Der großen •
Vielfalt von Interpretationen zu •
Franz Kafkas kurzem Prosatext ▪ "Auf
der Galerie" soll hier unter dem Titel "Ein Welt in Schwarz und
Weiß" keine weitere hinzugefügt werden, die den Anspruch erhebt,
eine in sich konsistente Antwort auf die Fragen nach der globalen
Bedeutung des Textes zu geben. Und doch sollen hier der eine oder
andere Aspekt zur Sprache kommen, der ansonsten hier zu kurz
gekommen wäre und •
an anderer Stelle nicht
hinreichend thematisiert werden konnte.
In
•
Franz Kafkas kurzem Prosatext ▪ "Auf
der Galerie" wird dem Leser zweimal das gleiche Geschehen vor
seinem inneren Aug vorgeführt. Während einer öffentlichen
Zirkusvorstellung zeigt eine junge Kunstreiterin auf dem Rücken
ihres Pferdes, das vom Zirkusdirektor mit seiner Peitsche durch die
Manege dirigiert wird.
Die erste Version
der Darstellung steht aber gründlich quer zu alledem, was der
normale Zirkusbesucher sieht, wenn er das Geschehen aus nächster
Nähe zu Gesicht bekommt. Was ihm erzählt wird, ist, das spürt der
Leser schnell heraus, ist eine Welt, die seine Erwartungen und
Schemata, mit denen er Zirkusnummern dieser Art wahrnimmt und
kognitiv verortet, gründlich auf den Kopf stellen. Entlastung vor
Unmutsgefühlen und einer Abwehrhaltung gegen diese ganz und gar
unerwartete Sicht der Dinge bietet ihm aber die Verwendung des
Konjunktivs und die mit der Konjunktion "wenn" eingeleitete,
umfangreiche Satzkonstruktion, die mit dem einleitenden
Konditionalsatz
und dem
Konjunktivmodus der verschiedenen
finiten Verbformen dem erzählten Geschehen den Anstrich des
Nicht-Wirklichen bloß Vorgestellten gibt. Ein Stück weit
identifiziert sich ein Leser unter Umständen auch mit dem jungen
Galeriebesucher, dem, wie ihm, das merkwürdige Geschehen gegen den
Strich zu gehen scheint, als er von der Galerie in die Manege eilt,
um mit seiner Intervention ein Zeichen gegen alle die zu setzen, die
mit ihrem Handeln den Fortgang des Geschehens perpetuieren: Gegen
den peitschenwingenden erbarmungslosen Chef (Direktor), gegen
das immer wieder auf- und abebbende Beifallsklatschen des
Publikums und das nichtaussetzende Brausen des Orchesters,
aber auch gegen die hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin
auf ihrem schwankenden Pferd, die mit den Küssen, die
sie ins Publikum wirft, und ihrem koketten Wiegen in der Taille
gute Miene zum bösen Spiel macht. Dabei passt vor allem die
zeitliche Dimension der Zirkusnummer, die, wenn sie sich täglich
wiederholt, mit dem üblichen
Ereigniskonzept
gesehen und verstanden werden kann, nicht zu der monatelang ohne
Unterbrechung auf ihrem Pferd im Kreise rundum getrieben[en]
Kunstreiterin. Die Einmaligkeit des jeweils wieder neu zu
zeigenden artistischen Könnens ist in dieser offenkundig
unwirklichen, eher an eine Traumwahrnehmung erinnernde zeitlichen
Dimension aufgehoben. Für den Leser stellt dies einen Stolperstein
dar, der sich auch auf seine Versuche auf Textebene Kohärenz zu
schaffen, entgegenstellt. Sie macht auch klar, weshalb er ohne jede
Vermittlung durch eine Erzählinstanz sich in der Er-Erzählung mitten
in eine Situation gestellt sieht, in der sich die Zirkusnummer ohne
eigentlichen Anfang und auch ohne ein Ende bis in die graue
Zukunft hin fortsetzen kann. Auf diesem Hintergrund erhält die
düstere und beklemmende Atmosphäre, die der Text sprachlich
gestaltet ihren Sinn: "Vom Peitschenschwingen über das Küssewerfen
bis zum Brausen der Ventilatoren, auf allen Ebenen dehnt sich das
Geschehen in endlosen Wiederholungen in einer leeren Zeit, ohne dass
es zu Interaktionen zwischen den Beteiligten käme. Daher die Logik
des Traums bzw. Albtraums, wo der Träumende häufig das Gefühl hat,
einem nach eigenen Gesetzmäßigkeiten sich abrollenden Geschehen
beizuwohnen, in das er eingreifen möchte wie der hypothetische
Galeriebesucher." (Niehaus
2010, S.70) In dieser "leeren Traumzeit" so ließe sich der Gedanke
des Albtraums weiterspinnen, beginnt das träumende Ich, das sie
seelisch Beklemmende und Bedrängende in der Rolle des
Galeriebesuchers abzuwehren und schafft es endlich, sich im
Aufwachprozess mit der apodiktischen und zugleich Erleichterung
verschaffenden Bemerkung Da es aber nicht so ist aus den
Fängen des Albtraums zu befreien.
