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Franz Kafka
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Prag - Geschichte im 19. Jahrhundert
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Czechia: Prag - Der Altstädter Ring
Franz Kafka wurde in Prag geboren, wuchs dort als Sohn von • Hermann Kafka (1852–1931) und
• Julie Löwy
(1856–1934) mit seinen drei jüngeren Schwestern Gabriele,
genannt »Elli
(1889-1942, ermordet im »Vernichtungslager
Kulmhof), Valerie, genannt »Valli
(1890-1942, ermordet im »Vernichtungslager
Kulmhof), und Ottilie, genannt
»Ottla (1892-1943)
auf. In Prag ging er zur Schule und studierte er. Wenn er nicht
gerade auf einen seiner zahlreichen Reisen ins Ausland war oder
wegen verschiedener Erkrankungen andernorts längere Kuraufenthalte
hatte, wohnte er fast immer im Haushalt seiner Eltern, die ein
Modegeschäft (Galanteriewaren) in der Prager Innenstadt betrieben.
Erst kurz vor seinem Tod zog er nach Berlin, wo er ab •
September 1923 ein knappes halbes
Jahr mit »Dora Diamant
(1898-1952) lebte, bevor er in ein Sanatorium
in Kierling
bei Wien eingewiesen wurde, wo er am
• 3.6.1924 an den Folgen seiner
Tuberkuloseerkrankung verstarb. Im Oktober 1921 beklagt Kafka in
einer Tagebuchnotiz, dass er • "von
Prag nie loskam", sämtliche Angebote dazu abgelehnt und mit dem
Verbleib in der Stadt nur dem Sinnlosen Zutritt in sein Leben
gelassen habe: seinem Jurastudium, seiner Arbeit im Büro usw. Hier
hat er sich auch im Zusammenleben im • "Grenzland
zwischen Einsamkeit und Gemeinschaft" eingerichtet,
wogegen die Insel Robinsons ein lebendiges schönes Land gewesen sei.
Was Franz Kafka
zeitlebens an Prag gebunden hat, ist also sehr vielschichtig und
kann auf eine Vielzahl persönlicher Gründe zurückgeführt werden. Es
hat aber auch mit dem Leben in Prag selbst zu tun, weshalb es lohnt,
einen genaueren Blick darauf zu werfen. Prag war dabei ein
besonderes Pflaster, denn es zeigte, wie kaum ein anderer Ort "wie
ein Seismograph die Spannungen und Gegensätze des Vielvölkerstaates"
(Alt
2005/22008, S.37), in dem Franz Kafka aufwuchs und
die meiste Zeit seines Lebens verbrachte.
"Dass ein Werk wie das seine nur in Prag entstehen konnte",
betont auch
Stach
(2014/2016 S.32) und konstatiert weiter, "dass es die
historische und soziale Atmosphäre Prags auf jeder Seite atmet, ist
inzwischen Gemeinplatz". Worauf es aber wirklich ankomme, sei die
Tatsache, dass jede seiner Zeilen "durch den Filter einer
erschreckenden, oft eisigen intellektuellen Wachheit und einer
bildgesättigten, unnachgiebigen Reflexivität" gehe. Zudem sei Kafka,
wie Tausende andere auch, seiner Geburtsstadt nicht bloß "verhaftet"
gewesen, sondern habe daraus auch den Impuls, ja gleichsam den
Auftrag gezogen, dem Rätsel dieser Bindung auf den Grund zu gehen.
(vgl.
ebd.6, S.33) Aus diesem Grunde gehörten auch "zu seinen
Lebensthemen die Macht der Vergangenheit über die Gegenwart, das
gespenstische Rumoren der ›Vorwelt‹ (besonders vernehmbar im August
1914) und die jederzeit zu gewärtigende, jähe Wiederauferstehung
dessen, was historisch bereits abgetan schien: all das Ausdruck
eines eigentümlichen, in seiner Prager Lebenswelt verankerten
Bewusstseins von Zeit und Geschichte." (ebd.)
Kafka habe die "Verflechtung von individuellem und historischen
Schicksal deshalb schon sehr empfunden, weil er damit einschlägige
Erfahrungen machte: Er wurde am Rand des Prager Ghettos geboren,
kurz vor dessen endgültigem Untergang. Er war einem antisemitischen
Denken und Sprechen ausgesetzt, in dem das Mittelalter scheinbar
ungebrochen fortdauerte. Er lernte Menschen kennen, die daran
glaubten, dass Juden rituelle Morde begingen, und die im selben
Atemzug von der Zukunft der tschechischen Nation schwärmten. Er traf
Ältere, die sich noch an die letzten öffentlichen Hinrichtungen in
Prag erinnern konnten und die jetzt die ersten Autos und
Kinematographen bestaunten. Und er wohnte viele Jahre am Altstädter
Ring, an jener sozialen Bühne also, auf der man immer aufs Neue die
Ereignisse von 1620/21 beschwor, den Weißen Berg, die Exekutionen
und Vertreibungen, ganz so als handle es sich um vitale Erinnerungen
derer, die sich hier versammelten. Wie vieles davon Inszenierung
war, durchschaute Kafka; wie wenig an Inszenierung es aber bedurfte,
um der realen Gewalt des Vergangenen neue Bahn zu brechen, das
fühlte und erlebte er. Zeitschichten, die sich unter äußerem Druck
wie Eisschollen über- und ineinanderschieben, waren Kafka auch aus
der jüdischen Vorstellungswelt vertraut, wie unzulänglich auch immer
sie ihm überliefert wurde." (ebd.,
S.33f.)
