Im schulischen Literaturunterricht und in der Literaturwissenschaft geht der
Zugang zur »
Kleinen Fabel« von
▪
Franz
Kafka meistens über die vorgegebene Gattungsbezeichnung Fabel, die sich im Titel des Textes
wiederfindet.
Wer den Text ohne weiteres Wissen über seinen Kontext (den Autor, seine Zeit
usw.) liest,
spürt allerdings schnell heraus, dass Kafka ihn mit seiner "Kleinen Fabel"
"förmlich auf der Geschichte sitzen" lässt. (Allemann 1975/1998,
S.129) So einfach eine Lehre abzuleiten, schlägt fehl.
Dementsprechend hält Allemann auch überhaupt nichts von der
philologischen "Kleinkunst", der Geschichte am Ende eine "Moral" bzw.
nachgestellte Lehre (Epimythion)
überzustülpen, nach dem Muster: "Der Schwächere tut gut daran, nicht auf den
Rat des Stärkeren zu hören, zumal wenn dieser sein natürlicher Feind ist." (Allemann 1975/1998,
S.129) Sie verfehle die Intention des Textes deutlich.
Geeigneter scheint
dagegen zu sein, die Kafkas "Schreibstrategie" (Vogt
2008, S.65) auszeichnende "Kombination von einfachem Wortlaut und
Gattungsschema, sprachlicher Vieldeutigkeit und Deutungsabstinenz des
Erzählers" (ebd.)
hinzunehmen und damit dem Text die Vieldeutigkeit zu lassen, die auch das
Gesamtwerk Kafkas weltberühmt gemacht hat. (vgl.
ebd.)
Über die Gründe, die
»Max Brod
(1884-1968), Freund und Herausgeber der Werke
Franz Kafkas (1883-1924),
bewogen haben, dem Text, der wohl um 1920 entstanden ist, den Titel "Kleine Fabel"
zu geben, ist immer spekuliert worden.
Dass Max Bord sich überhaupt die Freiheit dazu nahm, ist nicht ungewöhnlich
und entspricht durchaus den Gepflogenheiten von Herausgebern. (vgl.
Allemann 1975/1998, S.134) Aber man kann davon ausgehen, dass Kafka
selbst "auf Eselsbrücken dieser Art verzichtet" hätte (ebd.).
So legt der Titel einem Leser von Anfang an nahe, die Geschichte auf der
Grundlage seines
Textmusterwissens zur
Literaturgattung
▪
Fabel zu lesen.
Allerdings soll damit die Komplexität der Rezeption literarischer Texte
nicht auf dieses Textmusterwissen reduziert werden, denn, wie Jochen
Vogt (2008, S.63)
betont, "(sind) Lesarten und Interpretationen (...) abhängig von dem
Wissensstand und Problembewusstsein, das wir bei der Lektüre mitbringen. Wir
interpretieren einen Text immer im Rahmen oder Horizont unserer eigenen
Erfahrung. Und der ist sowohl individuell wie kollektiv geprägt; er umfasst
unser historisches Wissen, aber auch unsere ästhetische oder literarische
Erfahrung."
Was mit dem "irreführenden" Titel suggeriert wird, wird aber in gewisser
Weise auch in Frage gestellt, zumindest aber relativiert, denn das Adjektiv
"klein", das Brod in den Titel eingebaut hat, soll ja allem Anschein nach
nicht auf ihre besondere Kürze verweisen. Kürze ist nämlich für die Fabel
als
epische Kleinform
ohnehin kennzeichnend. Stattdessen soll das Attribut wohl
"a priori einen ironischen Akzent setzen." (ebd.)
So ist es, aus der Perspektive eines im Umgang mit der Gattung Fabel
"kompetenten" Leser betrachtet, durchaus eine übereifrig und "voreilig
vorgenommene Ironisierung" (vgl.
ebd.), die
einer, zumindest zu Beginn des Leseprozesses, textmustergetreuen Rezeption
entgegensteht. Sie legt nämlich nahe, dieses Muster im vorliegenden Text
nicht absolut ernst zu nehmen. Aber damit zu behaupten, dass der Text Kafkas
mit diesem Titel "zerstört" (ebd.)
werde, geht doch sehr weit.
