"In
diesem Trauerspiel […] wird ein Charakter aufgeführt, der in einem
bedenklichen Zeitlauf, umgeben von den Schlingen einer arglistigen
Politik, in nichts als sein Verdienst eingehüllt, voll übertriebenen
Vertrauens zu seiner gerechten Sache, die es aber nur für ihn allein ist,
gefährlich wie ein Nachtwanderer auf jäher Dachspitze wandelt. Diese
übergroße Zuversicht, von deren Urgrund wir unterrichtet werden, und der
unglückliche Ausgang derselben sollen und Furcht und Mitleiden einflößen
oder uns tragisch rühren – und diese Wirkung wird erreicht.
In der Geschichte ist Egmont kein großer Charakter, er ist es auch in dem
Trauerspiele nicht. […] Durch seine schöne Humanität, nicht durch
Außerordentlichkeit, soll dieser Charakter uns rühren; wir sollen ihn lieb
gewinnen, nicht über ihn erstaunen. Diesem letzteren scheint der Dichter
so sorgfältig aus dem Wege gegangen zu sein, dass er ihm eine
Menschlichkeit über die andere beilegt, um ja seinen Helden zu uns
herabzuziehen […] Aber durch welche strahlende Tat,
durch was für gründliche
Verdienste hat sich Egmont bei und das Recht auf eine […] Teilnahme
und Nachsicht erworben? Zwar heißt es , diese Verdienste werden
als schon geschehen vorausgesetzt, sie leben im Gedächtnis der
ganzen Nation, und alles, was er spricht, atmet den Willen und
die Fähigkeit, sie zu erwerben. Richtig! Aber das ist eben das
Unglück, dass wir seine Verdienste nur von Hörensagen wissen und
auf Treu und Glauben anzunehmen gezwungen werden, - seine
Schwachheiten dagegen mit unsern Augen sehen. Alles weist auf
diesen Egmont hin, als auf die letzte Stütze der Nation, und was
tut er eigentlich Großes, um dieses ehrenvolle Vertrauen zu
verdienen? […]
Indem der Dichter ihm Gemahlin und Kinder nimmt, zerstört er den ganzen
Zusammenhang seines Verhaltens. Er ist ganz gezwungen, dieses unglückliche
Bleiben aus einem leichtsinnigen Selbstvertrauen entspringen zu lassen,
und verringert dadurch gar sehr unsre Achtung für den Verstand des Helden,
ohne ihm diesen Verlust von Seiten des Herzens zu ersetzen. Im Gegenteil -
er bringt uns um das rührende Bild eines Vaters, eines liebenden Gemahls,
- um uns einen Liebhaber von ganz gewöhnlichem Schlag dafür zu geben, der
die Ruhe eines liebenswürdigen Mädchens, das ihn nie besitzen und noch
weniger seinen Verlust überleben wird, zu Grund richtet, dessen Herz er
nicht einmal besitzen kann, ohne eine Liebe, die glücklich hätte werden
können, vorher zu zerstören, der also, mit dem besten Herzen zwar, zwei
Geschöpfe unglücklich macht, um die sinnenden Runzeln von seiner Stirne
wegzubaden. Und alles dieses kann er noch außerdem erst nur auf Unkosten
der historischen Wahrheit möglich machen, die der dramatische Dichter
allerdings hintansetzen darf, um das Interesse seines Gegenstandes zu
erheben, aber nicht, um es zu schwächen. […]
Je höher die Illusion in dem Stück getrieben ist, desto unbegreiflicher
wird man es finden, dass der Verf. selbst sie mutwillig zerstört. Egmont
hat alle seine Angelegenheiten berichtigt, und schlummert endlich, von
Müdigkeit überwältigt ein. Eine Musik lässt sich hören, und hinter seinem
Lager scheint sich eine Mauer aufzutun, eine glänzende Erscheinung, die
Freiheit, in Klärchens Gestalt, zeigt sich in einer Wolke. – Kurz, mitten
aus der wahrsten und rührendsten Situation werden wird durch einen Salto
mortale in eine Opernwelt versetzt, um einen Traum – zu sehen. Lächerlich
würde es sein, dem Vf. dartun zu wollen, wie sehr er sich dadurch an Natur
und Wahrheit versündigt habe; das hat er so gut und besser gewusst als
wir; aber ihm schien die Idee, Klärchen und die Freiheit, Egmonts beide
herrschende Gefühle, in Egmonts Kopf
allegorisch zu verbinden,
sinnreich genug, um diese Freiheit allenfalls zu entschuldigen. Gefalle
dieser Gedanke, wem er will – Rez. gesteht, dass er gern einen witzigen
Einfall entbehrt hätte, um seine Empfindung ungestört zu genießen.
(aus: Friedrich Schiller: Über Egmont, Trauerspiel von Goethe. Anonym
erschienen in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“, September
1788, zit. n. Friedrich Schillers Werke. Nationalausgabe, 22. Band. Hrsg.
v. Herbert Meyer, Weimar: Hermann Böhlmanns Nachfolger 1958, S. 104,
Auszüge)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
29.01.2024