Informationen über das dramatische Geschehen insgesamt und
die Ereignisfolge verlaufen nicht im Gleichschritt.
Was Figuren und/oder die Zuschauer über die Gesamtentwicklung
des dramatischen Geschehens wissen, hängt von ihrer
epistemologischen Position ab, mithin von dem Grad ihres
Wissens über den künftigen Ereignisverlauf und von ihren jeweiligen
Wahrnehmungsperspektiven.
Am Anfang eines Dramas unterscheiden sich die
epistemologische Positionen von Figuren und Zuschauer auf der
Ebene des linear-sequenziellen Textsubstrats im Allgemeinen
erheblich. Die Diskrepanz, die zwischen der Informiertheit der
dramatischen Figuren besteht und der Informiertheit des Lesers
bzw. Zuschauers ist zu Beginn besonders hoch.
Die auftretenden Figuren handeln schließlich von
Anfang an und "wissen" insofern auch darüber Bescheid. Sie
bringen ihr Vorwissen aus der Vorgeschichte nämlich mit ins
Spiel, das sie erst nach und nach im Verlauf der weiteren
Handlung preisgeben (Pfister
1977, S.80). Dieses Wissen verändert und erweitert sich im
Textablauf durch Kommunikation mit anderen Figuren und durch
ihre Interaktionen mit ihrer Umwelt. Da die epistemologische
Position der Figuren sich dabei voneinander unterscheidet, führt
die diskrepante Informiertheit der Figuren auch dazu, dass sie
die ein- und dieselbe Situation ganz anders beurteilen. (vgl.
ebd.,
S.81)
Der
Leser bzw. Zuschauer muss seine Informationen darüber aber erst aus dem
weiteren Text oder im Verlauf einer ▪
plurimedialen Inszenierung aus den
verschiedenen ▪ Codes und Kanälen der Informationsvergabe gewinnen und hinkt insofern eine
Weile hinter dem Informationsstand der Figuren hinterher.
Wie
bei der Informiertheit der Figuren lässt sich auch beim
Rezipienten eines Dramas mehr oder weniger genau angeben,
worüber und wie genau sie über einen Sachverhalt, eine
Situation, ein in der Vorgeschichte oder in der Zukunft der
dramatischen Handlung liegendes Ereignis informiert sind.
Die
epistemologische Position des Lesers bzw. Zuschauers verändert und verbessert sich indessen
im Verlauf der ▪
Exposition, in der Regel im 1.Akt eines
▪ Dramas
der geschlossenen Form z.B., zusehends und schon nach dem ersten
Konfigurationswechsel weiß er schon mehr als die Figur, die nach
ihrem Abgang nicht mehr dazu gehört. So kann das Publikum, "die
jeweils nur partielle Informiertheit der einzelnen Figuren (...)
summieren und miteinander korrelieren." (ebd.,
S.81) Andererseits kann es sich dabei auch nicht darauf
verlassen, dass das Wissen, das ihm dadurch an einem bestimmten
Punkt zuteil wird, auch das tatsächlich verfügbare dramatische
Wissen repräsentiert. Schließlich müssen die Figuren ja nicht
mit allem sogleich herausrücken, was sie weiß. Tun sie es,
entsteht in der Summe der Informationen, die der Zuschauer von
ihnen erhält, ein Informationsvorsprung, andernfalls gerät der
Rezipient in einen Informationsrückstand gegenüber den Figuren.
(vgl.
ebd., S.81).
Der Informationsrückstand
, der als Struktur im Drama eher seltener und auch in Dramen der
analytischen Form nicht durchgehend sein muss, basiert dabei vor
allem auf zwei Techniken (vgl.
ebd., S.85):
-
Eine
dramatische Figur tritt nur im Dialog mit anderen in
Erscheinung, in dem sie aus unterschiedlichen Gründen
bestimmte Informationen hinterm Berg hält und verschweigt.
-
Der
gleichzeitige Verzicht auf monologisches Sprechen, wie dies
im naturalistischen Drama mit seinem an der
außerliterarischen Realität orientierten Darstellungsstil
geschieht, ist dazu die folgerichtige Ergänzung dieser
"Informationslücken", wenngleich auch eine Figur im Monolog
nicht unbedingt solche Informationen geben muss.
Daraus und nicht nur dadurch entsteht also ein
ein handlungsübergreifender (diachchroner) Wissensunterschied
zwischen dem Publikum und den Figuren (vgl.
Asmuth
62004, S. 114)