Kafka jedenfalls kann und will das Fabelschema offenbar nicht in einem auf einem festen
Wertehorizont gründenden Ende aufgehen lassen, so wie es die die didaktische
Form seit Aesop, über La Fontaine bis Lessing ausgezeichnet hat. Seine
bemerkenswerte Kunst besteht jedoch darin, dass er dennoch, so die Analyse
von Allemann
(1975/1998, S.145) an ihrer tradierten Struktur "bei vollem Bewusstsein
ihrer inneren Unmöglichkeit" festhält und das "nicht durch offene Parodie
oder im üblichen Sinn scherzhafte Behandlung des Genus, sondern durch eine
sublime Transposition mit Hilfe des Prinzips der Ironie."
Die Prosafabel, so
wie sie in der Gattungsgeschichte tradiert worden ist, war für Kafka nur "in
einer fundamental ironischen Brechung" (ebd.,
S.144) machbar. Die "poetisch-produktive Ironisierung des Fabel-Prinzips
durch Kafka" (ebd
S.147) macht sich die von der Gattung geforderte "Ko-Produktion", die
"Interpretationsbereitschaft ihrer Leser" (Vogt
2008, S.63) zunutze, "die aus Erfahrung wissen, dass es nicht um Katz
und Maus geht [...], sondern dass die Tiere symbolische Stellvertreter"
sind. (ebd., S.64)
Wofür sie indessen stehen, ist nicht im Text zu finden, sondern entsteht im
Bewusstsein des Leser, ist Ergebnis eines intrapsychischen Vorgangs, der
Lesen und Deutung umfasst. Daher sind die möglichen Interpretationen der "Kleinen Fabel", die so viel offen lässt, prinzipiell unendlich, im
engeren Sinne jedoch begrenzt durch die "Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Interpretationsgemeinschaft" (ebd.,
S.63).
Deren Mitglieder übertragen z. B. "die unbequeme Lage der Maus in
Kafkas enger Welt [...] auf jede ausweglose Situation, jeden unlösbaren
Konflikt [...], in den jemand gerät - sei es ein Individuum oder eine
Gruppe, bis hin zur Menschheit (sagen wir beispielsweise: zwischen Ozonloch
und Atomgefahr). Die Katze wiederum kann mit jeder nur denkbaren verderbenbringenden Macht identifiziert werden - und weil diese Struktur
Kafkas Werke durchgehend bestimmt, gibt es zu ihnen auch so unendlich viele
und unterschiedliche Interpretationen ..." (ebd.,
S.64f.)
In jedem Fall scheint Brod mit seinem Titel
versucht zu haben, ein "Überraschungsmoment" (Schlingmann
1995a, S.131) zu setzen, damit die Katze erst am Ende in den Blick des
Lesers gerät. Stünden nämlich, so fährt er fort, wie bei Fabeln üblich, "Die
Katze und die Maus" im Titel, wäre damit "ein Teil der beklemmenden
Wirkung", die dadurch entsteht, dass die Katze erst am Schluss erwähnt wird,
abgeschwächt worden.
Offen
lässt die "Kleine Fabel", den nach Richard
Thieberger
(1979, S.376) "kritischen Punkt der Geschichte und ihrer
Interpretation", der, wenn man die Fabelhandlung ernst nimmt, in der Frage
münde: "Hat sich die Maus nun umgedreht oder nicht?" (ebd., zit. n.
Schlingmann
1995a, S.133)
Auch wenn man mit Thieberger davon ausgeht, dass die Maus sich tatsächlich
umwendet, die Laufrichtung ändert und damit erst in die Fänge der Katze
läuft, bleiben Fragen offen. Denn wie
Schlingmann
(1995a, S.134) einwendet, widerspricht ja genau die Tatsache, dass die
Maus der Katze Vertrauen schenkt, "der Natur und den Regeln der Fabel und
ist auch in Kafkas
Fragment »Eine Katze hatte
eine Maus gefangen ...« nicht angelegt."
