Dass unsere Wahrnehmung funktioniert, wie sie funktioniert, ist so
leidlich das einzige, was wir über unser eigenes, das menschliche
Wahrnehmungssystem sagen können. Denn, wenn wir in uns hineinsehen wollen,
um die Elemente und Prozesse dieses Systems selbst wahrzunehmen, stellen
wir schnell fest, dass wir unsere Wahrnehmung nicht wirklich auf die
Funktionsweise des Wahrnehmungssystems ausrichten können. Da können wir
uns anstrengen, wie wir wollen: "Wir können im Prozess des Wahrnehmens
nicht zugleich die Funktionsweise der Wahrnehmung beobachten." (Mausfeld
2005,
online, 12.07.06, S.2)
Dabei bedeutet dies natürlich nicht, dass wir, alltagspsychologisch
gesprochen, unser Wahrnehmen von Objekten nicht in irgendeiner Weise
beeinflussen können. Natürlich "hören wir hin", wenn wir Geräusche o. ä.
wahrnehmen wollen, natürlich richten wir dann unsere Wahrnehmung auf ein
Objekt (Fokussierung), aber die Art und Weise, wie unsere Wahrnehmung
funktioniert, beeinflussen wir damit nicht.
Es verhält sich also bei der Wahrnehmung nicht anders wie bei anderen
Gehirnfunktionen auch. Beide dringen nicht in unser Bewusstsein und zu
beiden haben wir keinen direkten und unmittelbaren Zugang.
Und genau das
ist Teil des biologischen Designs unserer Spezies, dass unser
Wahrnehmungssystem von anderen internen Prozessen wie z. B.
Affektzuständen abgeschottet ist und der introspektiven Betrachtung
verschlossen bleibt.
Zugleich ist dies natürlich auch die Ursache dafür,
dass wir dessen ungeachtet annehmen, die Wahrnehmung liefere uns die
physikalische Außenwelt, so wie diese ist, als deren Abbild ins Innere
unseres eigenen Systems. Wir folgen damit einer Vorstellung, die zwar
alltagspsychologisch ausreichen, wissenschaftlicher Betrachtung jedoch
nicht standhalten kann.
Wie die Wahrnehmung beim Menschen funktioniert, interessiert viele
Wissenschaften wie z. B. die Neurobiologie und Sinnesphysiologie, die
Motivations- und die Lernpsychologie und die Kognitionswissenschaften.
Aber auch Teildisziplinen der so genannten angewandten Psychologie wie die
interdisziplinär angelegten Verhaltenswissenschaften und die
interdisziplinär angelegte Konsumentenforschung.
Und jede dieser
wissenschaftlichen Disziplinen ist bemüht, ihr eigenes Modell von
Wahrnehmung bzw. der Wahrnehmungsorganisation zu entwickeln oder
bestehende Modelle für die eigene Sicht der Dinge zu adaptieren.
Dabei
soll hier nur das Verhältnis der Neurobiologie bzw. der Sinnesphysiologie
und der Wahrnehmungspsychologie betrachtet werden. Lange Zeit wurden
Sinnesphysiologie und ▪ Wahrnehmungspsychologie in einen Topf geworfen. Doch
der moderne Ansatz der Wahrnehmungspsychologie geht weit über das hinaus,
was die Sinnesphysiologie beschreiben und erklären will.
Beide sind auf
dem gleichen wissenschaftlichen Terrain unterwegs, denn sie beschäftigen
sich mit demselben biologischen System. Sie tun dies allerdings mit sehr
unterschiedlichen Anätzen, auf anderen Analyseebenen und anderen
Konzepten. (vgl.
Mausfeld
2005,
online, 12.07.06, S.7ff.)
Die Modelle und Theorien der Wahrnehmung drehen sich u. a. um
die Frage, was und wie viel in unserem Wahrnehmungssystem biologisch
festgelegt, phylogenetisch determiniert ist und in den menschlichen Genen
weitergegeben wird und was und wie viel erst durch Erfahrung der Umwelt
entsteht.
Dabei lassen sich nach
Zimbardo/Gerrig
(2004, S. 166) vereinfacht zwei Theorieansätze
unterscheiden, die das
Verhältnis von Anlage und Umwelt auf ihre Weise klären:
Nativisten und
Empiristen (s. Abb.)
Heutzutage scheint sich auf der Basis übereinstimmender
Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie, der Ethologie (=vergleichende
Wahrnehmungsforschung) sowie der Säuglingsforschung folgende
wissenschaftliche
Vorstellung der Wahrnehmung weitgehend durchgesetzt zu haben.
Danach "verfügt das Wahrnehmungssystem als Teil der biologischen
Ausstattung über ein reiches und hochstrukturiertes Reservoir an
Grundkonzepten. Diese Grundkonzepte stellen gleichsam die Sprache des
Wahrnehmungssystems dar; es legt die Kategorien fest, in denen die von den
Sinnen gelieferten Informationen zergliedert werden. Es definiert also die
Kategorien unserer Welt. Was wir als Kategorien der Außenwelt erleben,
sind die uns biologisch vorgegebenen Kategorien des Wahrnehmungssystems.
Die Leistung unseres Gehirns ist, dass wie diese Kategorien der biologisch
gegebenen konzeptuellen Grundausstattung nicht bemerken, sondern sie
gleichsam von Innen nach Außen verlegen und so die Illusion ihrer
Objektivität erhalten. Das Wahrnehmungssystem kann nicht anders als in
terminis dieser Grundkonzepte seine Welt zu konstruieren. Unsere
wahrgenommene Welt ist eine Konstruktion und zwar auf der Basis der uns
biologisch vorgegebenen konzeptuellen Grundausstattung unseres
Wahrnehmungssystems. [...] Was wir als Realität ansehen, ist also ein
Produkt unseres Wahrnehmungssystems." (
Mausfeld
2005,
online, 12.07.06, S.4f.,
S.6)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023