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Literaturepoche Aufklärung (1720-1785)
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Kant,
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(1794)
Beantwortung der
Frage: Was ist Aufklärung?
Immanuel Kant (1724-1804)
"(S. Decemb.1783, S.516)1
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich
seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben
nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes
liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude!
Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der
Wahlspruch der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der
Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei
gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig
bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern
aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für
mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen
Arzt, der für mich die Diät beurteilt, u.s.w., so brauche ich mich ja
nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur
bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich
übernehmen. Dass der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter das
ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer dem dass er
beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte: dafür sorgen schon
jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen
haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältig
verhüteten, dass diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen,
darin sie sie einsperrten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher die
Gefahr, die ihnen droht, wenn sie es versuchen allein zu gehen. Nun ist
diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemal
Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art macht
doch schüchtern und schreckt gemeinhin von allen ferneren Versuchen ab.
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm beinahe
zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie sogar lieb
gewonnen und ist vor der Hand wirklich unfähig, sich seines eigenen
Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon machen ließ.
Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen
Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen
einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch
auch über den schmalsten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er
zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich
aus der Unmündigkeit heraus zu wickeln und dennoch einen sicheren Gang zu
tun.
Dass aber ein Publikum2
sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn
man ihm nur Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden sich
immer einige Selbstdenkende sogar unter den eingesetzten Vormündern des
großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der Unmündigkeit
selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen Schätzung des
eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen selbst zu denken um sich
verbreiten werden. Besonders ist hierbei: dass das Publikum, welches zuvor
von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie danach selbst zwingt
darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner Vormünder, die selbst
aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt worden; so schädlich
ist es Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen,
die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein
Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird
vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotismus und gewinnsüchtiger
oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der
Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden ebensowohl als
die alten zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und
zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich
die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch
zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: räsoniert nicht!
Der Offizier sagt: räsoniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat: räsoniert
nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: räsoniert nicht, sondern glaubt!
(Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsoniert, so viel ihr
wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung
der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich?
welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? - Ich antworte: der öffentliche
Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann
Aufklärung unter Menschen zustande bringen; der Privatgebrauch
derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum
den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber
unter dem öffentlichen Gebrauch seiner eigenen Vernunft denjenigen, den
jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt
macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen
ihm anvertrauten bürgerlichen Posten oder Amte von seiner Vernunft
machen darf. Nun ist zu manchen Geschäften, die in das Interesse des
gemeinen Wesens laufen, ein gewisser Mechanism notwendig, vermittels
dessen einige Glieder des gemeinen Wesens sich bloß passiv verhalten müssen,
um durch eine künstliche Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen
Zwecken gerichtet, oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke
abgehalten zu werden. Hier ist es nun freilich nicht erlaubt, zu räsonieren;
sondern man muss gehorchen. So fern sich aber dieser Teil der Maschine
zugleich als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft
ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum
im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet: kann er allerdings räsonieren,
ohne dass dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile als
passives Glied angesetzt ist. So würde es sehr verderblich sein, wenn ein
Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste über
die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln
wollte; er muss gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt
werden, als Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu
machen und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen. Der Bürger
kann sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar
kann ein vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet
werden sollen, als ein Skandal (das allgemeine Widersetzlichkeiten
veranlassen könnte) bestraft werden. Eben derselbe handelt dem ungeachtet
der Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die
Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich
seine Gedanken äußert. Ebenso ist ein Geistlicher verbunden, seinen
Katechismusschülern und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der
er dient, seinen Vortrag zu tun; denn er ist auf diese Bedingung
angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den
Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken
über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer
Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen. Es
ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte.
Denn was er infolge seines Amts als Geschäftträger der Kirche lehrt, das
stellt er als etwas vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat nach
eigenem Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen
eines anderen vorzutragen angestellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche
lehrt dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich
bedient. Er zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus
Satzungen, die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde,
zu deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch
nicht ganz unmöglich ist, dass darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle
aber wenigstens doch nichts der inneren Religion Widersprechendes darin
angetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde
er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müsste es
niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner
Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch:
weil diese immer nur eine häusliche, obwohl noch so große Versammlung
ist; und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es
auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als
Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der
Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche
seiner Vernunft genießt einer uneingeschränkte Freiheit, sich seiner
eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.
Denn dass die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder
unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der
Ungereimtheiten hinausläuft.
Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine
Kirchenversammlung, oder eine ehrwürdige Klassis (wie sie sich unter den
Holländern selbst nennt), berechtigt sein, sich eidlich untereinander auf
ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche
Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittels ihrer über das
Volk zu führen und diese sogar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich.
Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom
Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings
null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch
Reichstage und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein
Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende
in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muss, seine
(vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern
zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten. Das wäre
ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche
Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind
also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und
frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen. Der Probierstein alles dessen,
was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage:
ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte. Nun wäre
dieses wohl gleichsam in der Erwartung eines besseren auf eine bestimmte
kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung einzuführen: indem man es
zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem Geistlichen frei ließe, in
der Qualität eines Gelehrten öffentlich, d.i. durch Schriften, über das
Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung seine Anmerkungen zu machen,
indessen die eingeführte Ordnung noch immer fortdauerte, bis die Einsicht
in die Beschaffenheit dieser Sachen öffentlich so weit gekommen und bewährt
worden, dass sie durch Vereinigung ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller)
einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeinden in
Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht
zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch
diejenigen zu hindern, die es beim Alten wollten bewenden lassen. Aber auf
eine beharrliche, von Niemanden öffentlich zu bezweifelnde
Religionsverfassung auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu
einigen und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur
Verbesserung gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar
der Nachkommenschaft nachteilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt.
