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Wie
Bildstatistiken täuschen können
Eine besondere Art der
Bildstatistik
stellt die so genannte Wiener Methode dar. Sie wurde von »Otto
Neurath (1882-1945) um 1924 begründet und ab 1927 gemeinsam mit dem
Grafiker »Gerd Arntz
(1900-1988) unter dem Namen ▪ "Isotype"
(= International System of Typographic Picture Education) weiter entwickelt.
Das
auf Initiative von Neurath 1924 in Wien gegründete "Gesellschafts- und
Wirtschaftsmuseum" (GWM), das der sozialdemokratischen Regierung "als
zentrales Instrument politischer Volksbildung im 'Roten Wien' " ´dienen
sollte (Jansen/Scharfe,
Handbuch der Infografik 1999, S.36), hatte den eigenen Worten Neuraths
zufolge den Anspruch, eine wichtige "Zentralstelle für gesellschafts- und
wirtschaftswissenschaftliche Unterweisung durch vorwiegend optische Mittel,
Graphica und Modelle" zu werden (Wikipedia,
16.12.11)
Eine möglichst leicht verständliche und standardisierte
Bildsprache und -symbolik sollte nach Neuraths Auffassung auch eher
"bildungsfernen" Adressaten im Rahmen eines unterhaltsamen Museumsbesuchs
Wissen vermitteln, das ihnen sonst kaum zugänglich war.
Dabei hat Neurath
schon 1926 erkannt: "Die modernen Menschen empfangen einen großen Teil ihres
Wissens und ihrer allgemeinen Bildung durch bildhafte Eindrücke,
Illustrationen, Lichtbilder, Filme. Die Tageszeitungen bringen von Jahr zu
Jahr mehr Bilder. Dazu kommt das gesamte Reklamewesen, das einerseits mit
optischen Signalen, andererseits auch wieder mit Darstellungen arbeitet.
Ausstellungen, Museen sind durchaus Kinder dieses Schaugetriebes." (Neurath,
Statistische Hieroglyphen, 19926, zit. n.
Hartmann o.J.)
Im "Jahrhundert des Auges", von dem Neurath spricht (vgl.
Hartmann o.J.) soll
eine nach und nach erworbene Bildgrammatik es möglichst allen ermöglichen,
immer komplexere Sacherhalte zu verstehen. (vgl.
Jansen/Scharfe 1999,
S.36) Zur Erreichung dieses klar formulierten Zieles nützte das GVM " alle
verfügbaren Medien und setzte Kopien seiner Schautafeln ein, wo immer dies
möglich war" (Wikipedia,
16.12.11).
Ihre Gestaltung und Verwendung folgte dabei stets dem
didaktischen Konzept "Gesellschaft und Ökonomie verständlich" (Jansen/Scharfe 1999,
ebd.), d.h. in möglichst einfacher Form und auf einen einzigen Sachverhalt
fokussiert, zu veranschaulichen. Der "ideale" Adressat seiner Bildstatistik
war stets ein "Durchschnittsbetrachter" und seine Kommunikationsstrategie
war nicht auf Intellektuelle zugeschnitten (vgl.
Wikipedia, 16.12.11). Es sollte nicht deren Fachinteresse durch das
Präsentieren möglichst exakter Daten bedienen, sondern größere Zusammenhänge
aufzeigen. (vgl.
Jansen/Scharfe 1999,
S.36)

Was die Gestaltungsprinzipien der Isotypie bestimmte, war eine bestimmte
Vorstellung Neuraths über den Prozess der Bildrezeption, der im Wesentlichen
in drei Schritten bestand.
Die Vorstellung eines
dreistufigen Rezeptionsprozesses
hat Neurath selbst betont: "Ein Bild das nach den Regeln der Wiener Methode
hergestellt ist, zeigt auf den ersten Blick das Wichtigste am Gegenstand;
offensichtliche Unterschiede müssen sofort ins Auge fallen. Auf den zweiten
Blick sollte es möglich sein, die wichtigeren Einzelheiten zu sehen und auf
den dritten Blick, was es an Einzelheiten sonst noch geben mag." (zit. n.
