Kafkas Parabel "Auf
der Galerie" bietet eine Reihe von Möglichkeiten Bilder als
Kontextmaterial für die Arbeit mit dem Text zu nutzen. Insbesondere
das •
literaturdidaktische Verfahren
des
Text-Bild-Vergleichs eignet sich hier in besonderer Weise, weil
es drei Gemälde gibt, die in einen sinnvollen Thema- und Motivbezug
mit Kafkas Parabel gebracht werden können, um daraus Hinweise für
das individuelle Verstehen des Textes und zur Begründung der
jeweiligen Lesart zu gewinnen.
Als inhaltich-thematischer Einstieg eignet sich eine
vergleichende Bildbetrachtung von drei Bildern. Zwei davon sind im
Abstand von drei Jahren am Ende des 19. Jahrhunderts von zwei »post-impressionistischen
Malern entstanden, die von unterschiedlichen Standpunkten aus die
Kunst der »Moderne
vorbereitet haben. Gemeinsam war ihnen, wie den anderen Vertretern
des Postimpressionismus, dass sie sich von der reinen Nachahmung der
Natur abwandten und begannen, das Bild als eine selbstständige
Kunstform aufzufassen, das Gegenstand reiner Darbietung von Farbe
und Form werden sollte. Unter diesem Blickwinkel zielten ihre
hauptsächlich Werke auf den ästhetischen Genuss bei der Rezeption
und die Vermittlung subjektiver Empfindungen des Künstlers.
Es handelt sich
dabei um
Zirkusse waren eine
besonders beliebte Form der Volksunterhaltung und in Paris, auf
dessen Zirkuswelt sich die beiden erstgenannten Gemälde, bei
Toulouse-Lautrec sogar ausdrücklich auf den Le Cirque Fernando
(den Fernando-Zirkus), der sich in »Montmartre
in der Nähe von Le Mirliton 13 befand, dessen Aufführungen von dem
Künstler in Begleitung seines Vaters schon in seiner Kindheit
besucht hat. Dabei war es der junge Henri offenbar besonders von den
dort gezeigten Reitaufführungen angetan, die eines der Markenzeichen
dieses Zirkus gewesen sind. Das
Das Gemälde war
eines von etwa sechs Werken, die Toulouse-Lautrec zwischen 1888 und
1891 zum Thema Zirkus malte. Nach einer Krankheit im Jahr 1899 ,
kehrte er wieder zu Zirkusthemen zurück und fertigte über 50
Zeichnungen aus der Erinnerung an die Menschen und Tiere an, die er
so gut beobachtet hatte 15.
In Equestrienne (Im Zirkus Fernando) sind die Themen nicht
glamourös; Stattdessen fängt die starke Fokussierung der Künstlerin
auf den Zirkusdirektor und die Reiterin sowie ihr Pferd im
Hintergrund sowohl ihre Beziehung als auch das Gefühl ihrer Bewegung
ein. Der große Rumpf des Pferdes, sein hochgezogenes Hinterbein
sowie der bauschige Rock des Reiters lassen darauf schließen, dass
sich das Pferd in schnellem Tempo um den Ring bewegt. In der Manege
befinden sich auch Clowns, die mit ihrer eigenen Probe beschäftigt
sind und nichts mit dem Reiterduo zu tun haben. Es sind zahlreiche
gut gekleidete Zuschauer anwesend, aber vielleicht weil es eine
Probe ist, schauen sich die Darsteller gegenseitig an und scheinen
kein Interesse daran zu haben, vor dem Publikum zu spielen. Die
wenigen Männer im Publikum, deren Augen man sehen kann, blicken
nicht auf den spärlich bekleideten Reiter, sondern scheinen einige
Elemente der Probe außerhalb des Bildraums zu betrachten.
