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Aspekte der Erzähltextanalyse

Die Welt in Schwarz und Weiß – Anmerkungen zur Interpretation

Franz Kafka: Auf der Galerie

 
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Eine moderne Parabel interpretieren
Quickie: So interpretiert man eine moderne Parabel
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Arbeitsschritte zur Bewältigung von Schreibaufgaben
Formulierungshilfen
Typische Schreibaufgaben

Fremdheitserfahrungen thematisieren
 Baustein: Einen Zugang zu Kafkas Parabeln finden:
Dass einem diese Texte "schräg" vorkommen, ist ganz normal ...

▪ Kohärenzbildung über mentale Modelle, kognitive Schemata und literarische Konventionen (Gattungen)

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Der großen • Vielfalt von Interpretationen zu • Franz Kafkas kurzem Prosatext ▪ "Auf der Galerie" soll hier unter dem Titel "Ein Welt in Schwarz und Weiß" keine weitere hinzugefügt werden, die den Anspruch erhebt, eine in sich konsistente Antwort auf die Fragen nach der globalen Bedeutung des Textes zu geben. Und doch sollen hier der eine oder andere Aspekt zur Sprache kommen, der ansonsten hier zu kurz gekommen wäre und an anderer Stelle nicht hinreichend thematisiert werden konnte.

In • Franz Kafkas kurzem Prosatext ▪ "Auf der Galerie" wird dem Leser zweimal das gleiche Geschehen vor seinem inneren Aug vorgeführt. Während einer öffentlichen Zirkusvorstellung zeigt eine junge Kunstreiterin auf dem Rücken ihres Pferdes, das vom Zirkusdirektor mit seiner Peitsche durch die Manege dirigiert wird.

Die erste Version der Darstellung steht aber gründlich quer zu alledem, was der normale Zirkusbesucher sieht, wenn er das Geschehen aus nächster Nähe zu Gesicht bekommt. Was ihm erzählt wird, ist, das spürt der Leser schnell heraus, ist eine Welt, die seine Erwartungen und Schemata, mit denen er Zirkusnummern dieser Art wahrnimmt und kognitiv verortet, gründlich auf den Kopf stellen. Entlastung vor Unmutsgefühlen und einer Abwehrhaltung gegen diese ganz und gar unerwartete Sicht der Dinge bietet ihm aber die Verwendung des Konjunktivs und die mit der Konjunktion "wenn" eingeleitete, umfangreiche Satzkonstruktion, die mit dem einleitenden Konditionalsatz und dem Konjunktivmodus der verschiedenen finiten Verbformen dem erzählten Geschehen den Anstrich des Nicht-Wirklichen bloß Vorgestellten gibt. Ein Stück weit identifiziert sich ein Leser unter Umständen auch mit dem jungen Galeriebesucher, dem, wie ihm, das merkwürdige Geschehen gegen den Strich zu gehen scheint, als er von der Galerie in die Manege eilt, um mit seiner Intervention ein Zeichen gegen alle die zu setzen, die mit ihrem Handeln den Fortgang des Geschehens perpetuieren: Gegen den peitschenwingenden erbarmungslosen Chef (Direktor), gegen das immer wieder auf- und abebbende Beifallsklatschen des Publikums und das nichtaussetzende Brausen des Orchesters, aber auch gegen die hinfällige, lungensüchtige Kunstreiterin auf ihrem schwankenden Pferd, die mit den Küssen, die sie ins Publikum wirft, und ihrem koketten Wiegen in der Taille gute Miene zum bösen Spiel macht. Dabei passt vor allem die zeitliche Dimension der Zirkusnummer, die, wenn sie sich täglich wiederholt, mit dem üblichen Ereigniskonzept gesehen und verstanden werden kann, nicht zu der monatelang ohne Unterbrechung auf ihrem Pferd im Kreise rundum getrieben[en] Kunstreiterin. Die Einmaligkeit des jeweils wieder neu zu zeigenden artistischen Könnens ist in dieser offenkundig unwirklichen, eher an eine Traumwahrnehmung erinnernde zeitlichen Dimension aufgehoben. Für den Leser stellt dies einen Stolperstein dar, der sich auch auf seine Versuche auf Textebene Kohärenz zu schaffen, entgegenstellt. Sie macht auch klar, weshalb er ohne jede Vermittlung durch eine Erzählinstanz sich in der Er-Erzählung mitten in eine Situation gestellt sieht, in der sich die Zirkusnummer ohne eigentlichen Anfang und auch ohne ein Ende bis in die graue Zukunft hin fortsetzen kann. Auf diesem Hintergrund erhält die düstere und beklemmende Atmosphäre, die der Text sprachlich gestaltet ihren Sinn: "Vom Peitschenschwingen über das Küssewerfen bis zum Brausen der Ventilatoren, auf allen Ebenen dehnt sich das Geschehen in endlosen Wiederholungen in einer leeren Zeit, ohne dass es zu Interaktionen zwischen den Beteiligten käme. Daher die Logik des Traums bzw. Albtraums, wo der Träumende häufig das Gefühl hat, einem nach eigenen Gesetzmäßigkeiten sich abrollenden Geschehen beizuwohnen, in das er eingreifen möchte wie der hypothetische Galeriebesucher." (Niehaus 2010, S.70) In dieser "leeren Traumzeit" so ließe sich der Gedanke des Albtraums weiterspinnen, beginnt das träumende Ich, das sie seelisch Beklemmende und Bedrängende in der Rolle des Galeriebesuchers abzuwehren und schafft es endlich, sich im Aufwachprozess mit der apodiktischen und zugleich Erleichterung verschaffenden Bemerkung Da es aber nicht so ist aus den Fängen des Albtraums zu befreien.

