Gotthold Ephraim Lessing
Eine Parabel
Ein weiser, tätiger König
eines großen, großen Reiches hatte in seiner Hauptstadt einen Palast von
ganz unermesslichem Umfange, von ganz besonderer Architektur.
Unermesslich war der
Umfang, weil er in selbem alle um sich versammelt hatte, die er als
Gehilfen oder Werkzeuge seiner Regierung brauchte.
Sonderbar war die
Architektur; denn sie stritt so ziemlich mit allen angenommenen Regeln;
aber sie gefiel doch und entsprach doch.
Sie gefiel vornehmlich
durch die Bewunderung, welche Einfalt und Größe erregen, wenn sie
Reichtum und Schmuck mehr zu verachten als zu entbehren scheinen.
Sie entsprach durch Dauer
und Bequemlichkeit. Der ganze Palast stand nach vielen, vielen Jahren
noch in eben der Reinlichkeit und Vollständigkeit da, mit welcher die
Baumeister die letzte Hand angelegt hatten; von außen ein wenig
unverständlich, von innen überall Licht und Zusammenhang.
Was Kenner von
Architektur sein wollte, ward besonders durch die Außenseiten
beleidiget, welche mit wenig hin und her zerstreuten, großen und
kleinen, runden und viereckten Fenstern unterbrochen waren, dafür aber
desto mehr Türen und Tore von mancherlei Form und Größe hatten.
Man begriff nicht, wie
durch so wenige Fenster in so viele Gemächer genugsames Licht kommen
könne. Denn dass die vornehmsten derselben ihr Licht von oben empfingen,
wollte den wenigsten zu Sinne.
Man begriff nicht, wozu
so viele und vielerlei Eingänge nötig wären, da ein großes Portal auf
jeder Seite ja wohl schicklicher wäre und eben die Dienste tun würde.
Denn dass durch die mehrern kleinen Eingänge ein jeder, der in den
Palast gerufen würde, auf dem kürzesten und unfehlbarsten Wege gerade
dahin gelangen solle, wo man seiner bedürfe, wollte den wenigsten zu
Sinne.
Und so entstand unter den
vermeinten Kennern mancherlei Streit, den gemeiniglich diejenigen am
hitzigsten führten, die von dem Innern des Palastes viel zu sehen die
wenigste Gelegenheit gehabt hatten.
Auch war da etwas, wovon
man bei dem ersten Anblicke geglaubt hätte, dass es den Streit notwendig
sehr leicht und kurz machen müsse, was ihn aber gerade am meisten
verwickelte, was ihm gerade zur hartnäckigsten Fortsetzung die reichste
Nahrung verschaffte. Man glaubte nämlich verschiedne alte Grundrisse zu
haben, die sich von den ersten Baumeistern des Palastes herschreiben
sollten, und diese Grundrisse fanden sich mit Worten und Zeichen
bemerkt, deren Sprache und Charakteristik so gut als verloren war.
Ein jeder erklärte sich
daher diese Worte und Zeichen nach eignem Gefallen. Ein jeder setzte
sich daher aus diesen alten Grundrissen einen beliebigen neuen zusammen,
für welchen neuen nicht selten dieser und jener sich so hinreißen ließ,
daß er nicht allein selbst darauf schwor, sondern auch andere darauf zu
schwören bald beredte, bald zwang.
Nur wenige sagten: »Was
gehen uns eure Grundrisse an? Dieser oder ein andrer, sie sind uns alle
gleich. Genug, dass wir jeden Augenblick erfahren, dass die gütigste
Weisheit den ganzen Palast erfüllet, und dass sich aus ihm nichts als
Schönheit und Ordnung und Wohlstand auf das ganze Land verbreitet. «
Sie kamen oft schlecht
an, diese wenigen! Denn wenn sie lachenden Muts manchmal einen von den
besondern Grundrissen ein wenig näher beleuchteten, so wurden sie von
denen, welche auf diesen Grundriss geschworen hatten, für Mordbrenner
des Palastes selbst ausgeschrien.
Aber sie kehrten sich
daran nicht und wurden gerade dadurch am geschicktesten, denjenigen
zugesellet zu werden, die innerhalb des Palastes arbeiteten und weder
Zeit noch Lust hatten, sich in Streitigkeiten zu mengen, die für sie
keine waren.
Einsmals, als der Streit
über die Grundrisse nicht sowohl beigelegt als eingeschlummert war, -
einstmals um Mitternacht erscholl plötzlich die Stimme der Wächter:
»Feuer! Feuer in dem Palaste.
Und was geschah? Da fuhr
jeder von seinem Lager auf, und jeder, als wäre das Feuer nicht in dem
Palaste, sondern in seinem eignen Hause, lief nach dem Kostbarsten, was
er zu haben glaubte nach seinem Grundrisse. »Lasst uns den nur retten!«
dachte jeder; »der Palast kann dort nicht eigentlicher verbrennen, als
er hier stehet!«
Und so lief ein jeder mit
seinem Grundrisse auf die Straße, wo, anstatt dem Palaste zu Hilfe zu
eilen, einer dem andern es vorher in seinem Grundrisse zeigen wollte, wo
der Palast vermutlich brenne. »Sieh, Nachbar! hier brennt er! Hier ist
dem Feuer am besten beizukommen.« - »Oder hier vielmehr, Nachbar, hier!
« - »Wo denkt ihr beide hin? Er brennt hier!« - »Was hätt' es für Not,
wenn er da brennte? Aber er brennt gewiss hier!« - »Lösch' ihn hier, wer
da will. Ich lösch' ihn hier nicht.« - »Und ich hier nicht!« - »Und ich
hier nicht!«
Über diese geschäftigen
Zänker hätte er denn auch wirklich abbrennen können, der Palast, wenn er
gebrannt hätte. - Aber die erschrocknen Wächter hatten ein Nordlicht für
eine Feuersbrunst gehalten.
Dieses Werk (Die
Parabel, von Gotthold Ephraim Lessing), das durch
Gert Egle gekennzeichnet wurde, unterliegt keinen bekannten urheberrechtlichen Beschränkungen.
(aus: Deutsche Parabel, hg. v. Josef
Billen 1982 /2007; S.10-12, )