Die Nahaufnahme entzieht dem Betrachter ironischerweise den
spektakulären Charakter einer Zirkusvorstellung und konzentriert
seinen Blick stattdessen auf die Details der Interaktionen der
Darsteller. Die Gesichter des Reiters und des Zirkusdirektors
erinnern an eine komplexe Beziehung, die auf Kraft und der
Beherrschung der Anstrengung zur korrekten Leistung basiert. Der
scharfe Blick des Künstlers ermöglicht es einem auch, die grelle
Farbe des Make-ups und der Kostüme des Reiters sowie die behäbige
Natur der Anatomie des Pferdes zu erkennen, das gegen den Reiter
spielt
Das
1888 entstandene Gemälde "Au cirque Fernando, l'écuyère (Die
Kunstreiterin im Zirkus Fernando)" von »Henri
Marie Raymond de Toulouse-Lautrec (1864-1901) war eines von
etwa sechs Werken, die Toulouse-Lautrec zwischen 1888 und 1891 zum
Thema Zirkus malte. Nach einer Krankheit im Jahr 1899 griff er
das Zirkusthema erneut auf und fertigte über 50 Zeichnungen aus der
Erinnerung an die Menschen und Tiere an, die er bei seinen
Zirkusbesuchen gut beobachtet hatte. Das Bild fängt in einer Art
Nahaufnahme den Moment ein, als eine Zirkusartistin sich anschickt,
auf dem in der Zirkusmanege zu schnellem Tempo getriebenen Pferd
aufzustehen und im Anschluss daran, durch einen Papierreifen zu
springen, der von einem Clown in die Höhe gehalten wird. Der
Pferdedompteur, mutmaßlich der Zirkusdirektor selbst, dirigiert den
Apfelschimmel, der nur von hinten mit einem hochgezogenen Hinterbein
zu sehen ist, und treibt ihn mit seiner Peitsche an. Die
Kunstreiterin, deren Rock sich angesichts des vorgelegten Tempos so
aufgebauscht hat, dass ihre nackten Beine vollständig zu sehen sind,
steht in Blickkontakt mit dem Dompteur der Pferdedressur, dem
Zirkusdirektor. Sie sitzt auf einem Sattel auf der dem
Zirkusdirektor und nicht dem Publikum zugewandten Seite des Pferdes.
Das Bild fängt in
einer Art Nahaufnahme den Moment ein, als die Zirkusartistin sich
womöglich anschickt, auf dem in der Zirkusmanege zu schnellem Tempo
getriebenen Pferd aufzustehen und im Anschluss daran, durch einen
Papierreifen zu springen, der von einem Clown in die Höhe gehalten
wird. Der Blicke, die sich die Kunstreiterin und der Zirkusdirektor
zuwerfen, sind ernst, vielleicht auch nur konzentriert auf die
Kommandos, die der letztere im Zuge der Vorführung der Artistin und
dem Pferd gibt. Der Gesichtsausdruck, dem jede Leichtigkeit fehlt,
ist, wenn die Annahme des u. U. bevorstehenden Höhepunkts der
Zirkusnummer, nämlich den den Sprung durch den Papierreifen,
zutrifft, nachvollziehbar, kann aber natürlich auch als Zeichen für
die angespannte Beziehung beider Figuren zueinander gesehen werden.
In beiden Fällen entsteht der Eindruck, dass die Peitsche in der
Hand des Zirkusdirektors, die sich womöglich gerade nach einem Hieb
auf das Hinterteil des Pferdes gesenkt hat, die Zirkusnummer mit
ihrem bevorstehenden Höhepunkt "durchpeitschen" soll.
