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Aspekte der Erzähltextanalyse

Zeitgestaltung als Schlüssel zur Interpretation

Johann Peter Hebel, Unverhofftes Wiedersehen

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur Autorinnen und Autoren Johann Peter Hebel (1760-1826) ●► Kalendergeschichten Unverhofftes Wiedersehen Text [ Aspekte der Erzähltextanalyse Zeigestaltung (Textstellen) Zeitgestaltung als Schlüssel zur Interpretation ] Bausteine  ...   Schreibformen Operatoren im Fach Deutsch
   

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WIE WIRD ERZÄHLT? (Zeitgestaltung, Perspektiven, Darbietungsformen ...)
Zeitgestaltung  in erzählenden Texten
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Leitfragen zur Analyse 
Strukturen
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Die Interpretation der Kalendergeschichte »Unverhofftes Wiedersehen« von Johann Peter Hebel geht in der Regel von der Zeitgestaltung der Geschichte aus, die auf einem besonders eindrücklich ausgeprägten Verhältnis von Erzählzeit (=Dauer des (Vor-)Lesens einer Geschichte) und erzählter Zeit (=Dauer des erzählten Geschehens einer Geschichte) beruht. Das Verhältnis dieser beiden Dimensionen bestimmt im Wesentlichen das Erzähltempo einer Geschichte.

In Johann Peter Hebels Kalendergeschichte »Unverhofftes Wiedersehen« ist die Zeitgestaltung das maßgebliche Ordnungsprinzip der Geschichte. Wie Jochen Vogt (1990, S.111-114) zeigt, gliedert sie mit ihrer "zentralen Raffung" das erzählte Geschehen und schafft mit ihrem starken Wechsel des Erzähltempos drei verschiedene Erzählphasen. Die erste besteht nach Vogt aus den drei nur knapp angedeuteten Szenen bzw. Geschehnissen Brautkuss, Aufgebot und Abschied. Während in der ersten Szene mit ihrer dominierenden direkter Wechselrede noch personales oder gar neutrales Erzählen vorherrsche und zeitdeckend erzählt werde, ändere sich dies in der zweiten Szene. Sie "führt mit der allegorischen Personifizierung eines Geschehens ("da meldete sich der Tod", Z 7) aus dem Raum des äußerlich fassbaren bzw. subjektiv wahrnehmbaren Geschehens hinaus, wie es von personalem Erzählen erfasst werden kann. Man muss sie als auktorialen Erzählereingriff verstehen, ähnlich wie die räsonierende Einmischung 'der Bergmann hat sein Totenkleid immer an'."  Daher, so Vogts Schluss, dominiere auktoriales Erzählen "bereits im Übergang zur zweiten Erzählphase." Er belegt seine Behauptung an den ersten 13 Zeilen in der vorliegenden Fassung bzw. 5 Sätzen (Erzählzeit), in denen nur ein paar wenige ausgewählte Ereignisse gereiht würden, die sich innerhalb weniger Tage (erzählte Zeit) ereignen. Da diese drei Szenen aus einem Gesamtverlauf von drei Tagen herausgegriffen würden, könne man schon hier von einer Zeitraffung sprechen.
Im weiteren Verlauf der Erzählung werde das Geschehen indessen "wesentlich stärker, ja extrem gerafft", so Vogt weiter, und konstituiere die zweite Erzählphase (Z 10 Er kam… bis Z 21 …Werkstatt). Die umfasst in der Tat nur 12 Zeilen in der vorliegenden Fassung und führt dem Leser den Ablauf eines halben Jahrhunderts vor Augen, "dem nach dem Unglückstod des Bergmanns die ganze Welt, damit auch seine junge Braut unterworfen ist, während sein Leichnam ihm paradoxerweise entrückt scheint." (ebd.)

Die erzählerische Wirkung des Textes beruht nach Jochen Vogt (1990, S.111-114) auf der Anwendung und Kombination von drei Techniken:

Weitung des Erzählwinkels
Am Anfang spielt sich das erzählte Geschehen in einer fast idyllisch anmutenden Privatsphäre ab. Erst allmählich weitet sich dieser "Erzählwinkel" "ins Globale und Welthistorische": "Von der zurückgebliebenen Braut ist nur noch überleitend (und bereits stark raffend) die Rede: 'und vergaß ihn nie" (Z 12). Dann aber wird in der scheinbar regellosen Aufzählung historischer Ereignisse der Fluss der Zeit angedeutet, ja er wird geradezu spürbar, wobei die souveräne raum-zeitliche Überschau eine wahrhaft auktoriale Erzählhaltung anzeigt (und hier in engem Zusammenhang mit der Gattung und Wirkungsabsicht der Kalendergeschichte steht.)." Die Weitung des Erzählwinkels kontrastiert aber auch "mit leiser Ironie" (Nentwig 1962, S.30ff.) zugleich die rasche Vergänglichkeit vermeintlich großer und denkwürdiger Ereignisse mit dem "Unvergängliche(n) des einfachen Menschenalltags (...): Saat und Ernte, Arbeit und Mühe." (ebd.) ( "… und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt." Z 19-21)