Doch noch ehe sich der Leser wohl weiter damit beschäftigen kann, was dies alles bedeutet, ob die mit einem "vielleicht" als hypothetisch ausgewiesene Intervention die erzählte Situation hätte beeinflussen, geschweige denn hätte beenden können und wie er sich selbst wohl verhalten hätte, setzt der Konstativsatz im Indikativ, mit dem der zweite Abschnitt beginnt, solchen Überlegungen ein Ende. Statt sich mit der weiteren Sinnkonstruktion der ersten Version der Zirkusnummer zu beschäftigen, lenkt der Erzähler mit seiner zweiten Version die Aufmerksamkeit des Lesers auf das gleiche Geschehen, das nun quasi unter einem anderen Vorzeichen präsentiert wird: Die glamourösen Zauber verbreitende kombinierte Dressur- und Artistennummer einer zierlichen in Weiß und Rot gekleideten schönen Dame auf ihrem Apfelschimmel, die mit ausgebreiteten Armen, zurückgelehntem Köpfchen ihr Glück mit dem ganzen Zirkus teilen will, entspricht nun dem herkömmlichen Ereigniskonzept. Wie am Ende der ersten Version ist es wieder der Galeriebesucher, der mit da dies so ist, für den Schlussakzent in der Geschichte sorgt. Er hat dieses Mal von oben, von der Galerie aus, dem Treiben zugesehen, das Gesicht auf die Brüstung gelehnt. Als der Schlussmarsch einsetzt, der den wohl triumphalen Auszug der Kunstreiterin aus der Manege untermalen soll, versinkt er in eine Art schweren Traum und weint, ohne es zu wissen.

Die beiden Teile, in die Kafkas Text gegliedert ist, repräsentieren dabei jeweils eine Ansicht der Zirkuswelt bei dem Auftritt der Kunstreiterin. Beide sind per se keine "objektive" Widergabe des Wahrgenommenen, sondern der sprachliche Ausdruck von gedanklichen Konstrukten der jeweiligen Zirkuswirklichkeit. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Darstellung der ersten Version dieser Wirklichkeit mit den beiden lang ausholenden mit wenn eingeleiteten Konditionalsätzen und einer finiten Verbform im Modus des Konjunktiv schon grammatisch als reine Möglichkeitsform ausgewiesen ist. Mit ihrer Hilfe markiert der Erzähler seine Stellung zum Wahrheits-/Wirklichkeitsgehalt des von ihm Erzählten als bedingt wirklich.