Der Bildausschnitt
beschränkt sich auf einen kleinen Teil der Manege und ein paar
wenige nur teilweise sichtbare, gut gekleidete Zuschauer in den
unteren, ziemlich leeren Zuschauerrängen, deren Gesichter im
Bildausschnitt "abgeschnitten" oder wie im Falle des eines Mannes
mit Frack und Zylinder kaum zu sehen sind. Am Rand der Manage stehen
zwei weitere Männer im Frack, von denen nur einer mit seinem Gesicht
dargestellt ist. Sein Blick geht nicht in Richtung auf die beiden
Hauptfiguren in der Manege, sondern irgendwo andershin, vielleicht
auf den Clown mit dem hochgehaltenen Papierreifen. Die Zuschauer
jedenfalls spielen in der Darstellung, die sich ganz auf die
eigentlich Dressur- und Kunstreitnummer sowie die Beziehung zwischen
Zirkusdirektor und Kunstreiterin fokussiert, eine ebenso
untergeordnete Rolle im Bildausschnitt nicht zur Darstellung
kommende glamöurose Zirkusambiente.
Das
Bild der "Zirkus" von »Georges-Pierre
Seurat (1859-1891) stellt einen Ausschnitt einer
Zirkusvorstellung dar, die in einem Zirkuszelt stattfindet. das
Innere eines Zirkuszelts während einer Vorstellung. Der Betrachter
blickt auf die Szenerie von einer Position aus, die hinter dem von
einem Clown im Vordergrund mit beiden Händen geöffneten
Manegevorhang. Ihm ist mit seinem geöffneten Mund ein gewisses
Erstaunen ins Gesicht geschrieben, das er offenbar nonverbal mit dem
im Zirkusrund auf den Rängen platzierten Publikum kommuniziert, um
die Attraktion, die dargeboten wird, noch zu unterstreichen. In der
Manage führen zwei Artisten, mutmaßlich eine Frau und ein Mann,
waghalsige Kunststücke vom Rücken eines in einem langgestreckten
Sprung befindlichen weißen Pferdes aus. Während die Artistin auf dem
Rücken des Schimmels, der ohne jegliches Zaumzeug oder Sattel durch
die Arena springt, auf einem Bein scheinbar schwerelos balanciert
und posiert, ist ihr Partner offenbar gerade vom Pferd abgesprungen
und vollführt einen Salto. Das Pferd wird von einem Dompteur im
Frack mit seiner nach unten gerichteteten Peitsche dirigiert, dessen
Blick in einer Mischung aus Konzentration bei der Dressur und
Bewunderung für die Artistin den Bewegungen des Pferdes folgt. Im
hinteren Teil des Zirkusrunds "kommentiert" ein weiterer, lachender
Clown in einer dem Publikum zugewandten Pose die Darbietung.
Den Hintergrund der
Szene bilden die Zuschauerränge, die allerdings nur zum Teil gefüllt
sind, und die oben nur angedeutete Musikkapelle. Auf den vorderen
Plätzen, in den ersten Reihen, haben es sich Frauen mit ausladenden
Hüten und in feiner Kleidung und andere fein gekleidete Personen
bequem gemacht, um dem dem bunten Treiben von der Nähe aus folgen zu
können. Sie nehmen alle eine äußerst aufrechte Sitzhaltung ein.
Etwas weiter oben befinden sich einige
Zuschauer und Zuschauerinnen
auf den weniger komfortablen und enger konstruierten Rängen. Auch
sie folgen fast alle dem Geschehen in der Manege. Zwei Männer mit
Hut allerdings scheinen davon nicht sonderlich angetan zu sein. In
lässiger Körperhaltung scheinen sie sich über alles andere als das
Zirkusgeschehen zu unterhalten. Ganz oben schließlich hinter einer
weißen Bande gibt es noch eine Reihe von Zuschauern, die offenbar
von Stehplätzen aus auf das Geschehen blicken. Eine geradezu
verblüffende Ähnlichkeit mit dem Text "Auf der Galerie" von Franz
Kafka ist am oberen Rand des Bildes zu sehen. Dort ist nämlich ein
Mann auf der (Zirkus-)Galeriezu sehen, der fast wie in Kafkas
Parabel erzählt, sein "Gesicht
auf die Brüstung" hat sinken lassen. Ob Kafka das Bild
allerdings kannte, ist zweifelhaft und ungeklärt.