Raffende und rhythmisierende Aufzählung: Sukzessive Raffung
Die Art und Weise, wie der Erzähler die Geschehnisse darbietet, ist raffend und rhythmisiert dadurch den Erzählablauf. In syndetischer ("und… und … und")  Reihung präsentiert er zunächst einmal siebzehn historisch-politische Ereignisse. Die ersten fünfzehn davon lassen sich, so Vogt weiter, "zumeist in Dreiergruppen ordnen, wobei als drittes jeweils der Tod einer historischen Person steht."
Was der Erzähler "aus der ungeheuren Fülle dieses halben Jahrhunderts (Geschehen) ausgewählt " habe, seien allesamt wichtige historische Ereignisse. Die meisten davon hätten dabei mit Scheitern und Vergehen zu tun und ließen damit Rückschlüsse darauf zu, wie die Geschichte konzeptionell funktioniert: "Zur Geschichte geordnet werden sie linear und quasi parallel zur historischen Chronologie." (Vogt 1990, S.111-114), Hervorh. d. Verf.) Diese fortschreitende Aneinanderreihung von Begebenheiten wird mit Lämmert (1995, S.83) als sukzessive Raffung bezeichnet, der darunter "eine in Richtung der erzählten Zeit fortschreitende Aufreihung von Begebenheiten" versteht, deren "Grundformel" "das 'Dann ...und dann ...' " darstellt. Da die Raffungsintensität in der Kalendergeschichte Hebels an dieser Stelle jedoch besonders hoch ist, spricht Jochen Vogt (1990, S.111-114) hier von Sprungraffung (im Gegensatz zur Schrittraffung).

Kombination von sukzessiver Raffung und iterativ-durativer Raffung
Die besondere Qualität der Zeitgestaltung mit dem Element der Raffung in Hebels Kalendergeschichte zeigt sich aber nach Vogt vor allem in der Kombination der beiden Raffungstechniken: sukzessiv und iterativ-durativ. Vogt demonstriert dies an dem nachfolgenden Beispiel, betont dabei, dass der Übergang sich innerhalb einer Dreiergruppe gleitend vollziehe: " 'Napoleon eroberte Preußen, und die Engländer bombardierten Kopenhagen, und die Ackerleute säeten und schnitten.' (Z 19f.) Nicht mehr herausragende Geschehnisse, sondern überdauernde Zustände bzw. regelmäßig wiederholte Tätigkeiten werden benannt: 'und die Ackerleute säeten und schnitten. Der Müller mahlte, und die Schmiede hämmerten, und die Bergleute gruben nach den Metalladern in ihrer unterirdischen Werkstatt.' (Z 20f.) Hier liegt eine iterativ-durative Raffung vor." Diese fasst nach Lämmert (1995, S.84) "einen mehr oder weniger großen Zeitraum durch Angabe einzelner, regelmäßig sich wiederholenden Begebenheiten (iterativ) oder allgemeiner, den ganzen Zeitraum überdauernder Gegebenheiten (durativ) zusammen. Beide Formen treten nicht selten eng verflochten auf und haben die gleiche Grundtendenz, ruhende Zuständlichkeit zu veranschaulichen; daher sind sie in einer Kategorie zusammengefasst. Ihre Grundformeln sind: 'Immer wieder in der Zeit … oder Die ganze Zeit hindurch …' "
Die Kombination der beiden Raffungsarten in der Kalendergeschichte Hebels zeigt nach Vogt (1990, S.111-114), dass das normale, alltägliche Leben neben den sich abspielenden, bedeutsamen historischen Ereignissen "seinen gleichbleibenden Gang" hat. Anders ausgedrückt: Privates Schicksal und die großen Staatsaktionen bleiben einerseits eingebunden in das System gesellschaftlicher Arbeit, das seinerseits eng mit der Natur, ihren Ressourcen und ihrem Zeitrhythmus verschränkt ist; andererseits, zumindest in Hebels Perspektive, eingebunden in die christliche Heilsordnung, die Zeit grundsätzlich aufzuheben vermag. Erzähltechnisch wird in dieser Raffung der Blickwinkel unmerklich wieder auf die beiden Brautleute und ihr Schicksal gerichtet. […] Hieran schließt sich dann bruchlos die Rückkehr auf den engen ursprünglichen Schauplatz und, mit ziemlich genauer Datierung, in die Sukzession der privaten Geschichte an: "im Jahre 1809, etwas vor oder nach Johannis" (Z 22)."
Die dritte Erzählphase, die aus den beiden Szenen nicht erwartetes Wiedersehen und dem Abschied "auf dem Kirchhof" (Z 43) besteht, wird in einem langsamen Erzähltempo, vergleichsweise breit, erzählt. Dabei zeigt sich, dass der Zeitenlauf auch biographisch Wirkung hat: Die "junge hübsche Braut" (Z 1f) erscheint darin "in der Gestalt des hingewelkten kraftlosen Alters" (Z 35f.) und der Tote zeigt sich vom Zeitenlauf unversehrt und weiterhin "in seiner jugendlichen Schöne". (Z 36)

