Wenn man sich bei
der moralischen Argumentation auf Moral- und Wertvorstellungen sowie
Normen der Gesellschaft beruft, kann dies im Rückgriff auf bestimmte
grundlegende moralische Prinzipien erfolgen.
Die
Moralphilosophie hat im Hinblick auf die
Grundfrage moralischen Argumentierens Unter welchen Umständen
ist eine Handlung moralisch richtig oder falsch? verschiedene
Antworten gegeben.
Dabei zielt sie
darauf,
Eine der Antworten
auf die oben dargestellte Grundfrage
lautet z. B.: "Eine Handlung ist dann und nur dann richtig, wenn
(und weil) die Handlung das Wohlbefinden derjenigen Individuen nicht
beeinträchtigt, die von der Handlung wahrscheinlich betroffen sind (Timmons
2013)." (zit. n.
Möhring 2021,
S.71).
Folgt man diesem
moralischen Prinzip, kann man aber ganz unterschiedliche Handlungen
rechtfertigen. So lässt im Rückgriff darauf "argumentieren, dass die
Benachteiligung von Menschen mit Behinderung aufgrund ihres Merkmals
moralisch falsch ist, da hierdurch das Wohlbefinden der Betroffenen
beeinträchtigt wird. Andererseits könnte man aus der Perspektive
arbeitgebender Personen aber auch argumentieren, dass durch die
Einstellung einer Person mit Behinderung gegebenenfalls das
Wohlbefinden von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern oder Kundinnen
und Kunden beeinträchtigt werden könnte." (Möhring
2021, S.70f.)
Basis der
moralischen Argumentation sind dabei grundlegende
Konzepte über das Richtige, das Gute und die Tugend, die als
Kategorien auch im Zentrum der Moralphilosophie stehen.
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Einen Ansatz, der
sich mit den Grundlagen/Fundamenten befasst, auf die sich unsere
moralischen Entscheidungen gründen, stellt die von
Haidt/Joseph (2004) entwickelte
Theorie der moralischen
Fundamente (»Moral
foundations theory) dar.
Sie geht von der
Annahme aus, dass wir menschliches Denken und menschliche
Verhaltensweisen mit Hilfe einer angeborenen, evolutionär bedingten
Fähigkeit entweder befürworten oder missbilligen und – dies ist in
unserem Zusammenhang besonders wichtig –, dass wir unsere
moralischen Urteile vor allem intuitiv treffen und erst danach
darangehen, sie u. U. rational zu begründen.
Dabei ist die Form
der Rationalisierung aber kein
▪
Abwehrmechanismus,
sondern ein emotions- und kognitionspsychologisches Phänomen. Bei
moralischen Urteilen stützen wir uns dabei kulturübergreifend auf
eine mehr oder weniger große Zahl moralischer Intuitionen, die dazu
dienen, dass das gesellschaftliche Zusammenleben von Menschen auf
die Dauer gesehen funktioniert.
Die moralischen
Intuitionen sind dabei mit bestimmten affektiven Reaktionen
verbunden. Sie sorgen gemeinsam für eine schnelle, quasi automatisch
zustande kommende Bewertung eines (sozialen) Reizes und dafür,
eine dazu passende Handlungsbereitschaft auszulösen.
Mit unseren
(rationalen) Argumenten legen wir uns diese schon intuitiv
getroffene, moralisch fundierte Entscheidung erst im Nachhinein
rational zurecht und versuchen, sie damit auch "vernünftig" zu
rechtfertigen (Social
Intuitionist Model, vgl.
Haidt 2001)
Anders
als andere Konzepte der Moraltheorie, die Moral mehr oder weniger
eindimensional konzipieren (moral monism), geht der Ansatz der
moralischen Fundamente von einem mehrdimensionalen Moralkonzept (moral
pluralism) aus.
Dieses will
aufzeigen, wie sechs (ggf. auch mehr) moralische Fundamente stets
eine besondere, auf Emotionen beruhende Handlungsbereitschaft
erzeugen (z. B. »prosoziales
oder antisoziales Verhalten) und diese zugleich mit entsprechenden
moralischen Prinzipien (z. B. Fürsorge, kein Schaden anderer)
verknüpfen.
