess
schlechthin. Diese Sichtweise liegt nach
Emrich
(1958/31961/1975) deshalb nahe, "weil Kafka seine
literarische Produktivität einerseits als einen fruchtlosen,
quälenden und letztendlich zum Tode führenden 'Dressurakt' empfand,
er sich andererseits nach Erfolg und Anerkennung sehnte.
Für Peter
Bekes (1988a, S.15) geht es in Kafkas Parabel
▪ "Auf
der Galerie" "einfach formuliert [...] um die Möglichkeit der
Selbstverwirklichung des einzelnen im Rahmen einer vorgegebenen
Sozial- und Werteordnung." Dabei würden die Leser*innen mit dem
Problem des Verhältnisses von Wahrheit und Lüge, Wirklichkeit und
Illusion sowie Sein und Schein konfrontiert.
Ähnlich sieht dies
auch Ralf Sudau
(2021, S.9) der betont, dass der Text "die Diskrepanz von Schein
und Sein bzw. das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Sichtweisen
auf die gleiche Gegebenheit (behandelt)".
Kafkas Parabel
▪ "Auf
der Galerie" wird immer wieder einmal mit einem Vexierbild, auch
▪ Kippbild genannt, verglichen, das zwei nicht trennbare Ansichten
von Welt in der kurzen Erzählung einander gegenüberstellt. So
"(bietet) Kafka dem Eindeutigkeit suchenden Leser" nach Ansicht von
Ralf Sudau
(2021, S.13), "mit seiner Parabel nur ein Vexierspiel
verschiedener Perspektiven (dar)" und damit "in einem höheren Sinne
die einzig wahre Antwort: Die Welt selbst erscheint vexierbildartig;
ob etwas Schein oder Sein, Blendung oder Wahrheit ist oder ob gar
beide Dimensionen von standortgebundener Geltung sind, bleibt in der
Schwebe, bleibt letztlich unergründbar." Wegen der
Fundierung des Ansatzes in der Wahrnehmungspsychologie wird dieser
Ansatz hier als wahrnehmungspsychologische Deutungsperspektive
bezeichnet.
Vexier- bzw.
Kippbilder sind ▪
optische
Täuschungen, die bei der ▪
visuellen Wahrnehmung
entstehen. Ihre Wirkung kommt zustande, weil unser Gehirn aus dem,
was wir sehen, ein "sinnvolles" kohärentes Objekt erzeugen muss, um
es kognitiv verarbeiten zu können. (vgl.
Singer
1997, S. 42) Dass wir bei Kippbildern nur das eine oder das andere
Bild sehen können, liegt ▪
perzeptuellen Mehrdeutigkeit, die beim Sehen solcher Abbildungen
einfach zustande kommt. Unsere visuelle Wahrnehmung bietet uns,
könnte man vereinfacht sagen, einen Wahrnehmungseindruck an, dessen
Elemente - bei Bildern z. B. Linien und Flächen - in
unterschiedlicher Art und Weise miteinander kombiniert, um ein
kohärentes Bild zu zu erzeugen. Was uns im Falle von Kippbildern
einfach nur verblüfft, ist auch für die Wissenschaft noch längst
nicht geklärt, verbirgt sich doch dahinter nichts anderes als das
noch weitgehend ungelöste ▪
Bindungsproblem, die Frage also, wie aus der Vielzahl gleichzeitig
verfügbarer neuronaler Impulse diejenigen ausgewählt und zusammengefasst
werden, "die sich als konstitutiv für ein kohärentes Perzept erweisen
können." (ebd., S. 44)
Und doch lohnt
sich, gerade im Blick auf die Darstellung in Kafkas Parabel, sich
die Sache mit den Kippbildern etwas genauer anzusehen.
Am Beispiel der genannten •
Rubin'schen Abbildung,
oft auch unter dem Aspekt der Täuschung ungenauals Rubin'sche Vase
bezeichnet, kann man die Wirkung eines Kippbildes selbst erproben.
Man kann die Abbildung als eine Vase oder als zwei Gesichter sehen. Aber,
und das ist das Entscheidende: Man kann nur entweder das eine oder das
andere sehen. Beides zugleich zu sehen, funktioniert nicht.
 Ob ein Betrachter oder eine Betrachterin in den weiß und schwarz
gehaltenen Flächen mit ihren Konturen zunächst eine Vase oder zwei
gegenüberliegende Gesichtsprofile, lässt sich nicht vorhersagen.