Doch noch ehe sich
der Leser wohl weiter damit beschäftigen kann, was dies alles bedeutet, ob
die mit einem "vielleicht" als hypothetisch ausgewiesene
Intervention die erzählte Situation hätte beeinflussen, geschweige
denn hätte beenden können und wie er sich selbst wohl verhalten
hätte, setzt der
Konstativsatz im
Indikativ, mit dem der zweite Abschnitt beginnt, solchen
Überlegungen ein Ende. Statt sich mit der weiteren Sinnkonstruktion
der ersten Version der Zirkusnummer zu beschäftigen, lenkt der
Erzähler mit seiner zweiten Version die Aufmerksamkeit des Lesers
auf das gleiche Geschehen, das nun quasi unter einem anderen
Vorzeichen präsentiert wird: Die glamourösen Zauber verbreitende
kombinierte Dressur- und Artistennummer einer zierlichen in Weiß
und Rot gekleideten schönen Dame auf ihrem
Apfelschimmel, die mit ausgebreiteten Armen,
zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen
Zirkus teilen will, entspricht nun dem herkömmlichen
Ereigniskonzept. Wie am Ende der ersten Version ist es wieder
der Galeriebesucher, der mit da dies so ist,
für den Schlussakzent in der Geschichte sorgt. Er hat dieses Mal von
oben, von der Galerie aus, dem Treiben zugesehen, das Gesicht auf
die Brüstung gelehnt. Als der Schlussmarsch einsetzt, der
den wohl triumphalen Auszug der Kunstreiterin aus der Manege
untermalen soll, versinkt er in eine Art schweren Traum und
weint, ohne es zu wissen.
Die beiden Teile, in die Kafkas Text gegliedert ist, repräsentieren dabei
jeweils eine Ansicht der Zirkuswelt bei dem Auftritt der Kunstreiterin.
Beide sind per se keine "objektive" Widergabe des Wahrgenommenen,
sondern der sprachliche Ausdruck von gedanklichen Konstrukten der
jeweiligen Zirkuswirklichkeit. Daran ändert auch die Tatsache nichts,
dass die Darstellung der ersten Version dieser Wirklichkeit mit den
beiden lang ausholenden mit wenn eingeleiteten
Konditionalsätzen
und einer finiten
Verbform im Modus des
Konjunktiv schon grammatisch als reine
Möglichkeitsform
ausgewiesen ist. Mit ihrer Hilfe markiert der Erzähler seine Stellung zum
Wahrheits-/Wirklichkeitsgehalt des von ihm Erzählten als bedingt
wirklich.
Im vorliegenden Fall reicht diese Markierung
offenbar nicht aus. Aus diesem Grunde konstatiert der Erzähler in Form
einer mit der Konjunktion da eingeleiteten Begründung, dass es
tatsächlich nicht so "ist",
wie es zunächst den Anschein haben könnte.