Doch Kafka wäre nicht Kafka, ginge die Verwendung von Tierfiguren in der
seit der Antike von »Aesop
bekannten
Anthropomorhisierung auf. Die Erwartungen, die die Tierfiguren erzeugen,
werden indessen nicht erfüllt. Vergleichsweise schnell sieht sich ein
kompetenter Leser nämlich in eine spannungsvolle Situation zwischen diesen
Erwartungen und den hintergründigen Absichten des Autors gestellt, die ihn
zur Erkenntnis gelangen lassen, dass die Tiere Kafkas eben "nicht ohne
weiteres ausdeutbar" (ebd.,
S.128) sind.
So bleibt vielleicht nur eine Deutung ihrer Funktion im Ganzen,
wie sie Karlheinz
Fingerhut
(1969, S. 171f.) im Rahmen seiner Interpretation der "Kleinen Fabel"
als Parabel vornimmt. Danach bringen die Tierfiguren zum Ausdruck, "dass das
Menschliche nicht mehr völlig von der tierischen Determination zu trennen
ist."
Dass Kafkas Text zwar zunächst wie eine Fabel rezipiert werden kann, aber
letzten Endes keine Fabel darstellt, hat Karl-Heinz
Fingerhut
(1969, S.171f.) betont. Sie sei vielmehr eine
Parabel, weil sie nicht wie
in einer Fabel üblich davon berichte, "wie es in der Welt zugeht, d. h. von
Zuständen im zwischenmenschlichen Bereich", sondern "ein in Handlung
umgesetztes Beispiel des menschlichen Lebenslaufs" darstelle, das die
"universelle Determiniertheit der Existenz" ausdrücke.
Ohne dem Text durch solche Analogien Sinn zu geben, betont
Peter-André
Alt (2005/2008, S.571) in seiner Kafka-Biografie, dass der Text "nicht
das »Beispiel der tragischen Ironie des Lebens« [H.
W. Sokel 1964/1976, S.23] liefere, sondern "die Bestätigung der
Differenz zwischen Realität und Fiktion", die ihren Lesern "den
Täuschungscharakter aller Auslegungen vor Augen stellt." (ebd.,
S.572)
Konsequenterweise wird damit von Alt auch die Sinnlosigkeit
unterstrichen, den Text in einem herkömmlich interpretatorischen
"hermeneutischen Annäherungsprozess" (ebd.) fassen zu wollen. Stattdessen
offenbare sich "die verdeckte Quintessenz" (ebd.)
der "abgründige(n) Geschichte" (ebd. S.571)
in einem "Akt der gleichsam mystischen Versenkung" (ebd.,
S.572)
Auch wenn man diesen "esoterisch" anmutenden Aneignungsprozess kritisch
sehen mag, schaut man über die "Kleine Fabel" hinweg auf das gesamte
Werk Kafkas, dann bleibt mit
Andringa (2008,
S.333) doch festzuhalten, dass die "bei Kafka strukturell angelegte
Geschichts- und Ortlosigkeit", die ja häufig genug häufig befremdend wirkt,
erst die "unendliche Vielfalt von Konkretisierungen" ermöglicht, die den
Umgang mit Kafkas Werk insgesamt auszeichnet. Dies gilt wohl uneingeschränkt
auch für Kafkas "Kleine Fabel", die wie andere Werke des Autors eben
auch, "mit Vorstellungen und Ideen aus verschiedensten Zeiten, Welten und
Kulturen verbunden und analogisiert werden kann." (ebd.)
Und zum Wesen dieses Werkes gehöre die Erkenntnis, so Andringa weiter, dass
es wenig bringt, wenn es immer wieder aktualisiert oder (re)kontextualisiert
wird, "denn es bietet ein der Geschichte und dem Raum enthobenes Gerüst, das
immer wieder anders ausgefüllt werden kann." (ebd.)
Gert Egle (2014)
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Bausteine
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.11.2023