Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands ist die
Partei des
arbeitenden Volkes in Stadt und Land. Sie erstrebt die Zusammenfassung
aller körperlich und geistig Schaffenden, die auf den Ertrag eigener
Arbeit angewiesen sind, zu gemeinsamen Erkenntnissen und Zielen, zur
Kampfgemeinschaft für Demokratie und Sozialismus.
Die kapitalistische Wirtschaft hat den wesentlichen
Teil der durch die moderne Technik gewaltig entwickelten Produktionsmittel
unter die Herrschaft einer verhältnismäßig kleinen Zahl von Großbesitzern
gebracht, sie hat breite Massen der Arbeiter von den Produktionsmitteln
getrennt und in besitzlose Proletarier verwandelt. Sie hat die
wirtschaftliche Ungleichheit gesteigert und einer kleinen, in Überfluss
lebenden Minderheit weite Schichten entgegengestellt, die in Not und Elend
verkümmern. Sie hat damit den Klassenkampf für die Befreiung des
Proletariats zur geschichtlichen Notwendigkeit und zur sittlichen
Forderung gemacht.
Der Weltkrieg und die ihn abschließenden
Friedensdiktate haben diesen Prozess noch verschärft. Sie haben die
Konzentration der Betriebe und des Kapitals beschleunigt, die Kluft
zwischen Kapital und Arbeit, Reichtum und Armut erweitert. In Industrie
und Bankwesen, in Handel und Verkehr hat eine neue Epoche der
Angliederungen und Verschmelzungen, der Kartellierungen und Vertrustungen
eingesetzt. Während rücksichtsloses Gewinnstreben eine neue Bourgeoisie
von Kriegslieferanten und Spekulanten emporhob, sanken kleine und mittlere
Besitzer, Gewerbetreibende, Scharen geistiger Arbeiter, Beamte,
Angestellte, Künstler, Schriftsteller, Lehrer, Angehörige aller Art der
freien Berufe zu proletarischen Lebensbedingungen hinab. Korrumpierung des
öffentlichen Lebens, wachsende Abhängigkeit der bürgerlichen Presse von
übermächtigen Wirtschaftsdiktatoren, die auf diese Weise den Staat unter
ihre Botmäßigkeit zu bringen versuchen, sind unausbleibliche Folgen.
Die Entwicklung zum Hochkapitalismus hat das Streben
nach Beherrschung der Weltwirtschaft durch imperialistische
Machterweiterung noch gesteigert. Sie hat ebenso wie die unbefriedigende
Lösung der nationalen und wirtschaftlichen Weltprobleme durch die
geltenden Friedensverträge die Gefahr neuer blutiger Konflikte
heraufbeschworen, die den Zusammenbruch der menschlichen Kultur
herbeizuführen drohen.
Zugleich hat der Weltkrieg morsche Herrschaftssysteme
hinweggefegt. Politische Umwälzungen haben den Massen die Rechte der
Demokratie gegeben, deren sie zu ihrem sozialen Aufstieg bedürfen. Eine
gewaltig erstarkte Arbeiterbewegung, groß geworden durch die ruhmvolle
opferreiche Arbeit von Generationen, stellt dem Kapitalismus als
ebenbürtiger Gegner. Mächtiger denn je erhebt sich der Wille, das
kapitalistische System zu überwinden und durch internationalen
Zusammenschluss des Proletariats, durch Schaffung einer
zwischenstaatlichen Rechtsordnung, eines wahren Bundes gleichberechtigter
Völker, die Menschheit vor neuer kriegerischer Vernichtung zu schützen.
Diesem Willen den Weg zu weisen, den notwendigen Kampf der schaffenden
Massen zu einem bewussten und einheitlichen zu gestalten, ist die Aufgabe
der Sozialdemokratischen Partei. Die Sozialdemokratische Partei ist
entschlossen, zum Schutz der errungenen Freiheit das Letzte einzusetzen.
Sie betrachtet die demokratische Republik als die durch die geschichtliche
Entwicklung unwiderruflich gegebene Staatsform, jeden Angriff auf sie als
ein Attentat auf die Lebensrechte des Volkes.
Die Sozialdemokratische Partei kann sich aber nicht
darauf beschränken, die Republik vor den Anschlägen ihrer Feinde zu
schützen. Sie kämpft um die Herrschaft des im freien Volksstaat
organisierten Volkswillens über die Wirtschaft, um die Erneuerung der
Gesellschaft im Geiste sozialistischen Gemeinsinns. Die Überführung der
großen konzentrierten Wirtschaftsbetriebe in die Gemeinwirtschaft und
darüber hinaus die fortschreitende Umformung der gesamten kapitalistischen
Wirtschaft zur sozialistischen, zum Wohle der Gesamtheit betriebenen
Wirtschaft erkennt sie als notwendige Mittel, um das schaffende Volk aus
den Fesseln der Kapitalherrschaft zu befreien, die Produktionserträge zu
steigern, die Menschheit zu höheren Formen wirtschaftlicher und sittlicher
Gemeinschaft emporzuführen.