Einen ganz anderen
Blick auf das Ganze hat der »Expressionist
»Ernst
Ludwig Kirchner (1880-1938), der mit seinem Gemälde "Zirkus/Zirkusreiterin"
1913 den Voyerismus und die dekadente Schaulust des Bürgertums, das
sich mit der Eintrittskarte in den Zirkus bzw. das Varietés einen
vermeintlichen Freiraum erkauft, indem sich das Abenteuer, das
unverfälschte Leben, Kraft und Aggressivität als Konsequenz eines
ausgeklügelten Dressurakts inszenieren lässt. Der Zirkus ist dabei
der Ort, um diese Inszenierung "aus gesicherter Distanz zu
betrachten, statt es zu suchen und selbst direkt zu erleben."
(Werkbeschreibung der »Sammlung
Pinakothek)
der „Cirkus“
spiegelt somit deutlich die Bewunderung des Künstlers für eine
exotisch fremde Gegenwelt, die ihm jedoch auch zum Gleichnis der
eigenen Situation wird."
In den Themen
Varieté und Zirkus spiegelt sich die Konfliktsituation des
spätbürgerlichen Bohemien und gebildeten Künstlers: Die Inszenierung
von Abenteuer, unverfälschtem Leben, Kraft und Aggressivität ist
Konsequenz eines ausgeklügelten Dressurakts. Hier ist der
vermeintliche Freiraum des Großstädters, der sich das Abenteuer mit
einer Eintrittskarte erkauft, um es .
Die Darstellung
zeigt einen Ausschnitt aus der sehr eng bemessenen Zirkusarena, in
dem eine nackte Artistin, mit einem Bein in einer Schlaufe fixiert
seitlich vom Rücken ihres im Verhältnis zur Arena übergroßen
Schimmels in Richtung auf den Dompteur und einen Clown
herunterhängt. Die vorderen Ränge des Zirkusrunds sind bis auf den
letzten Platz gefüllt, die Gesichter der Zuschauerrinnen und
Zuschauer indessen nicht erkennbar.
Die
Werkbeschreibung in betont dabei die Unterschiede der Gestaltung des
Themas bei Kirchner im Gegensatz zu Seurats Werk, auf das Gemälde
Kirchners referiert. "Grundlage für Kirchners Komposition war
offensichtlich Georges Seurats Bild "Der Zirkus" von 1891 (Musée
d’Orsay, Paris), das er jedoch stark uminterpretierte. Die
dekorative Wirkung bei Seurat weicht einer beunruhigenden Stimmung,
die durch Kirchners für diese Zeit typischen, nervösen, an den
Gegenstandsrändern splittrigen Pinselduktus, durch die Beschränkung
der Palette auf Schwarz, Grau-Grün und Rot und schließlich durch die
Konfrontation von zwei unterschiedlichen Perspektiven erzeugt wird.
Während die beiden akklamierenden "Anheizer" in Clownskostümen und
die drei rot livrierten Männer am Zirkuseingang fast frontal gesehen
sind, erscheinen Manege und schwarz gekleidetes Publikum in extremer
Aufsicht, wodurch der Eindruck entsteht, die Zuschauer würden nicht
das spannende Geschehen in der Manege verfolgen, sondern blicklos
nach unten starren. Pferd und Reiterin nehmen beide Perspektiven auf
und wirken dadurch zugleich überproportioniert und verzerrt.
Publikum, Pferd und Reiterin verbindet nicht mehr die
spannungsreiche Atmosphäre des Zirkusgeschehens, sie spielen einen
isolierten Part – dort die anonyme, gesichtslose Menge, hier die für
sich agierende Akrobatin, verbunden untereinander nur durch die
Künstlichkeit der Beleuchtung und eine aggressive Farbigkeit."
Einen interessanten Überblick über die beiden Gemälde, sowie das
Bild von Arthur Kirchner gibt das
YouTube-Video: the artinspector: George Seurat - Der Zirkus (4:09)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.10.2024