Im vorliegenden Fall reicht diese Markierung offenbar nicht aus. Aus diesem Grunde konstatiert der Erzähler in Form einer mit der Konjunktion da eingeleiteten Begründung, dass es tatsächlich nicht so "ist", wie es zunächst den Anschein haben könnte.

Mit dem Indikativ wird im zweiten Textabschnitt markiert, was nach Ansicht des Erzählers stattdessen als wirklich bzw. wahr zu gelten hat. Doch auch diese Darstellung der Zirkuswirklichkeit lässt schnell erkennen, dass es keineswegs eine nüchtern, sachliche, mit dem Anspruch auf Objektivität auszustattende Konstruktion der Realität darstellt. Sein insgesamt eher • sinnlicher Stil mit zahlreichen Adjektiven, Partizipialsätzen, einem Attributsatz und einem Vergleichssatz und den veranschaulichenden, einen sinnlichen Eindruck vermittelnden Verben wirkt (...) genau so übertrieben wie der ganze "monumentale Satz" (Niehaus 2010, S.70).

Alles trägt zu dem "bombastischen Gefüge" bei, das den Leser bzw. die Leserin dieses "dieses wirrbunte(n) Potpourri(s) von Eindrücken (...) schnell die Übersicht verlieren" (Sudau 2021, S.15), lässt.

Im Grunde genommen geht es dem Leser dabei kaum anders als dem jungen Galeriebesucher, der das, was er zu sehen wähnt, weder einordnen, noch kognitiv verarbeiten oder bewältigen kann, sondern am Ende "weint", "ohne es zu wissen."

Auch wenn die zweite Version mit dem Anspruch auf Authentizität auftritt, verbirgt sich dahinter nur eine Illusion. Daran lässt die vielfach übersteigerten Darstellung im zweiten Abschnitt keinen Zweifel.  Sie entpuppt sich als "schwerer Traum", der ganz im Gegensatz zu der dargestellten, allerdings fast gleißend schönen Zirkuswelt,  "schwer" auf der Seele des jungen Galeriebesuchers lastet. Diese Last ist dabei so schwer, dass er, so gibt ein auktorialer Erzähler an dieser Stelle für einen Moment den Blick in das Innenleben dieser Figur frei, über deren seelische Befindlichkeit man ansonsten eigentlich nichts erfährt, in eine weinerliche Stimmung versetzt wird. Und das, obwohl er sich angesichts des Ablaufs und der Inszenierung der Zirkusnummer, die dem herkömmlichen Ereigniskonzept entspricht, zu der auch die inszenierte Überhöhung der gezeigten Sensationen gehört, eigentlich in keiner Situation befindet, die ihn mit etwas völlig Unterwartetem konfrontiert.

Wer, ohne sich weiter auf den Text einzulassen, die zwei Versionen, die der Text als Ganzes miteinander vergleicht, wird sich vielleicht etwas vorschnell damit zufrieden geben, dass es hier letzten Endes um das Verhältnis von Sein und Schein geht. Alles deutet danach darauf hin, insbesondere die seltsame Reaktion des Galeriebesuchers am Ende der zweiten Version, dass er zumindest emotional ahnt, welche Schere zwischen dem äußeren Schein der Zirkusnummer, die im Text mit Indikativ als wahrgenommene Realität erscheint, und dem wahren Sein, wie es die erste Version mit ihrer, ausdrücklich jedoch als nicht-wirklich verneinten, ungeschönten Realität enthüllt. Wer den Text gegen seinen ausdrücklichen und grammatikalischen Strich liest, dem enthüllt sich das Ganze als Parabel um Sein und Schein, das sich auf eine Vielzahl gesellschaftlichern und kulturelle Bereiche übertragen lässt. Mag sein, dass die Ersetzung der Zirkusreiterin durch das tragische Schicksal medialer Kunstfiguren wie »Marilyn Monroe (1926-1962), »Michael Jackson (1958-2009) oder »Amy Winehouse (1983-2011) vielen als einen dem Text nicht angemessenen  Bedeutungstransfer ansehen. Dennoch liegen solche Sinnkonstruktionen, die die Zirkuswelt auf unsere heutige Medienwelt übertragen, durchaus nahe. Sie kann ihren Platz in der Vielfalt unterschiedlicher Lesarten und Interpretationen, deren Überzeugungskraft sich auch sonst nur in bestimmten Diskursgemeinschaften entfaltet, vor allem dadurch behaupten, das sie in einem engen lebensweltlichen Bezug zu den Erfahrungen und Wissen steht, die Schülerinnen und Schüler heute machen.