In diesem Sinne erneuert die Sozialdemokratische
Partei Deutschlands ihr im
Erfurter Programm niedergelegtes Bekenntnis: Sie kämpft nicht
für neue Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern
für die Abschaffung
der Klassenherrschaft und der Klassen selbst und für gleiche Rechte
und gleiche Pflichten aller, ohne Unterschied des Geschlechts und der
Abstammung. Sie führt diesen Kampf in dem Bewusstsein, dass er das
Schicksal der Menschheit entscheidet in nationaler wie in internationaler
Gemeinschaft, in Reich, Staat und Gemeinde, in Gewerkschaften und
Genossenschaften, in Werkstatt und Haus.
Für diesen Kampf gelten die folgenden
Forderungen:
Wirtschaftspolitik
Grund und Boden, die Bodenschätze sowie die
natürlichen Kraftquellen, die der Energieerzeugung dienen, sind der
kapitalistischen Ausbeutung zu entziehen und in den Dienst der
Volksgemeinschaft zu überführen. Gesetzliche Maßnahmen gegen die
Extensivierung oder das gänzliche Unbenutztlassen landwirtschaftlicher
Bodenflächen oder deren Verschwendung zu privaten Luxuszwecken. Kontrolle
des Reichs über den kapitalistischen Besitz an Produktionsmitteln, vor
allem über die Interessengemeinschaften, Kartelle und Trusts. Fort
schreitender Ausbau der Betriebe des Reichs, der Länder und der
öffentlichen Körperschaften unter demokratischer Verwaltung unter
Vermeidung der Bürokratisierung. Förderung der nicht auf Erzielung eines
Profits gerichteten Genossenschaften. Ausgestaltung des wirtschaftlichen
Rätesystems zu einer Vertretung der sozialen und wirtschaftspolitischen
Interessen der Arbeiter, Angestellten und Beamten.
Sozialpolitik
Einheitliches Arbeitsrecht. Sicherung des
Koalitionsrechts. Wirksamer Arbeiterschutz: gesetzliche Festlegung eines
Arbeitstages von höchstens acht Stunden, Herabsetzung dieser Arbeitszeit
in Betrieben mit erhöhten Gefahren für Leben und Gesundheit. Äußerste
Einschränkung der Nachtarbeit für Männer. Verbot der Nachtarbeit für
Frauen und Jugendliche. Verbot der Arbeit von Frauen und Jugendlichen in
besonders gesundheitsschädlichen Betrieben sowie an Maschinen mit
besonderer Unfallgefahr. Verbot jeder Erwerbsarbeit schulpflichtiger
Kinder. Überwachung aller Betriebe und Unternehmungen. Eine wöchentliche
ununterbrochene Ruhepause von mindestens 42 Stunden. Jährlicher Urlaub
unter Fortzahlung des Lohnes. Unterstützung aller Bestrebungen zur
Beseitigung der Übelstände der Heimarbeit und ihre Aufhebung, wo es ohne
schwere wirtschaftliche Schädigung der Heimarbeiter möglich ist. Umbau der
sozialen Versicherung zu einer allgemeinen Volksfürsorge. Auf diesen
Grundlagen Förderung des internationalen Arbeiterschutzes.
Allgemeines Recht der
Frauen auf Erwerb.
Sicherung und Ausbau der
staatsbürgerlichen und wirtschaftlichen Rechte der Beamten.
Planmäßige, den sozialen
Bedürfnissen der Arbeiterklasse angepasste Bevölkerungspolitik. Besondere
Fürsorge für kinderreiche Familien.
Finanzen
Sicherung und Weiterbildung der Einkommens-,
Vermögens- und Erbschaftssteuern, ihre Anpassung an die Wertveränderungen
und an die Leistungsfähigkeit des werbenden Kapitals.
Erbrecht des Reichs bei entfernteren
Verwandtschaftsgraden, Pflichtteil des Reichs, abgestuft nach der Zahl der
Erben. Wirksame Verfolgung der Steuerhinterziehung und Kapitalflucht.
Schonung der Arbeitskraft und Belastung jedes verschwenderischen
Überverbrauchs. Beteiligung der öffentlichen Gewalten am Vermögen der
kapitalistischen Erwerbsunternehmungen.
Verfassung und Verwaltung
Sicherung der demokratischen Republik. Festigung der
Reichseinheit. Ausbau des Reichs zum organisch gegliederten Einheitsstaat,
Selbstverwaltung der Gemeinden und der zu höheren Selbstverwaltungskörpern
gesetzlich organisierten Gemeindeverbände (Kreise, Bezirke, Provinzen).
Überordnung der demokratischen Volksvertretung über die berufsständischen
Organisationen. Demokratisierung aller staatlichen Einrichtungen.
Vollständige verfassungsmäßige und tatsächliche Gleichstellung aller über
20 Jahre alten Staatsbürger ohne Unterschied des Geschlechts, der Herkunft
und der Religion.