Um unser Handeln
auf moralische Fundamente zu gründen und uns daran orientieren zu
können, präferieren wir intuitiv bestimmte Fundamente, die
dementsprechend auch unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Dies
zeigt sich z. B. besonders deutlich Kommunikationsbereich der
Politik, aber auch bei
geschlechtsspezifischen Präferenzen.
So hat man im
Zusammenhang mit den »Präsidentschaftswahlen
2016 in den USA, die eine deutliche Spaltung der amerikanischen
Gesellschaft dokumentierten, festgestellt, dass Konservative, wenn
es um moralische Fragen im politischen und gesellschaftlichen Leben
geht, ihre intuitiven Entscheidungen auf Loyalität (z. B.
Patriotismus und Nationalismus) und Autorität (z. B. Recht
und Ordnung, Respekt vor Eltern und der Polizei) und Reinheit
(z. B. religiöse und traditionelle Beschränkungen der Sexualität und
des Drogenkonsums; Wahrnehmung des moralischen Verfalls im
Allgemeinen) gründen (vgl.
Graham u. a. 2018).
Natürlich ist auch
Europa vor solchen Entwicklungen nicht gefeit. Und auch in
Deutschland gibt es im Bereich des Rechtspopulismus politische
Bewegungen, deren Moral ganz ausdrücklich auf den Grundsätzen von
Loyalität, Autorität und Reinheit basiert. Solche Bewegungen "tragen
das Etikett 'Nationalismus'; einige von ihnen vertreten sogar eine
'Blut und Boden'-Version des Nationalismus, die oft mit Theorien der
Rassenüberlegenheit verbunden ist (Graham & Haidt, 2012). In jedem
westlichen Land mit einer populistischen Rebellion sind die Menschen
wütend auf die 'globalistische' oder 'kosmopolitische 'Elite und
ihre Moral, die (für die Nationalisten) in erster Linie auf dem
Care-Fundament zu basieren scheint." (vgl.
Graham u. a. 2018, übersetzt mit Google Translater).
Auf diese Weise
verstärkt sich die Spaltung der Gesellschaft in Lager: Die
Mitglieder der jeweiligen Lager werden damit bis bis zu einem
gewissen Grad blind für eine oder mehrere der moralischen Grundlagen
der anderen. Dabei ist dieses Phänomen, das auch im Zusammenhang der
Untersuchung des
▪ Meine-Seite-Denken (Myside-Bias)
untersucht wurde, ▪
weder von der Intelligenz noch von der Bildung abhängig und hat
auch nichts damit zu tun, welchen anderen Vorurteilen und
Voreingenommenheiten man sonst noch folgt.
(vgl. Stanovich
2020) Und:
Stanovich
(2020a) betont auch, "dass die Myside-Verzerrung tatsächlich dem
Fall der moralischen Argumentation mehr ähnelt als anderen
▪
Verzerrungen".
Auch hinsichtlich der
Geschlechter hat sich gezeigt, dass Männer und Frauen sich auf
unterschiedliche moralische Fundamente stellen, wenn sie ihre
intuitiven Entscheidungen fällen. So zeigte eine interkulturelle
Studie mit Frauen aus 67 verschiedenen Kulturen durchweg bessere
Ergebnisse in Bezug auf Fürsorge, Fairness und
Reinheit bei den weiblichen Probanden. Allerdings zeigte sich
aber auch, dass es bei Loyalität und Autorität
vernachlässigbare Geschlechtsunterschiede gibt, die zudem noch von
Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich sind. (vgl.
