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Fördert Nathan die Entwicklung anderer Figuren?
Auf
den ersten Blick mag der Eindruck entstehen, dass sich einige Figuren im
Drama unter dem Einfluss
Nathans und dem Beispiel, das er ihnen vorlebt,
weiterentwickeln würden.
Der Kontakt und die Kommunikation mit ihm, so eine
gängige Annahme, führe dazu, dass zumindest einige Figuren wie
Recha,
der
Tempelherr
oder gar
Saladin im Verlauf der Bühnenhandlung eine Entwicklung
nehmen würden, an deren Ende sie eine andere oder ein anderer sein würden.
Diese
Annahme liegt vor allem auch dann nahe, wenn
Korrespondenz-
und Kontrastrelationen der Figuren im
Rahmen der
Figurenkonstellation
des »Nathan« mit herangezogen werden.
Der Patriarch als Gegenmodell eines statischen Typus
Insbesondere der Patriarch, der als
eindimensional angelegter,
statischer
Typus des dogmatischen Fanatikers gestaltet ist, könnte den Schluss
nahelegen, dass andere Figuren, die in einer persönlichen Kommunikation
mit Nathan stehen, einen psycho-sozialen Entwicklungsprozess durchlaufen,
der eine Art Läuterung oder Umerziehung darstellt.
Das Beispiel Daja
Dass diese Annahmen nicht
zutreffen, nur eine Art optischer Täuschung darstellen, wie
Fick (2010,
S.504) betont, macht ein Blick auf die das Ganze Drama über gleichermaßen
bigotte und der Vernunft in Glaubensfragen gänzlich verschlossene
Daja
deutlich, die als Haushälterin Nathans nicht nur zur
ständigen sozialen Umgebung Nathans gehört, sondern oft ihrem "gesunden
Menschenverstand", wenn auch oft sehr einfältig, freien Lauf gewährt, wenn
es um Dinge geht, die ihren eigentlichen Horizont übersteigen. (vgl.
I,2
-
Nathan im Gespräch mit Recha und Daja über die
Rettung Rechas durch den Tempelherrn).
Das Beispiel Tempelherr
Auch der
Tempelherr zeigt sich bei genauerem Hinsehen "am Ende so edel und unedel wie
zu Beginn, er bleibt das ganze Stück hindurch der, als der er sich selbst
charakterisiert" (ebd.)
("Ich
bin ein junger Laffe /Der immer nur an beiden Enden schwärmt; /Bald viel zu
viel, bald viel zu wenig tut -" , V,5)
So weise der Tempelherr, wie
Fick (2010,
ebd.) fortfährt, Nathans
Ankündigung eines Bruders am Ende aus den gleichen Gründen zurück, mit
denen er Nathan anfangs zurückgewiesen habe: "deswegen, weil er ein Christ
ist und, wie der Tempelritter vor-verurteilend antizipiert, das
Erziehungswerk Nathans (das er selbst permanent missversteht) zerstören
wird; er hasst ihn dafür im Voraus (V,5);
Nathan gegenüber bleibt er (fast) bis zuletzt misstrauisch."
Das Beispiel Al-Hafi
Dass auch bei
Al-Hafi
, immerhin Nathans "Schachgesell"
(Daja, I,2), Nathans erzieherischer Einfluss an seine Grenzen stößt, weil er
dessen Entscheidung, alles hinzuwerfen und an den Ganges zu gehen, nicht
umstoßen kann, vielleicht auch gar nicht umstoßen will, ist ein weiteres
Beispiel für eine Figurenkonzeption, bei der "ein Schutzkreis der Einsamkeit
[...] um jede Figur gelegt [wird], in dem sie sich unabänderlich nur ihrer
eigenen Erkenntnis- und Liebesfähigkeit entsprechend entfalten darf." (ebd.,
S.508)
Darin liegt wohl auch der tiefere Grund dafür, dass Nathan seine
eigenen Vorbehalte gegenüber Al-Hafis Entscheidung zurückhält. Er weiß
nämlich genau, das dessen Weg zu "Selbstbestimmung und Identität nur durch
den Rückzug aus der Gesellschaft" möglich ist.
Und doch, so scheint es, liegen seine Sympathien
eher bei dem Weltflüchtling als dem sich auserwählt fühlenden Derwisch.
Insofern erscheint die Lebensform, die Al-Hafi lebt und anstrebt, auch in
den Augen Nathans - und wohl auch Lessings selbst (!) - "nicht einfach als
Fehlentwicklung", sondern unter Umständen als ultima ratio, als "ein
äußerstes Mittel die menschliche Bestimmung zu erfüllen." (Haaser
1999, S.50)
Die Beispiele Saladin und Sittah
Auch Saladin, und mit ihm Sittah, zeigen, dass
sie in dem hier vorgezeichneten Sinn gegenüber einer eindeutig in eine
"bessere" Richtung gehende psycho-soziale Entwicklung geradezu resistent
sind. Denn sie sind es, die unmittelbar nachdem sie Nathan mit der
Ringparabel "ihren Beifall gegeben, die nächste Intrige gegen Nathan
anzetteln und im Begriff stehen, ihm seine Tochter zu rauben, ihn von ihr zu
trennen - aus »Neubegier«, wie
Sittah
sagt". (IV,5) (Fick
2010, S.504)
Die Figuren im "Nathan" als gemischte Charaktere
So kommt nach
Fick (2010,
S.504) bei der Analyse der Figurenkonzeption des »Nathan« stets eine große
anthropologische Skepsis zum Vorschein, die sich darin zeigt, dass die
Figuren ihre Fehler immer wieder machen.
Auf diese Weise agieren sie als
gemischte Charaktere, in deren Denken und Handeln Fehler und Tugenden fast
unentwirrbar miteinander verschränkt bleiben, so dass sie mal
altruistischen, mal egoistischen Antrieben freien Lauf lassen können.
Die Begegnungen der verschiedenen Figuren mit Nathan
und dessen "Weisheit" setzen also
keinen Umerziehungsprozess in Gang, sondern nur
bringen zum Vorschein, was in ihnen in aller Widersprüchlichkeit verborgen
ist. So wird das Ganze auch dem
analytischen Drama in einer besonderen Weise gerecht,
weil man immer wieder etwas anderes an einer so facettenreich
gestalteten Figur entdecken kann.
Mehrdimensionalität bei Recha, dem Tempelherrn und Saladin
Einige
Figuren weisen wie Recha, der Tempelherr oder auch Saladin eine
Mehrdimensionalität auf, die jene beschriebene Dynamik zwischen den
verschiedenen Polen von Altruismus und Egoismus immer wieder sichtbar werden
lässt, auch wenn die Figurenkonzeption insgesamt eher
statisch bleibt.
Unter literaturdidaktischem Aspekt lässt sich die
Problematik der Figurenkonzeption wohl am besten mit den von
B.
Beckermann (1970) entwickelten drei ▪
WLT-Dimensionen
Weite,
Länge und
Tiefe
beschreiben, die sich auch in grafischer Form visualisieren lassen. So
können unterschiedliche Einschätzungen über die Konzeption der Figuren
Gegenstand der Auseinandersetzung werden. Dazu ist es allerdings nötig, die
Dimensionen mit auf den »Nathan« bezogenen Fragen zu konkretisieren.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
10.11.2020
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