Hartmann o.J.)
Konnte ein Bild diesen Kriterien nicht entsprechen, benötigte es zu seinem
Verständnis weitere Schritte, dann war es, so Neurath, "vom Standpunkt der
Wiener Schule, als pädagogisch ungeeignet zu verwerfen."
Um Bildstatistiken zu entwerfen, die in diesem dreistufigen Prozess
rezipiert werden konnten, mussten die ihnen zugrunde liegenden Daten in
einer bestimmten Art und Weise aufgearbeitet werden:
"Die Methode, einfach ausgedrückt, war die, nicht einfach Zahlen und Daten
zu illustrieren, sondern einen gänzlich neuen Typus von Zeichen zu kreieren,
der so direkt wie möglich zum Bezeichneten steht (der also, semiotisch
ausgedrückt, das Objekt mit höchstmöglicher Ikonizität repräsentiert).
Dieser neue Typus von Zeichen sollte dann mit höchstmöglicher Konsequenz
verwendet werden: unmittelbare, selbsterklärende Zeichen mussten
gesetzt werden, dieselben Zeichen für dieselben Dinge, mehr
Zeichen (nicht etwa größere) für eine höhere Quantität, und die Zeichen sollten nicht stellvertretend sein, sondern ikonisch. Die Regeln
für ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education, 1934),
die neue Bildsprache, waren einfach und streng." (Hartmann
o.J., Hervorh. d. Verf.)
Die wesentlichen Gestaltungsprinzipien der Isotypie lassen sich daher auf 5 Aspekte
reduzieren:
-
einfache, statt komplexe
Darstellung mit der Anschauung unmittelbar zugänglichen,
selbsterklärenden Zeichen
-
Konzentrierung auf ein Thema
bzw. einen Sachverhalt
-
Gegenständlich-ikonische
statt symbolische Zeichen
-
Standardisierung bestimmter
Zeichen für bestimmte Dinge und Sachverhalte
-
Darstellung größerer Mengen
mit einer größeren Anzahl von Symbolen (vgl.
den Ansatz von Brinton)
Die Vorzüge der Isotypie gegenüber einem herkömmlichen Balkendiagramm
Bei einem herkömmlichen
▪ Balkendiagramm
werden die Mengenverhältnisse durch die unterschiedliche Länge der Balken
visualisiert.
Bei der Isotypie-Grafik werden die Balken, die ansonsten lediglich durch
Farbe und/oder Schraffur voneinander abgehoben werden, mit figürlichen
Darstellungen (Signaturen) aufgefüllt. Dabei kann die Farbe und das Symbol
verwendet werden, um eine erhöhte Anschaulichkeit zu erreichen. Für Otto Neurath hat dies mit dem optischen Gedächtnis des Betrachters zu
tun:
»Wenn ein Mensch, der ein optisch gerichtetes Gedächtnis
hat, sich die Streifen wirklich in ihrer Länge und Anordnung merkt, so
muss er sich unoptisch ›dazu‹ merken, was sie bedeuten! Denn nach
einiger Zeit weiss er gar nicht mehr, dass rot die Männer, rosa die
Frauen, dass blau die Textilindustrie und grün die Kinder sind! Wohl
aber merkt er sich die Bedeutung der Balken, wenn sie nicht nur farbig
sind, sondern auch noch figural sind! Eine rote Männerreihe symbolisiert
eben viele Männer!« (Otto Neurath, Statistische Hieroglyphen, (1926),
in: ders. Gesammelte bildpädagogische Schriften, Hrsg. von Rudolf Haller
und Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1991, S.40)

Flächen- und Volumenvergleiche sind problematisch
Im Gegensatz zu dieser Isotypie-Grafik von »Otto
Neurath (1882-1945) wird Problematik der nachfolgenden Darstellung
deutlich, die auf derselben Datenbasis beruht.