Gemeindepolitik
Schaffung einer einheitlichen Gemeindeordnung für
Stadt und Land, sowie eines einheitlichen Gemeindevertreterkörpers.
Initiative und Volksabstimmung in den Gemeinden. Unterstellung aller
Gemeindebeamten unter die Gemeindevertretung. Wahl der Bürgermeister auf
Zeit. Bildung und Förderung großer und leistungsfähiger Kommunaleinheiten.
Beschränkung des staatlichen Aufsichtsrechts auf das Recht der
Beanstandung ungesetzlicher Verwaltungsakte der Gemeinde, Beseitigung des
Bestätigungsrechtes der Aufsichtsbehörden für Gemeindeorgane.
Reichsgesetzliche Freigabe der kommunalen Sozialisierung.
Rechtspflege
Überwindung der herrschenden privatrechtlichen durch
eine soziale Rechtsauffassung. Unterordnung des Vermögensrechts unter das
Recht der Person und das Recht der sozialen Gemeinschaft. Kampf gegen
Klassenjustiz, entscheidende Mitwirkung gewählter Volksrichter in allen
Zweigen der Justiz. Erziehung zu allgemeiner Rechtskenntnis, volkstümliche
Gesetzessprache. Zusammensetzung des Richterstandes aus allen
Volksklassen, Mitwirkung der Frauen in allen Justizämtern. Neuordnung des
juristischen Bildungsganges in sozialistischem Geiste. Übertragung der
gesamten Justiz auf das Reich. Berufung in Strafsachen. Reichsgesetzliche
Regelung des Strafvollzugs. Schutz- und Erziehungs-, nicht
Vergeltungsstrafrecht. Abschaffung der Todesstrafe.
Kultur- und Schulpolitik
Recht aller Volksgenossen an den Kulturgütern.
Oberstes Erziehungsrecht der Volksgemeinschaft.
Religion ist Privatsache, Sache innerer Überzeugung,
nicht Parteisache, nicht Staatssache: Trennung von Staat und Kirche.
Ausgestaltung der Schule zur weltlichen
Einheitsschule. Unentgeltlichkeit des Unterrichts, der Lernmittel und der
Verpflegung in den Schulen.
Umwandlung der Schulen in Lebens- und
Arbeitsgemeinschaften der Jugend mit weitgehend er Selbstverwaltung.
Gemeinsame Erziehung beider Geschlechter durch beide Geschlechter.
Mitarbeit pädagogisch hervorragend begabter Laien, verantwortliche
Mitwirkung der Eltern an der Schulerziehung und Schulaufsicht durch
Elternräte.
Erziehung des heranwachsenden Menschen in der
Familie, in der Schule und der freien Jugendbewegung zum bewussten Glied
der sozialen Volks- und Menschheitsgemeinschaft, zu den Idealen der
Republik, der sozialen Pflichterfüllung und des Weltfriedens.
Jugendhilfe (als selbständiges öffentliches
Arbeitsgebiet mit eigenen beamteten Organen), beginnend mit dem werdenden
Kind und endend mit dem Eintritt der Volljährigkeit.
Bildungsstätten für
erwachsene Volksgenossen als freie Arbeitsgemeinschaften zum Aufbau einer
lebendigen Volkskultur.
Völkerbeziehungen und
Internationale
Internationaler Zusammenschluss der Arbeiterklasse
auf demokratischer Grundlage als beste Bürgschaft des Friedens.
Ein Völkerbund, der kein die Völkerbundsatzungen
anerkennendes Volk ausschließt und in dem die Parlamente aller Länder
durch Delegierte nach der Stärke der Parteien vertreten sind. Ausbau des
Völkerbundes zu einer wahrhaften Arbeits-, Rechts- und Kulturgemeinschaft.
Entscheidung aller internationalen Streitigkeiten durch ein
internationales Gericht. Selbstbestimmung der Völker im Rahmen des für
alle gleichmäßig geltenden internationalen Rechts. Völkerrechtlicher
Schutz aller nationalen Minderheiten nach dem Grundsatz vollkommener
Gegenseitigkeit. Internationale Abrüstung unter Garantie des Völkerbundes,
Herabsetzung der Wehrmacht in allen Staaten auf das Maß, das die innere
Sicherheit der Staaten und die Erzwingung internationaler Verpflichtungen
durch gemeinschaftliches Vorgehen des Völkerbundes erfordert.
Unterstellung aller Kolonien und Schutzgebiete unter die Oberhoheit des
Völkerbundes. Durchführung des Grundsatzes der Offenen Tür für alle
wirtschaftlichen Austauschgebiete. Demokratisierung und Vereinfachung der
diplomatischen Vertretungen der Staaten.
Revision des Friedensvertrages von Versailles im Sinne wirtschaftlicher
Erleichterung und Anerkennung der nationalen Lebensrechte.
(aus: Protokoll über die Verhandlungen des Parteitags
der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten in Görlitz vom
18. bis 24. September 1921, Berlin 1921)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.12.2024