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[...] Es ist keine Frage, dass sich bei den Wahlen zur Nationalversammlung
der Einfluss des Kapitals, seine wirtschaftlich organisierte Überlegenheit
in höchstem Maße geltend machen wird. Große Massen der Bevölkerung werden
sich unter dem Druck und Einfluss dieser Überlegenheit in Gegensatz zu
sich selbst, in Gegensatz zu ihren eigenen und wahren Interessen setzen
und ihre Stimmen ihren Feinden geben. Schon aus diesem Grunde wird die
Nationalversammlung niemals ein Sieg des sozialistischen Willens sein. Es
ist völlig verkehrt, zu glauben, dass in der formalen Demokratie des
Parlaments die sichere Voraussetzung und Bedingung für die Verwirklichung
des Sozialismus gegeben sei. Vielmehr ist gerade umgekehrt erst der
verwirklichte Sozialismus die grundlegende Voraussetzung für eine wahre
Demokratie. Das revolutionäre deutsche Proletariat kann von einer
Wiedergeburt des alten Reichstages in der neuen Form der
Nationalversammlung nichts für seine Ziele erwarten;
denn diese
Nationalversammlung wird den gleichen Charakter tragen wie die alte
»Schwatzbude« am Königsplatz. Wir werden in ihr sicherlich alle die alten
Herrschaften wieder finden, die dort vor dem Kriege und während des
Krieges die Geschicke des deutschen Volkes in so verhängnisvoller Weise zu
bestimmen suchten. Und wahrscheinlich ist es auch, dass die bürgerlichen
Parteien in dieser Nationalversammlung die Mehrheit haben werden. Aber
selbst, wenn das nicht der Fall sein sollte, wenn die Nationalversammlung
mit einer sozialistischen Mehrheit die Sozialisierung der deutschen
Wirtschaft beschließen sollte, so wird ein solcher parlamentarischer
Beschluss ein papiernes Dekret bleiben und an dem energischsten Widerstand
der Kapitalisten scheitern. Nicht im Parlament, nicht mit seinen Methoden
kann der Sozialismus verwirklicht werden; hier ist einzig und allein der
außerparlamentarische, revolutionäre Kampf des Proletariats entscheidend.
Nur durch ihn ist das Proletariat imstande, die Gesellschaft nach
seinem
Willen zu formen. […]
Damit uns aber der große Wurf des Sozialismus gelingt - dazu ist es
unbedingt erforderlich, dass die politische Macht dem Proletariat erhalten
bleibe. Denn jetzt gibt es kein Schwanken und Zögern mehr, sondern nur
noch ein klares Entweder - Oder. Entweder der bürgerliche Kapitalismus
fährt fort zu leben und die Erde und die gesamte menschliche Gesellschaft
zu beglücken mit seiner Ausbeutung und Lohnsklaverei und der Verewigung
der Kriegsgefahr, oder aber das Proletariat besinnt sich auf seine
weltgeschichtliche Aufgabe und auf sein Klasseninteresse, das es dazu
aufruft, alle Klassenherrschaft
für immer aufzuheben. […]
Dieser neuen Einigung von Proletariat und Bourgeoisie, dieser
verräterischen Fortsetzung der Lüge von 1914 soll die Nationalversammlung
dienen. Das soll ihre wahre Aufgabe sein. Mit ihrer Hilfe soll der
revolutionäre Klassenkampf des Proletariats zum zweiten Male erstickt
werden. Aber wir erkennen, dass hinter dieser Nationalversammlung in
Wahrheit der alte deutsche Imperialismus steht, der trotz der Niederlage
Deutschlands nicht tot ist. Nein, er ist nicht tot; und bleibt er am
Leben, so ist das deutsche Proletariat um die Früchte seiner Revolution
geprellt.
[...]
(aus: Karl Liebknecht, Was will der Spartakusbund?
Rede in den Unionsfestsälen in der Hasenheide in Berlin, 23. Dezember
1918, in: ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin (DDR) 1952,
S.505-520)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.12.2024