Kafkas Intention, so dürfte die Quintessenz dieses durchaus angemessenen und vom Text autorisierten Textverständnisses sein, eine Welt zu zeigen, die allerorten dem falschen Schein folgt, der kaum mehr kognitiv und bewusst durchschaut, aber von Wenigen zwar noch emotional erspürt, aber nicht mehr in einen rationalen Zusammenhang gebracht werden kann.

Ob der Text Franz Kafkas überhaupt parabolisch auszudeuten ist, ist dabei selbst zweifelhaft. Auch bei diesem Text lohnt es sich vielleicht, dieser durchaus konsistent erscheinenden parabolischen Lesart des Textes auch ein andere entgegenzusetzen, die einfach akzeptiert, dass sich gerade in diesem Text die Elemente des Bildbereichs sowie der Bildbereich als Ganzes nicht widerspruchsfrei einem Gesamtsinn auf der Sachebene fügen muss. Eine solche Lesart, die den Text statt als Parabel als • Denkbild auffasst, hat dazu den Vorteil, dass dadurch eine besondere Deutungsoffenheit entsteht, die dem Text weder die für Parabeln typische Appellstruktur zur textexternen Bedeutungskonstruktion unterstellt, noch dies als Ziel einer angemessenen Rezeption des Textes ausgibt.

Zu denken ist dabei auch an ein Textverständnis, das diesen als das nimmt, was er vorstellt, ein Verwirrspiel um die Wahrnehmung, Konstruktion und Deutung von Wirklichkeit. Dabei kann und darf diese Lesart dabei "stehen bleiben" in der Beschreibung des oft bemühten • Vexier- bzw. Kippbildes, das das jeweils Wahrgenommene in seiner Anschauungsmodalität letzten Endes jedes für sich insoweit unhintergehbar macht, als es aneinander gekoppelte, aber nicht integrierbare Perspektiven auf ein und dieselbe Wirklichkeit darstellt. Aus Schwarz und Weiß können wir kein kohärentes Ganzes herstellen. Daran kann auch das Grau der ersten Version in Kafkas Text nicht hinwegtäuschen.

Statt also im Fall von ▪ "Auf der Galerie" dem Muster der • schulischen Interpretation von Parabeln mit seiner textexternen Bedeutungskonstruktion schematisch zu folgen, kann auch eine Interpretation als textangemessen gelten, die sich der Konstruktion solcher Analogieschlüsse versagt.

Das • Störpotential, das den Figuren strukturell mitgegeben ist, lässt sich dann eben auch im Falle von • Kafkas ▪ "Auf der Galerie" nicht vollständig auflösen. Damit kann und muss man leben, weil die Figuren in Kafkas ohnehin meistens offen angelegt sind und sich, damit auch häufig vereindeutigenden Sinnzuschreibungen entziehen.

"Auf der Galerie" kann und will keine Antwort darauf geben, was die angemessene Sicht auf die Welt ist. Die Authentizitätsillusion der Darstellung im zweiten Abschnitt lässt sich auch apodiktisch nicht verteidigen. ("da dies so ist").

Ob ein Betrachter oder eine Betrachterin schwarze oder weiße Flächen und Linien mit ihren Konturen in einem Kippbild wahrnimmt, und deshalb wie im Falle der • Rubin'schen Abbildung eine Vase oder zwei gegenüberliegende Gesichtsprofile sieht, lässt sich genauso wenig vorhersagen, wie die Sicht auf die zweifache Zirkusrealität in Kafkas Erzählung. Beide haben ihre eigene Realität und lassen sich nicht zu einer einzigen Wirklichkeit synthetisieren. Mehr "muss" uns die Erzählung eigentlich nicht "sagen".

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 16.10.2024

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 16.10.2024

 
 

 
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