Mit ihrer praktischen Vernunft wird die
Aufklärung
zu einer Reformbewegung, die alle Lebensgebiete erfasst. Am tiefsten wirkt
sie auf Religion und Kirche, wobei der Protestantismus der Entfaltung des
Aufklärungsdenkens günstigere Voraussetzungen bietet als der
Katholizismus mit seiner hierarchischen und dogmatischen Geschlossenheit.
[...] Im Ganzen allerdings schleifen sich durch die Aufklärung die
konfessionellen Unterschiede im Bewusstsein der Menschen ab [...].
Religiöse Toleranz wird zum Ideal der Zeit, die alle Dogmen des
Christentums und der Religionen überhaupt der Kritik unterwirft. [...]
Aus England und Frankreich dringt der Deismus nach Deutschland, der zwar
einen Schöpfergott, aber kein unmittelbares Weltregiment wahrhaben will.
Die Bezeichnung »Freigeist« meint im 18. Jahrhundert die Anhänger des
Deismus. [...] Die Aufklärungstheologie selbst gibt Stück für Stück
die orthodoxen Positionen auf und beschränkt sich auf eine Religion, die
ihr vernunftgemäß erscheint. Die Offenbarung Gottes in der Natur sagt
ihr mehr als die in der Schrift. [...]
Bildung wird ein Kennwort des Zeitalters, das von einem tiefen
pädagogischen Eros geprägt ist. Das wirk sich zunächst im Schulwesen
aus - in der Einführung der allgemeinen Volksschulpflicht, im Ausbau der
humanistisch bestimmten höheren Schule, in Ansätzen einer den Realien
zugewandten Erziehungsweise. [...] Auch die Universitätsgründungen in
Halle (1684) und Göttingen (1737) fördern den Geist der Aufklärung.
[...]
Wichtiger noch als ihr Einfluss auf die Schul- und Universitätserziehung
ist die Erwachsenenbildung der Aufklärung. Alle Schichten sollen Anteil
an den Errungenschaften der Zeit haben, die Perspektive soll sich über
die Enge der bürgerlichen Berufs- und Sozialsphäre hinaus weiten. Auch
die Stellung der Frau wird neu bestimmt. Ihre Beschränkung auf die
Hauswirtschaft und Kinderpflege soll gelockert, ein behutsamer Anschluss
an die geistigen Bestrebungen gefördert werden. [...] Ohne Zweifel haben
Frauen einen erheblichen Anteil an der Verbreiterung des Lesepublikums und
der Ausbildung einer aufklärerischen Gefühls- und Geschmackskultur.
Von besonderer Bedeutung ist die aus England herüberdringende
Einrichtung der Moralischen Wochenschriften [...]. In Erzählungen, Typen-
und Sittenschilderungen, Essays, Dialogen oder Briefen verbreiten sich die
Autoren unter der Maske fingierter Figuren, die aus verschiedenen
Blickwinkeln betrachten und urteilen, über alle großen und kleinen Fragen
des geistigen und Alltagslebens [...]. Die meisten bedeutenderen
Schriftsteller der Zeit haben Moralische Wochenschriften herausgegeben oder
zeitweilig an ihnen mitgearbeitet. Das Vertrauen in die Anlage und
unbegrenzte Bildsamkeit der menschlichen Seele findet hier Ausdruck. In
diesem Glauben ist die Aufklärung nichts anderes als eine einzige große
Erziehungsbewegung, die, wie Kant sagt, den Menschen aus seiner
selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus Selbstbestimmung führen will.
Sein umfassendstes Feld findet der Reformeifer der Aufklärung in Staat
und Gesellschaft. In Frankreich führt das Ringen um ihre zeitgemäße
Einrichtung zur Revolution, in Deutschland zum aufgeklärten Absolutismus,
wie er sich in der Regierungsweise Friedrichs des Großen (Regierungszeit
1740-86) oder Josephs II. (Regierungszeit 1765 [Kaiser und Mitregent Maria
Theresias]-1790 darstellt. [...]
Gemeinaufklärerisch ist die Tendenz, die sozialen und politischen Gebilde
nicht von den geschichtlichen Bedingungen her, sondern als Vernunft- und
Zweckformen zu begreifen.
(aus:
Gerhard
Kaiser 1976b, S.20-27, Auszüge)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
09.07.2021