Beeinflussen lässt sich dies aber doch: Denn, wird einem
Betrachter der •
Rubin'schen Abbildung
sprachlich mitgeteilt, es handle sich
um zwei gegeneinander gerichtete Gesichts-Profile, wird er daher zunächst
seine Wahrnehmung an dieser Wahrnehmungshypothese (•
perzeptuelle
Strukturierung) orientieren.
Wird ihm dagegen gesagt, es
handele sich um eine schwarze Vase vor weißem Hintergrund, dann wird er
seine Wahrnehmung so strukturieren, dass er nach Anhaltspunkten sucht, die
diese Wahrnehmungshypothese bestätigen können. Unsere visuelle Wahrnehmung alterniert als stets zwischen diesen
verschiedenen, aber gleich wahrscheinlichen Lösungen. Was am Ende
wahrgenommen wird, hängt davon ab, "wie und nach welchen Kriterien das
Sehsystem die Gruppierung von Merkmalen zu kohärenten Figuren vornimmt und
welche Lösungen dieser vorbewusst ablaufende Gruppierungsprozess
anbietet." (Singer
1997, S.43)
Anders
als bei einem Kippbild verhält es sich mit dem Bild von dem halbleeren
oder halbvollen Glas. Von diesem Bild gibt es einen
Wahrnehmungseindruck. Ob wir diesen im Sinne eines halbleeren oder
halbvollen Glases interpretieren, ist nicht von diesem
Wahrnehmungsperzept abhängig. Beide Bilder lassen sich in jeweils eigener Art und Weise mit
Kafkas Parabel
▪ "Auf
der Galerie" in Verbindung bringen. So wie solche
Darstellungen den Eindruck vermitteln, als gäbe es keine objektive
Wirklichkeit, so lässt sich auch in Kafkas Text, "das zweifach
präsentierte Geschehen als eine Parabel über Schein und Wirklichkeit
auffassen." (Niehaus
2010, S.70) Die Welt erscheine darin, so
Sudau
(2021, S.13) "vexierbildartig; ob etwas Schein oder
Sein, Blendung oder Wahrheit ist oder ob gar beide Dimensionen von
standortgebundener Geltung sind, bleibt in der Schwebe, bleibt
letztlich unergründbar."
Die beiden Teile, in die Kafkas Text gegliedert ist, repräsentieren dabei
jeweils eine Ansicht der Zirkuswelt bei dem Auftritt der Kunstreiterin.
Beide sind per se keine "objektive" Widergabe des Wahrgenommenen,
sondern der sprachliche Ausdruck von gedanklichen Konstrukten der
jeweiligen Zirkuswirklichkeit. Daran ändert auch die Tatsache nichts,
dass die Darstellung der ersten Version dieser Wirklichkeit mit den
beiden lang ausholenden mit wenn eingeleiteten
Konditionalsätzen
und einer finiten
Verbform im Modus des
Konjunktiv schon grammatisch als reine
Möglichkeitsform
ausgewiesen, mit der der Erzähler seine Stellung zum
Wahrheits-/Wirklichkeitsgehalt des von ihm Erzählten als bedingt
wirklich markieren kann. Im vorliegenden Fall reicht diese Markierung
offenbar nicht aus. Aus diesem Grunde konstatiert der Erzähler in Form
einer mit der Konjunktion da eingeleiteten Begründung, dass es
tatsächlich nicht so "ist",
wie es zunächst den Anschein haben könnte. Mit dem
Indikativ wird
im zweiten Textabschnitt markiert, was nach Ansicht des Erzählers
stattdessen als wirklich bzw. wahr zu gelten hat. Doch auch diese
Darstellung der Zirkuswirklichkeit lässt schnell erkennen, dass es
keineswegs eine nüchtern, sachliche, mit dem Anspruch auf Objektivität
auszustattende Konstruktion der Realität darstellt. Sein insgesamt
eher •
sinnlicher Stil mit
zahlreichen Adjektiven, Partizipialsätzen, einem Attributsatz
und einem Vergleichssatz und den veranschaulichenden, einen sinnlichen
Eindruck vermittelnden Verben wirkt (...) genau so übertrieben wie
der ganze "monumentale Satz" (Niehaus
2010, S.70). Alles trägt zu dem "bombastischen Gefüge" bei, das den
Leser bzw. die Leserin dieses "dieses wirrbunte(n) Potpourri(s) von
Eindrücken (...) schnell die Übersicht verlieren" (Sudau 2021,
S.15), lässt. Im Grunde genommen geht es dem Leser dabei kaum anders als
dem jungen Galeriebesucher, der das, was er zu sehen wähnt, nicht
einordnen und kognitiv verarbeiten und bewältigen kann, sondern am Ende
"weint", "ohne
es zu wissen." Die Authentizitätsillusion der vielfach
übersteigerten Darstellung lässt sich auch apodiktisch nicht
verteidigen. ("da dies so ist").