Mit dem Indikativ wird
im zweiten Textabschnitt markiert, was nach Ansicht des Erzählers
stattdessen als wirklich bzw. wahr zu gelten hat. Doch auch diese
Darstellung der Zirkuswirklichkeit lässt schnell erkennen, dass es
keineswegs eine nüchtern, sachliche, mit dem Anspruch auf Objektivität
auszustattende Konstruktion der Realität darstellt. Sein insgesamt
eher •
sinnlicher Stil mit
zahlreichen Adjektiven, Partizipialsätzen, einem Attributsatz
und einem Vergleichssatz und den veranschaulichenden, einen sinnlichen
Eindruck vermittelnden Verben wirkt (...) genau so übertrieben wie
der ganze "monumentale Satz" (Niehaus
2010, S.70).
Alles trägt zu dem "bombastischen Gefüge" bei, das den
Leser bzw. die Leserin dieses "dieses wirrbunte(n) Potpourri(s) von
Eindrücken (...) schnell die Übersicht verlieren" (Sudau 2021,
S.15), lässt.
Im Grunde genommen geht es dem Leser dabei kaum anders als
dem jungen Galeriebesucher, der das, was er zu sehen wähnt, weder
einordnen, noch kognitiv verarbeiten oder bewältigen kann, sondern am Ende
"weint", "ohne
es zu wissen."
Auch wenn die zweite Version mit dem Anspruch auf Authentizität auftritt,
verbirgt sich dahinter nur eine Illusion. Daran lässt die vielfach
übersteigerten Darstellung im zweiten Abschnitt keinen Zweifel.
Sie entpuppt sich als "schwerer
Traum", der ganz im Gegensatz zu der dargestellten, allerdings fast
gleißend schönen Zirkuswelt, "schwer" auf der Seele des jungen
Galeriebesuchers lastet. Diese Last ist dabei so schwer, dass er, so gibt ein
auktorialer Erzähler an dieser Stelle für einen Moment den Blick in
das Innenleben dieser Figur frei, über deren seelische Befindlichkeit
man ansonsten eigentlich nichts erfährt, in eine weinerliche Stimmung
versetzt wird. Und das, obwohl er sich angesichts des Ablaufs und der
Inszenierung der Zirkusnummer, die dem herkömmlichen
Ereigniskonzept
entspricht,
zu der auch die inszenierte Überhöhung der gezeigten Sensationen gehört,
eigentlich in keiner Situation befindet, die ihn mit etwas völlig
Unterwartetem konfrontiert.
Wer, ohne sich weiter auf den Text einzulassen, die zwei Versionen,
die der Text als Ganzes miteinander vergleicht, wird sich vielleicht etwas
vorschnell damit zufrieden geben, dass es hier letzten Endes um das
Verhältnis von Sein und Schein geht. Alles deutet danach darauf hin,
insbesondere die seltsame Reaktion des Galeriebesuchers am Ende der
zweiten Version, dass er zumindest emotional ahnt, welche Schere
zwischen dem äußeren Schein der Zirkusnummer, die im Text mit
Indikativ als wahrgenommene Realität erscheint, und dem wahren Sein,
wie es die erste Version mit ihrer, ausdrücklich jedoch als
nicht-wirklich verneinten, ungeschönten Realität enthüllt. Wer den
Text gegen seinen ausdrücklichen und grammatikalischen Strich liest,
dem enthüllt sich das Ganze als Parabel um Sein und Schein, das sich
auf eine Vielzahl gesellschaftlichern und kulturelle Bereiche
übertragen lässt. Mag sein, dass die Ersetzung der Zirkusreiterin
durch das tragische Schicksal medialer Kunstfiguren wie »Marilyn
Monroe (1926-1962), »Michael
Jackson (1958-2009) oder »Amy
Winehouse (1983-2011) vielen als einen dem Text nicht
angemessenen Bedeutungstransfer ansehen. Dennoch liegen solche
Sinnkonstruktionen, die die Zirkuswelt auf unsere heutige Medienwelt
übertragen, durchaus nahe. Sie kann ihren Platz in der Vielfalt
unterschiedlicher Lesarten und Interpretationen, deren
Überzeugungskraft sich auch sonst nur in bestimmten
Diskursgemeinschaften entfaltet, vor allem dadurch behaupten, das
sie in einem engen lebensweltlichen Bezug zu den Erfahrungen und
Wissen steht, die Schülerinnen und Schüler heute machen.