»Rebecca Stutz
betont bei der Herausarbeitung der Unterschiede zwischen
den beiden von Neurath stammenden Darstellungen, dass die Menge bei der
Isotypie-Grafik (Balkendiagramm) durch eine bestimmte
Anzahl gleicher
Signaturen dargestellt werde, die leichter im Gedächtnis gespeichert
werden könnten.
Bei der unteren Darstellung mit ihrem Flächen- bzw. Volumenvergleich seien dagegen Symbole in unterschiedlicher Größe
verwendet, um die Mengenverhältnisse zu visualisieren. Allerdings habe dies
den Nachteil, dass sich der Rezipient keine Vorstellung von
Zahlenverhältnissen machen könne, weil
das Auge Volumina nicht miteinander
vergleichen könne.
Damit die Mengenverhältnisse überhaupt nachvollziehbar sind, muss, wie im
obigen Beispiel, also der Wert über
den Signaturen angebracht werden. Erst über diesen Umweg lässt sich der
Mengenvergleich durchführen. Zudem geht es beim
▪ Mengen-/Häufigkeitsvergleich in der Regel
um wachsende oder abnehmende Werte und nicht um größer werdende Gegenstände.
Die manipulative
Tendenz wachsender oder abnehmender Größen ist unübersehbar.
Problem Flächen- und Volumenvergleiche
Im Vergleich zu der nebenstehenden Bildstatistik im Stil
»Michael George Mulhalls (1836-1900), die denselben
Sachverhalt visualisiert, kommt »Wiilard
C. Brinton (1880-1957)
(1919,
S. 39) zum Schluss, dass solche Bildstatistiken die ihnen
zugrunde liegenden Daten und Mengenverhältnisse nicht korrekt
visualisieren. (Problem Volumen- und Flächenvergleiche)
Das allein reiche aus, einer derartigen Visualisierungsmethode
zu misstrauen. So erscheine der größere Mann von 1911 wegen
nicht korrekter Proportionen mehr als nur 2 1/4-fach bedeutsamer
als der von 1899, wie dies eigentlich die angegebenen Daten
signalisieren. Ließe man die Daten gänzlich weg, hätte ein
Betrachter nicht einmal die Möglichkeit, diesen (suggestiven)
visuellen Eindruck zu überprüfen.
Zudem sei eine solche Darstellung der Mengenverhältnisse auch
unlogisch, da die Eisenbahnen zwischen 1899 und 1911 ja nicht
einen größeren Passagier, sondern eine größere Anzahl von
Passagieren beförderten. (▪ Online-Bibliothek)
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Die Rechnung geht bei Flächen- und Volumenvergleichen nicht auf
Die Problematik solcher Volumen- und Flächenvergleiche fällt einem klar
ins Auge, wenn man die
beiden Herangehensweisen einander gegenüberstellt und eine
mathematische
Rechnung anstellt.
-
Im vorliegenden Beispiel
haben z. B. 1920 annähernd doppelt so viele Leute
geheiratet als 1910.
-
Die Grafik allein gibt dagegen nur her, dass im
Jahr 1920 deutlich mehr Leute geheiratet haben als 1915. In welchem
prozentualen Verhältnis diese beiden Mengen zueinander stehen, kann der
Rezipient der figürlichen Flächendarstellung nicht entnehmen.
Aus diesem Grund verzichtet die Isotypie
gewöhnlich auf unterschiedlich große
Figuren/Piktogramme und verwendet stattdessen eine Mehrzahl kleinerer
Figuren.
(vgl. Rebekka Stutz, Otto Neurath (1882–1945),
http://www.enzyklopaedie.ch/dokumente/neurath.html, 3.5.2018)
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Wie
Bildstatistiken täuschen können Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
10.01.2024
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