Auch heute werden wieder 40000 Kinder sterben - alle zwei Sekunden eines.
Als kleine Skelette mit faltig-alten Gesichtern werden sie irgendwann im
Laufe dieses Tages aufhören zu leben. Alle 24 Stunden entsteht so,
verteilt über die Länder der so genannten Dritten Welt, ein Berg von 40000
verschrumpelten Kinderleichen.
Furchtbar? Viel schlimmer: Wenn diese Kinder nicht stürben, wenn sie nicht
in den Armen ihrer Mütter verhungerten, die selbst nicht mehr die Kraft
haben, ihrer Trauer Ausdruck zu verleihen, wenn sie etwa überlebten und
gar erwachsen würden, um selbst Kinder zu haben, dann wäre die Katastrophe
noch weitaus größer. Es mag zynisch klingen, dass ihr vieltausendfacher
lautloser Tod die Erde vor einer Situation bewahrt, die alles heutige
Sterben bei weitem überträfe. Nur, es ist die logische Konsequenz aus der
irrationalen Ungleichung, dem Geburtenüberschuss aus der Dritten Welt
durch Geburtenkontrolle nicht vorzubeugen aus der heuchlerischen Achtung
vor dem Leben, das - erst einmal geboren - am Leben nicht erhalten werden
kann. [...]
Wer nicht zu feige ist, zu sehen, kommt an der Einsicht nicht vorbei, dass
jeder, der sich darauf beschränkt, die heute hungernden Kinder zu
sättigen, statt dem unvermeidlichen Sterben durch Geburtenkontrolle
vorzubeugen, unmittelbar und ursächlich dazu beiträgt, die Leichenberge,
denen sich die morgige Generation gegenübersehen wird, auf noch höhere
Höhen anwachsen zu lassen.
Warum ist es eigentlich so schwer, dieser simplen Erkenntnis zu
allgemeiner Anerkennung zu verhelfen? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil
sie einhergeht mit dem Eingeständnis eines unrühmlichen Selbstbetrugs.
Der gleiche Augenblick, in dem ich mir über die mörderische Konsequenz des
Mitleids klar werde,[...] verschafft mir auch die peinliche Entdeckung,
dass die Hilfsbereitschaft, welche die bewussten Anzeigen in mir
mobilisieren, gar nicht dem hungernden Kind gilt, sondern in Wahrheit mir
selbst, nämlich meinem eigenen Seelenfrieden. Einzig und allein zur
Besänftigung des eigenen Gewissens kann ein "Mitleid" taugen, das objektiv
nur dazu beiträgt, das Elend der Menschen, denen es angeblich dient, in
Zukunft entsetzlich zu vermehren. Jede andere Behauptung wäre unfrommer
Selbstbetrug oder pure Heuchelei. [...]
Anlass zur Empörung ist die Tatsache, dass die üblichen Aktivitäten der
kirchlichen, weltlichen und kommerziellen Hilfsorganisationen gedankenlos
und damit schuldhaft jener moralischen Drückebergerei Vorschub leisten, in
der befangen wir uns nur allzu willig einreden lassen, dass eine kleine
Spende dann und wann uns von der Schuld befreien könnte, die wir
angesichts des Massensterbens außerhalb der Wohlstandsgrenzen haben.
Noch aus einem zweiten Grunde sind daher alle diese "Brot-für-die-Welt"-
und Patenschaftskampagnen kritikwürdig: Dadurch, dass sie uns die begierig
ergriffene Gelegenheit verschaffen, unser Gewissen zu betäuben, beseitigen
sie den psychologischen Druck, der allein uns dazu bewegen könnte, über
sinnvolle, ursächlich wirksame Methoden zur Beendigung des Massensterbens
nachzudenken. [...]
Gerade dann, wenn man davon überzeugt ist, dass die christlichen Kirchen
ein Erbe bewahren, ohne das diese Welt noch unerträglicher wäre, gerade
dann gerät die Verbitterung um so größer, wenn man sich vor Augen hält,
wie tief auch sie in diese Komplizenschaft wechselseitiger
Gewissenssalvierung verstrickt sind. Dies gilt, wie nicht bestritten
werden kann, vor allem für die katholische Kirche. Was soll man von einer
Instanz halten, die uns zur Rettung verhungernder Kinder aufruft, während
sie gleichzeitig mit dem ganzen Gewicht ihres weltweiten Ansehens dazu
beiträgt, die Zahl dieser Kinder über jedes rettbare Maß hinaus zu
vergrößern?
Was ist von einer Moral einer sich moralisch verstehenden
Institution zu halten, die offensichtlich das Nicht-Geborenwerden für ein
entschieden größeres Übel hält als die Unerfreulichkeit, an Unterernährung
zu verrecken? Hier wird, wohlgemerkt, nicht etwa auf Abtreibungslösungen
angespielt, sondern allein auf die Möglichkeiten der Empfängnisverhütung
(ein Zusatz, der schon deshalb notwendig erscheint, weil die Kirche in der
Diskussion beides ärgerlicherweise ständig zu vermengen trachtet.) [...]
Vom Himmel wird die Rettung nicht fallen - wenn es noch eine gibt. Eine
ungeheure gemeinsame Anstrengung wäre vonnöten. Warum rafft sich niemand
zu ihr auf?
Zu den Faktoren, die diese feige Verdrängungsleistung begünstigen, gehören
jene Anzeigen mit den Bildern abgemagerter und verhungernder Kinder.
Selbstverständlich sind wir moralisch verpflichtet, den Hungertod auch
durch Spenden zu bekämpfen. Wer der Suggestion dieser Anzeigen jedoch in
der Weise erliegt, dass er sich einreden lässt, er könne mit einer bloßen
Spende davonkommen, der verstrickt sich erst endgültig in Schuld.
(aus: »Der Spiegel 33/1984,
gekürzt)
AUTORINFORMATION
»Hoimar
von Ditfurth (vgl. auch:
http://hoimar-von-ditfurth.de)
15.10.1921 (Berlin) - 1.11.89 (Freiburg), dt. Mediziner und
Wissenschaftsjournalist; Fernsehmoderator der populärwissenschaftlichen
ZDF-Reihe "Querschnitt" (71-83); ab 1968: Prof. für Psychiatrie und
Neurologie; seit etwa Ende der 70er Jahre wird D. ein radikaler Kritiker
der im Westen verbreiten Fortschrittsgläubigkeit; Entwicklung
kulturpessimistischer Auffassungen, wonach der Untergang der Menschheit
durch Umweltzerstörung, Überbevölkerung und atomare Aufrüstung besiegelt
sei; Werke u. a.: Wir sind nicht von dieser Welt (1981), So lasst uns denn
ein Apfelbäumchen pflanzen - es ist soweit (1985), Innenansichten eines
Artgenossen (1989); trotz seiner düster-pessimistischen Prognosen verlor
D. nicht grundsätzlich die Hoffung auf Besserung, für die er mit großem
Engagement eingetreten ist.
docx-Download –
pdf-Download
▪
Bausteine
▪
Arbeitsanregungen zur Textarbeit
▪
Parallelkonspekt zur Texterfassung
▪
Logische Struktur des Hauptarguments
▪
Aussagenliste
▪
Das Thema des Textes
bestimmen
▪
Die Beschreibung des Gedankengangs: Aus Schüleraufsätzen
▪
Strukturierte Textwiedergabe - Schülerbeispiel
▪
Strukturierte Textwiedergabe - Musterlösung
▪
Textauswahl
kommentierender Leserbrief
▪
Textauswahl
Texterörterung