Sie entpuppt sich als "schwerer
Traum", der ganz im Gegensatz zu der dargestellten, allerdings fast
gleißend schönen Zirkuswelt, so "schwer" auf der Seele des jungen
Galeriebesuchers lastet, dass er, so gibt ein
auktorialer Erzähler an dieser Stelle für einen Moment den Blick in
das Innenleben dieser Figur frei, über deren seelische Befindlichkeit
man ansonsten eigentlich nichts erfährt, in eine weinerliche Stimmung
versetzt wird. Und das, obwohl er sich angesichts des Ablaufs und der
Inszenierung der Zirkusnummer, die dem herkömmlichen
Ereigniskonzept
zu der auch die inszenierte Überhöhung der gezeigten Sensationen gehört,
Am
Ende, so resümiert
Sudau
(2021, S.13), "streitet die Parabel sich vielleicht gar nicht
ernsthaft über das Geschehen in der Manege, sondern redet von der
seltsam-tragischen Stigmatisierung eines jungen Menschen, der in
einer eindeutig lesbaren Welt vielleicht zu einem beherzten
Engagement fähig wäre (Teil 1), in der vieldeutig lesbaren Welt
jedoch zu einem fremd außenstehenden, anders
empfindenden und leidenden Zustand verurteilt ist (Teil 2)." Vielleicht kehrt der Galeriebesucher
aber auch, wie
Alt
(2005, S.498) meint, mit seinem unbewussten Weinen damit auch in die
Welt des Imaginären, Unbewussten zurück.
Nach
Ansicht von »Elizabeth
Boa (geb. 1939) (1991,
1996)
thematisiert Kafkas Erzählung d"ie Produktion und Rezeption von
Kunst sowie die Struktur des Patriarchats: eine Frau ist Objekt
eines Interpretationsstreits zwischen Männern." (Abstract
zu Boa 1991)
Während der Mann auf der Galerie dem Direktor nicht Widerstand
leiste, widerstehe ihre Lektüre der Autorität des Erzählers, um den
Geschlechterrollen, die der Text konstruiere, aber auch untergrabe,
zu entkommen.
Für
Boa untergräbt die auf der narrativen Ebene erzeugte Verunsicherung
die Autorität des Erzählers und damit sowohl die Machenschaften des
Zirkusdirektors als auch die mögliche Heldentat des
Galeriebesuchers. Ziehe man dies in Betracht, griffen die früheren
Interpretationen zu kurz, die im Allgemeinen davon ausgingen, dass
der erste Teil der Erzählung, in dem die Kunstreiterin als
unterdrücktes Opfer gezeichnet wird, die Realität darstelle, während
der zweite Teil eine schöne Illusion sei, die die herrschenden
Machtverhältnisse und das Leiden der Kunstreiterin verdecke und sich
nur im unbewussten Weinen des jungen Galeriebesuchers ausdrücke.
Für Boa steht das Weinen des Galeriebesuchers am für eine Krise von
Männlichkeit hin: Er weine, weil ihm in der zweiten Version die
Möglichkeit genommen werde, sich in einem von ihm imaginierten
Melodram als mutiger Retter des bedrohten Mädchens aufzuspielen.
Aus
der Sicht eines weiblichen impliziten Lesers, den Boa vorschlägt,
sind beide Versionen der Zirkusszene gleichermaßen verwerflich. Die
Frau wolle ebenso wenig Opfer des grausamen Direktors werden wie das
hilflose »Mädchen« in der zweiten Version.
Indem
Kafka die Erzählperspektive problematisiere und damit zeige, dass es
sich jeweils nur um subjektive Wahrnehmungen handelt, entziehe er
dem Leser die Möglichkeit zu entscheiden, was nun die wahre
Zirkusszene sei. Damit grenze er sich von den im Text dargestellten
männlichen Positionen ab und gebe der Kunstreiterin ihre
unvereinbare Autonomie zurück. (vgl.
Liska
2008, S.67f. unter Bezugnahme auf
Boa 1991,
1996)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.10.2024
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