en.Wikipedia.org)
Wenn wir im Alltag
moralisch argumentieren, tun wir dies meist also, ohne dass uns die
moralischen Prinzipien, nach denen wir handeln, unmittelbar bewusst
sind. Wenn wir z. B. sehen, dass ein Mensch von mehreren Personen ▪
gemobbt
wird, müssen wir nicht auf ein theoretisches moralisches Konzept
zurückgreifen, das uns sagt, dass dieses Verhalten nicht richtig
ist. Und den meisten ist klar, dass man etwas dagegen unternehmen
muss, auch wenn wir uns aus verschiedenen Gründen manchmal nicht
trauen, unmittelbar einzugreifen. (Frey/Schmalzried
2013)
Wir folgen dabei
intuitiv jenen Überzeugungen, die wir aufgrund unserer genetischen
Dispositionen und durch unser soziales Lernen im Verlauf unseres
Lebens herausgebildet haben, ohne dass diese Überzeugungen in einer
solchen Situation kognitiv erst abgerufen und mit den situativen
Faktoren abgeglichen werden müssen. Auch wenn es ein individuelles
Repertoire solcher Überzeugungen gibt, ist die Alltagsmoral, der wir
als Individuen folgen, im Allgemeinen der Alltagsmoral der anderen
Mitglieder einer Kultur relativ ähnlich, so dass in gewisser Weise
von einer Alltagsmoral
der Gesellschaft gesprochen werden kann. (Frey/Schmalzried
2013, vgl. (Möhring
2021, S.70f., Hervorh. d. Verf.)
Natürlich gibt es
aber auch Situationen, in denen diese Alltagsmoral uns keine
befriedigende Handlungsorientierung gibt. Wenn wir uns einer
Zwickmühle befinden oder mittendrin in
einem moralischen Dilemma
stehen, vermag, denen die dies können, der Rückgriff bzw. die
Auseinandersetzung mit philosophischen Moraltheorien unter Umständen
helfen, unterschiedliche Grundüberzeugungen gegeneinander abzuwägen
und zu gewichten, um das Dilemma aufzulösen.
Aber auch für
Fälle, wo unsere alltagsmoralische Intuition versagt, weil wir mit
etwas gänzlich, dazu vielleicht sehr komplexem Neuem konfrontiert
werden, können rationale Überlegungen im Zusammenhang mit
ausgearbeiteten moralphilosophischen Konzepten u. U. helfen, sich
über richtiges und falsches Verhalten oder das Gute klar zu werden.
Ob es also z. B.
richtig ist, als Mitwisser der Untreue eines engen Freundes,
gegenüber dessen Lebensgefährtin dicht zu halten, um damit zu
verhindern, dass diese, wenn sie es erfährt, darunter leiden würde,
oder einfach, aus Prinzip, dem pflichtethischen (deontischen)
Anspruch auf Ehrlichkeit zu folgen, ist eben nicht einfach zu
entscheiden.
Für derartige
ethische Alltagsfragen, die
einen immer wieder in ein moralisches Dilemma führen können, gibt es
viele Beispiele. »Jay
L. Garfield (geb. 1955) hat eine ganze Reihe solcher
Alltagsfragen ethisch erörtert, die von dem Online-Magazin für Ethik
und Achtsamkeit »Netzwerk
Ethik heute zusammengestellt werden, darunter z. B.:
-
Ist es okay, Texte von ChatGPT zu nutzen?
-
Soll man Bettlern etwas geben?
-
Gibt es Gründe, Kindern nicht die Wahrheit zu sagen?
-
Ist der Konsum von Pornografie unmoralisch?
-
Wie tolerant müssen wir gegenüber anderen Meinungen sein?
-
Ist es eine moralisch verwerfliche Täuschung, wenn man
"geschönte" Fotos von sich auf Instagram postet?
-
Darf man zusammen mit Rechtsextremen demonstrieren?
-
"Ich kann Verantwortung für Menschen in meinem Umfeld
übernehmen, aber für leidende Menschen, die ich gar nicht kenne
und die weit weg sind?”
-
"Wir im Westen müssen ärmer werden, denn es ist unmoralisch, so
viel zu besitzen, während andere arm sind." – Stimmt das?
-
Sollen homosexuelle Paare Kinder haben?
-
Dürfen wir in Länder reisen, in denen die Bevölkerung von der
Regierung unterdrückt wird?
-
Manchmal checke ich stündlich die Nachrichten, aber ich
unternehme nichts. Was nützt es eigentlich, die Ereignisse auf
der Welt zu verfolgen?
-
Wie begegne ich einem Menschen, der zum Beispiel
ausländerfeindliche oder sexistische Positionen vertritt?
-
Bin ich Teil der weltweiten Ausbeutung?