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Bausteine
Auf der Suche nach einem gelungenen Muster
Schülerinnen und Schüler, die Schreibaufgaben bewältigen sollen,
gehen heute ins Internet und machen sich auf die Suche nach
"Musteraufsätzen", die ihnen vorführen, wie ein gelungenes
Schreibprodukt aussehen sollte.
Doch beileibe nicht alles, was sich als Musteraufsatz präsentiert, ist ein
mustergültiges Beispiel. Das zu erkennen ist oft nicht einfach und
deshalb gilt es, die nötigen Kompetenzen zu erwerben, die man dafür
braucht, um Brauchbares von Unbrauchbarem, Falschem und Richtigem
usw. zu unterscheiden.
Was bei der Analyse von schriftlichen Texten noch vergleichsweise
leicht geht, weil man sich mit einem Text, der einem vor Augen
liegt, auseinandersetzen kann, ist dies bei den unzähligen
sogenannten Lernvideos im Internet nicht so ohne weiteres möglich,
da das gesprochene Wort "flüchtig" ist.
Blick ins Internet: Ein Beispiel
Auf der Webseite schulwissen.de wird eine
Interpretation der Parabel "Gibs auf" von Werner Stoll
präsentiert, die alles andere als ein rundum gelungenes Beispiel
einer Textinterpretation angesehen werden kann.
Die Internetgemeinde ist sich darüber allerdings nicht einig. Die
Kommentare, die dazu abgegeben worden sind, schwanken zwischen
Extremen:
-
"wunderbar...>>>gute Interpretation.."
-
"sehr gute
interpretation nur die interpretation mt dem aufgeben versteh
ich nicht ganz. aber das ist ja bei jedem individuell"
-
"schlechte
interpretation"
-
"Super text ich
freue mich das lesen zu dürfen !!!!! Ganz große KLasse das nenne
ich eine gelungende Interpretation !!! Top ich bin autor und
würde mich gerne mal mit ihnen treeffen und mit ihnen über ihren
schreibstil sprechen"
(Quelle:
ebd.)
Warum ist das Beispiel keine gelungene Interpretation?
Es soll an dieser Stelle kein vollständiges "Gutachten" zu dem
Schreibprodukt gegeben werden. Ein paar knapp kommentierte Auszüge
aus dem Text sollen allerdings verdeutlichen, warum die
Interpretation alles andere als gelungen ist.
Zugleich ist die Kommentierung mit dem Appell verbunden,
Internetangebote dieser Art sehr kritisch zu betrachten und dafür
auch in der Auseinandersetzung mit solchen Beispielen die nötige
Medienkompetenz zu entwickeln, auf deren Grundlage man ein
begründetes Urteil über die Qualität solcher "Musteraufsätze" fällen
kann. Dazu gehört auch die Einsicht, dass es den
Webseiten-Betreibern dabei oft mehr um ihre Werbeeinahmen geht, als
um die Qualität ihres Angebots. Manchmal sogar machen sie dabei aus
der "Not" von Schülerinnen und Schülern, noch eine Tugend, indem sie
diese in ihren eigenen Schwächen bestärken.
Nehmen wir also den "Musteraufsatz" etwas genauer unter die Lupe
-
"Die Parabel
ist einsträngig aufgebaut, wodurch sie allgemein zugänglich ist
und der Fokus auf der Hauptfigur und deren Taten liegt. Durch
den zusammenhängenden Text ohne Sprünge wird die Parabel
lückenlos und leicht verständlich wiedergegeben. Die Parabel
wird von einen Ich-Erzähler erzählt. Dies ermöglicht dem Leser,
sich in die Handlungen und Gedanken der Person
hineinzuversetzen. Der normalsprachliche Stil spricht viele
Lesergruppen an."
Kommentar:
Die Beschreibung der Textstruktur als einsträngig macht allein
schon wenig Sinn, die Behauptung, dass die doch zumindest
merkwürdige Parabel deshalb "allgemein zugänglich" (was soll das
im Übrigen heißen?) sei, ist, man verzeihe, einfach
"Geschwafel".
Der Satz und dessen Inhalt "Durch den zusammenhängenden Text
ohne Sprünge wird die Parabel lückenlos und leicht verständlich
wiedergegeben." geht vollständig daneben. Dass ein Text keine
"Sprünge" hat, wirkt bestenfalls komisch, ist aber sowohl
inhaltlich Unsinn, als auch zur Beschreibung der äußeren Gestalt
des Textes (Sind vielleicht Absätze gemeint, die den als
Fließtext
daherkommenden Text gliedern könnten?) oder der
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Erzählstrukturen (Soll damit ausgedrückt werden, dass der
Ich-Erzähler das Geschehen in chronologischer
▪
Reihenfolge linear ohne größere zeitlichen Aussparungen
erzählt?)
Was, um Himmels willen, soll eigentlich heißen, die Parabel sei
"lückenlos"? Wer oder was "gibt" den Text dazu noch
"verständlich" "wieder". - Kurzum: Alles inhaltlich und
sprachlich falsche und in die Irre führende Formulierungen, die
unterstreichen, dass der Verfasser des "Musteraufsatzes" von den
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Strukturen epischer Prosa so gut wie keine Ahnung hat.