Ein Mensch kann zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einige
Zeit in dem, was ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber
auf sie Verzicht zu tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die
Nachkommenschaft, heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und
mit Füßen treten. Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst
beschließen darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk
beschließen; denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, dass er
den gesamten Volkswillen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf
sieht, dass alle wahre oder vermeintliche Verbesserung mit der bürgerlichen
Ordnung zusammen bestehe: so kann er seine Untertanen übrigens nur selbst
machen lassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu tun nötig finden;
das geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, dass nicht einer den
andern gewalttätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben
nach allem seinem Vermögen zu arbeiten. Es tut selbst seiner Majestät
Abbruch, wenn er sich hier einmischt, indem er die Schriften, wodurch
seine Untertanen ihre Einsichten ins Reine zu bringen suchen, seiner
Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchster
Einsicht tut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt: Caesar non est supra
Grammaticos3,
als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt so weit
erniedrigt, den geistlichen Despotismus einiger Tyrannen in seinem Staate
gegen seine übrigen Untertanen zu unterstützen.
Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in einem aufgeklärten
Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.
Dass die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im Ganzen
genommen, schon imstande wären, oder darin auch nur gesetzt werden könnten,
in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines
Anderen sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein dass
jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten,
und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung, oder des Ausganges aus
ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger werden, davon
haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist dieses Zeitalter
das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friederichs.4
Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen: dass er es für
Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts
vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also
selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt: ist
selbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als
derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der
Unmündigkeit wenigstens von Seiten der Regierung entschlug und jedem frei
ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen
Vernunft zu bedienen. Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche
unbeschadet ihrer Amtspflicht ihre vom angenommenen Symbol hier oder da
abweichenden Urteile und Einsichten in der Qualität der Gelehrten frei
und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder
andere, der durch keine Amtspflicht eingeschränkt ist. Dieser Geist der
Freiheit breitet sich außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren
Hindernissen einer sich selbst missverstehenden Regierung zu ringen hat.
Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor, dass bei Freiheit für die
öffentliche Ruhe und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das Mindeste zu
besorgen sei. Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der
Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin
zu erhalten.
Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, die des Ausgangs der Menschen
aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in Religionssachen
gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere
Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu
spielen; überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also
auch die entehrendste unter allen ist. Aber die Denkungsart eines
Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt, geht noch weiter und sieht
ein: dass selbst in Ansehung seiner Gesetzgebung es ohne Gefahr
sei, seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft öffentlichen
Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung
derselben sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen der Welt
öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch
noch kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.
Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten
fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum Bürgen
der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, kann das sagen, was ein Freistaat
nicht wagen darf: räsoniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt;
nur gehorcht! So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht erwarteter
Gang menschlicher Dinge; so wie auch sonst, wenn man ihn im Großen
betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad bürgerlicher
Freiheit scheint der Freiheit des Geistes des Volks vorteilhaft und
setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad weniger von jener
verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem seinem Vermögen
auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten Hülle den Keim, für
den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum freien
Denken, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die
Sinnesart des Volks (wodurch dieses der Freiheit zu handeln nach
und nach fähiger wird) und endlich auch sogar auf die Grundsätze der Regierung,
die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun mehr als
Maschine ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.*
Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784. "
*In den Büsingschen wöchentlichen Nachrichten vom 13.
Sept. lese ich heute den 30sten ebendess. die Anzeige der Berlinischen
Monatsschrift von diesem Monat, worin des Herrn Mendelssohn Beantwortung
ebenderselben Frage angeführt wird. Mir ist sie noch nicht zu Händen
gekommen; sonst würde sie die gegenwärtige zurückgehalten haben, die
jetzt nur zum Versuche dastehen mag, wiefern der Zufall Einstimmigkeit der
Gedanken zuwege bringen könne.
Worterklärungen und Hinweise:
1
Der vorangestellte Seitenverweis
der "Berlinischen Monatsschrift" bezieht sich auf eine Anmerkung
des Berliner Pfarrers Johann Friedrich Zöllner, der einen Artikel gegen
die Zivilehe veröffentlicht hatte. Darin schimpfte er u.a. gegen die
Verwirrung, die "unter dem Namen der Aufklärung" eingetreten
sei und beklagt in einer Fußnote, dass noch niemand erklärt habe, was
man eigentlich unter Aufklärung zu verstehen habe.
2 Publikum;
h: Gesellschaft, gesellschaftliche Öffentlichkeit
3
übersetzt: "Der Kaiser steht nicht über den Grammatikern."
4
FRIEDRICH
II. d. Große,
1712-1786; preuß. König; Förderer von Wissenschaft und
Kunst, Vorliebe für die Aufklärungsphilosophie (Voltaire); aufgeklärter
Absolutismus; Ideal des selbstdenkenden Herrschers
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(1794)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.12.2024