Die Analyse der Zeitgestaltung, die Vogt vornimmt, zeigt, dass sie einen wesentlichen Schlüssel zum Verständnis des Textes bereithält. Erst über sie erschließt sich nämlich, was den Sinn der Geschichte ausmachen kann: Die Zeit und ihr unaufhaltsames Fortschreiten bestimmt alles Leben. Edgar Neis (1965, S.61ff.) sieht daher in Hebels Geschichte "ein Musterbeispiel dafür, wie es traditioneller Erzählkunst gelingt, die äußere und innere Zeit eines Menschenlebens zusammenzuraffen und als Einheit dem Leser sichtbar zu machen."
Auf diese Weise bringt die Geschichte "symbolhaft den ehernen Gang der Geschichte und zugleich die Flucht der Zeit und Vergänglichkeit des Seins zum Ausdruck". (Neis 1965, S.61ff.). Wie und zu welchem Ende hin dies gedeutet wird, liegt mehr denn je im Auge des Betrachters, d. h. ist von den Werten und Überzeugungen des Lesers abhängig. So mag es wohl sein, dass viele moderne Leser kaum noch etwas mit der "christlich verbürgte(n) Heilsgewissheit einer Ewigkeit jenseits der Zeit" (Vogt 1990, S.111-114), der Verheißung eines Lebens nach dem Tode anfangen können, die Lesern vor knapp zweihundert Jahren zur Einordnung des erzählten Geschehens wohl noch vor Augen stand, wenn er die Braut mit folgenden Worten von ihrem Geliebten Abschied nehmen sieht:" Ich habe nur noch wenig zu tun und komme bald, und bald wird's wieder Tag. Was die Erde einmal wiedergegeben hat, wird sie zweitenmal auch nicht behalten". (Z 44f.)Diese Andeutung auf ein Leben nach dem Tode hebt nach christlich-religiöser Deutung "das Geschehen aus dem Bereich des Irdischen, Vergänglichen ins Metaphysische", das im "Bewusstsein von einem außerzeitlichen Jenseits" (Nentwig 1962, S.30ff.) mündet.

Eine nicht von christlichen Überzeugungen geprägte Rezeption wird indessen die  "wahrhaft 'zeitlose' Treue der Braut" (Vogt 1990, S.111-114), eben nicht mehr als einen "weltliche(n) Reflex solcher Ewigkeit" auffassen, sondern wohl eher als eine im Individuum selbst liegende "subjektiv wirksame Überwindung der Zeit" (ebd.) Und der Sinn, den der einzelne angesichts dieser existenziellen Bedingung des Zeitenlaufs seinem Leben zu geben vermag, ist ein Konstrukt, auf das die knappe Erzählung hinweist. Sie lässt eine Vielzahl von Deutungen zu, die von der romantischen Vorstellung einer das ganze Leben überdauernden Liebe reicht bis hin zu einer auf Lebensgenuss im Hier und Jetzt ausgerichteten Lebenseinstellung. In jedem Fall muss die Hoffnung auf "ein anderes, verborgenes, überzeitliches Sein" (Rang 1961, S,289f.), das auf die von der kurzen Erzählung ausgehenden Mahnungen "memento mori wie memento vivere" (ebd.) Bezug nimmt, also keineswegs in christlicher Heilsgewissheit münden. Das Strömen und der Stillstand der Zeit und aller Zeitlichkeit (vgl. ebd.), das die Geschichte zum Thema macht,  entspricht ebenso gut dem Lebensgefühl des modernen Menschen, der den eschatologischen Daseinsbezug zu Gunsten eines und einzigen Lebens im Hier und Jetzt aufgegeben hat. Vielleicht, so lässt es sich wohl am ehesten sagen, "lebt denn in dieser unscheinbaren Geschichte das ganze Hell-Dunkel des Daseins: seine Lust und seine Wehmut, wie es vergeht und wie Treue das Vergängliche überwindet, wie es zwischen Endlichkeit und Ewigkeit als ein verschwindender Übergang schwebt." (Pfeiffer 1954, S.49)

*Die Zeilenangaben beziehen sich auf die als teachSam-OER-Dokument veröffentlichte Fassung, die als pdf-free-Dokument (CC-PD) heruntergeladen werden kann.

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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 08.02.2024

 
 

 
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Hebel, Unverhofftes Wiedersehen

 


Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 08.02.2024
 

 
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