Die Bemerkung "Die Parabel wird von einem Ich-Erzähler erzählt."
ist schlicht falsch: Der Ich-Erzähler erzählt keine
Textsorte,
sondern das Geschehen. Im Übrigen bleibt in diesem zur Schau
gestellten Musteraufsatz, der wohl hauptsächlich dazu dient,
Pop-up-Werbebanner zu öffnen, vollkommen unerwähnt, was den Text
überhaupt zu einem
Prototyp einer
▪ Parabel
macht.
- "Franz Kafka beschreibt die Straßen als `'rein' und
'leer' (Zeile 1)."
Falsch: Der Ich-Erzähler (Autor ≠ Erzähler) beschreibt etwas. Es
muss hier stets "Erzähler" und nicht "Autor" bzw. der "Name des
Autors" heißen, da beide Begriffe etwas ganz anderes bedeuten.
Der Autor ist nämlich der sprachliche Schöpfer des Gesamtwerkes,
während der Erzähler im Allgemeinen eine vom Autor geschaffene
Figur bzw. Instanz ist, die die eigentliche Geschichte aus ihrer
Perspektive und dem davon abhängigen Wissen über das Ganze
erzählte Geschehen erzählt. Kardinalfehler!
Im Übrigen ist der Übergang zur eigentlichen Textanalyse mehr
als "holprig". Während der Autor der Interpretation ansonsten
bei Überleitungen schon mal gerne schwadroniert ( z. B. "Aufgrund
der dargelegten Untersuchungsergebnisse gehe ich davon aus,..."
oder "Die in der Gesamtinterpretation ermittelten Tatsachen
und Aspekte bestätigen meine Deutungshypothese, ..." legt er
einfach los, ohne die Ausgangssituation zu erfassen.
(Tatsachen?)
- "Der erste Satz der Parabel ist sehr kurz, wobei die Lage
noch ruhig und entspannt ist. Der zweite Satz hingegen streckt
sich über vier Zeilen. In diesem Satz verbreitet die Hauptperson
Panik. Durch die Aneinanderreihung von vielen Sätzen im zweiten
Satz wird die Orientierungslosigkeit der Person deutlich."
Die sprachliche Analyse ist nicht nur oberflächlich, sondern
auch völlig unbrauchbar. Der Autor verfügt auch hier über keine
hinreichenden grammatikalischen Kenntnisse, mit denen er die "Sätze"
bezeichnen und beschreiben könnte, noch hat er die geringste
Ahnung von
rhetorischen Mitteln. "In diesem Satz verbreitet die
Hauptperson Panik." Klingt vielleicht "cool", ist aber
inhaltlich weder belegt, noch ein angemessener Sprachstil. Auch
der Gedanke, die überwiegend
asyndetische
Reihung von Hauptsätzen in einem Gesamtsatz, drücke
Orientierungslosigkeit aus, hängt völlig in der Luft. Im Übrigen
wird auch der Gedanke bei der Deutungshypothese, es handle sich
im übertragenen Sinne um "um einen gescheiterten Neuanfang"
nicht wirklich aufgegriffen.
- "Aufgrund der dargelegten Untersuchungsergebnisse gehe
ich davon aus, dass es sich hierbei um einen gescheiterten
Neuanfang einer Person handelt."
Seltsam
eigentlich, dass bis zu diesem Punkt keinerlei
"Untersuchungsergebnisse" aufgeführt worden sind, die eine
solche Übertragung der Elemente des Bildbereichs in einen
analogen Sachbereich nahelegen könnten. Ob der Ansatz, die
Parabel als Geschichte eines gescheiterten Neuanfangs zu deuten,
der Parabel selbst gerecht wird, soll nicht beurteilt werden,
wenngleich die Lehre, die die Parabel vermitteln soll, das Ganze
auf eine allgemeine Lebensweisheit einkocht, wenn der Autor am
Ende betont, die Parabel zeige, "dass ohne eine gute
Vorbereitung jeder Neuanfang scheitern muss." - "
Ein Fazit nach den Mustern: "Aller Anfang ist schwer!" oder
"Vertraue auf deine eigene Kraft!" oder "Wer an sich glaubt,
kann alles erreichen." ist zwar möglich, das zeigt das Beispiel.
Dennoch wird man das Gefühl nie los - und hier sind natürlich
auch Kenntnisse über
Franz
Kafka als Person und seine Werke, insbesondere seine
Kurzprosa nötig -, dass eine so "rundgemachte" Deutung dem Text
und seinem Autor nicht wirklich gerecht wird, insbesondere wenn
man sie auf der Folie einer Äußerung von Friedrich Beißner
sieht, der betont, dass »Kafkas durchgehendes Thema, die
misslingende Ankunft oder das verfehlte Ziel" sei, das "aus der
Grunder-fahrung einer auswegslosen Einsamkeit (resultiert")
(Friedrich Beißner, Kafka der Dichter 1983)
Aber wohl
gemerkt: Die Zweifel an dem Deutungsansatz sind nicht Grundlage
der Beurteilung dieses in vielen Bereichen ganz und gar
verunglückten "Musteraufsatzes"
Trotzdem das
Gesamtfazit: "Finger weg!" und "Ab in den Papierkorb!
So wurde es auf
der Webseite von schulwissen.de gepostet:
Der Post
wartet auf Freischaltung!!
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Bausteine
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.10.2024
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