Kafkas Intention, so dürfte die Quintessenz dieses
durchaus angemessenen und vom Text autorisierten Textverständnisses
sein, eine Welt zu zeigen, die allerorten dem falschen Schein folgt,
der kaum mehr kognitiv und bewusst durchschaut, aber von Wenigen
zwar noch emotional erspürt, aber nicht mehr in einen rationalen
Zusammenhang gebracht werden kann.
Ob der Text Franz
Kafkas überhaupt parabolisch auszudeuten ist, ist dabei selbst
zweifelhaft. Auch bei diesem Text lohnt es sich
vielleicht, dieser durchaus konsistent erscheinenden parabolischen
Lesart des Textes
auch ein andere entgegenzusetzen, die einfach akzeptiert, dass sich
gerade in diesem Text die Elemente des Bildbereichs sowie
der Bildbereich als Ganzes nicht widerspruchsfrei einem Gesamtsinn
auf der Sachebene fügen muss. Eine solche Lesart, die den Text
statt als Parabel als •
Denkbild
auffasst, hat dazu den Vorteil, dass dadurch eine
besondere Deutungsoffenheit entsteht, die dem Text weder die für
Parabeln typische Appellstruktur zur textexternen
Bedeutungskonstruktion unterstellt, noch dies als Ziel einer
angemessenen Rezeption des Textes ausgibt.
Zu denken ist dabei
auch an ein Textverständnis, das diesen als das nimmt, was er
vorstellt, ein Verwirrspiel um die Wahrnehmung, Konstruktion und
Deutung von Wirklichkeit. Dabei kann und darf diese Lesart dabei "stehen
bleiben"
in der Beschreibung des oft bemühten •
Vexier-
bzw. Kippbildes, das das jeweils Wahrgenommene in seiner
Anschauungsmodalität letzten Endes jedes für sich insoweit
unhintergehbar macht, als es aneinander gekoppelte, aber nicht
integrierbare Perspektiven auf ein und dieselbe Wirklichkeit
darstellt. Aus Schwarz und Weiß können wir kein kohärentes Ganzes
herstellen. Daran kann auch das Grau der ersten Version in
Kafkas Text nicht hinwegtäuschen.
Statt also im Fall
von ▪ "Auf
der Galerie" dem Muster der •
schulischen Interpretation von Parabeln
mit seiner textexternen Bedeutungskonstruktion schematisch zu
folgen, kann auch eine Interpretation als textangemessen gelten, die
sich der Konstruktion solcher Analogieschlüsse versagt.
Das •
Störpotential, das den Figuren strukturell
mitgegeben ist, lässt sich dann eben auch im Falle von • Kafkas
▪ "Auf
der Galerie" nicht vollständig auflösen. Damit kann und muss man leben,
weil die Figuren in Kafkas ohnehin meistens offen angelegt sind und sich, damit auch häufig vereindeutigenden
Sinnzuschreibungen entziehen.
"Auf
der Galerie" kann und will keine Antwort darauf geben, was die
angemessene Sicht auf die Welt ist.
Die Authentizitätsillusion der Darstellung im zweiten Abschnitt lässt sich auch apodiktisch nicht
verteidigen. ("da dies so ist").
Ob ein Betrachter oder eine Betrachterin
schwarze oder weiße Flächen und Linien mit ihren Konturen in einem
Kippbild wahrnimmt, und deshalb wie im Falle der •
Rubin'schen Abbildung
eine Vase oder zwei gegenüberliegende Gesichtsprofile sieht, lässt sich
genauso wenig vorhersagen, wie die Sicht auf die zweifache
Zirkusrealität in Kafkas Erzählung. Beide haben ihre eigene Realität
und lassen sich nicht zu einer einzigen Wirklichkeit synthetisieren.
Mehr "muss" uns die Erzählung eigentlich nicht "sagen".
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.10.2024
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
16.10.2024