Als Franz Kafkas
Vater • Hermann Kafka (1852–1931) in
der zweiten Hälfte der1870er Jahre nach Prag kam, stand der Stadt
ihre Entwicklung zu einer modernen Metropole noch bevor. Trotzdem
hatte die Industrialisierung schon angefangen, die Stadt zu
verändern. Am Stadtrand, in den einst malerischen Vororten
entstanden neue Fabriken. Die aufkommende Industrialisierung des
Königreichs Böhmen führte zu dem mit diesem Prozess überall
einhergehenden Strukturwandel. Überall dort, wo der große Bergbau-,
Holzverarbeitungs- und Stahlbetriebe entstanden, suchten die in
einer Landflucht in die urbanen Zentren strömenden pauperisierten
Landarbeiter*innen Arbeit und Brot. Landflucht und Urbanisierung
verschärften dabei die ohnehin schon bestehenden sozialen Gegensätze
zwischen dem deutschen wirtschaftlichen Eliten und dem in den
Städten konzentrierten tschechischen Industrieproletariat. Auch eine
große Zahl böhmischer Dorfjuden, die "eine besondere soziale Gruppe"
in Böhmen und Mähren darstellte, "die sich in ihrer an die dörfliche
Umgebung angepaßten Lebensweise von der städtischen Bevölkerung
unterschied" (Wagnerová
22003, S.21), zog es in die Städte, da sie auf dem
Land keine wirtschaftliche Zukunft mehr sahen. Sie machten fortan
den christlichen Händlern in den Städten Konkurrenz und stießen dort
auf deren Widerstand.

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Das Stadtbild Prags
war gegen Ende des 19. Jahrhunderts von den Gegensätzen von
altstädtischem Kern und einer die moderne Zeit archetektonisch
abbildenden neuen Zentrum um den Wenzelsplatz und der Gegend um den
Altstädter Ring gekennzeichnet, wo nach und nach neue massige und
mehrstöckige Wohngebäude entstanden, die den wohlhabenderen
Bürgerfamilien der Stadt eine vergleichsweise angenehme Komfortzone
schufen, die im krassen Gegensatz zu den immer noch mehr oder
weniger katastrophalen Wohnverhältnissen standen, in denen das
entstehende Industrieproletariat und andere sozial unten stehende
Schichten in den Vororten (Karlín, Holešovice , Libeňwie und Smíchov)
in ihren düsteren Mietskasernen zu leben hatten. Auf so manchen
Besucher der Stadt haben die verwinkelten und dunklen Gassen, die
sich durch die Altstadt zogen, die aber auch "Orte des Lebens" (Wagnerová
22003, S.66) waren, die "von einer Menge Menschen,
die hier unterschiedlichen Tätigkeiten nachgingen – von den
Straßenköchinnen mit ihren mobilen Öfchen [...] bis hin zu den
Dienstmädchen, die unaufhörlich schwere Bütten mit Wasser trugen" (ebd.)
einen verklärt romantischen Eindruck gemacht, gewöhnlich aber traute
sich wohl kaum einer der gutsituierten Bürgerinnen und Bürger in
Gegenden, wo sich "sinistre Spelunken, schmutzige Kneipen und
Bordelle" (Alt
2005/22008, S.45) aneinanderreihten und alles nach
eintretender Dunkelheit nur sehr spärlich beleuchtet war.
Was für ein
Gegensatz dazu bot das neue Zentrum um den Wenzelsplatz und den
Altstädter Ring, wo diejenigen eine Bleibe für ihre Geschäfte und
Familien fanden, die den gesellschaftlichen Aufstieg geschafft
hatten. Hier war der Altstädter Ring von seit den 1890er Jahren
nachts von Gaslaternen beleuchtet, hier pulsierte das Leben der
städtischen überwiegend deutschen Oberschicht, hier sah man einander
und wurde gesehen, hier gab es nicht nur klassizistische Fassaden,
die eine traditionsreiche Gediegenheit verströmten, sondern auch
Theater, Kabaretts, Lichspielhäuser und zahlreiche Bars und
Restaurants, in denen man es standesgemäß gutgehen lassen konnte.
(vgl.
ebd., S.43) Rund um die Mariensäule auf dem Altstädter Ring
findet auch der Markt statt, auf dem Marktfrauen aus der Umgebung
bis sieben Uhr in der der Frühe ihre Produkte solange zum Verkauf
anboten, als keine Marktgebühr fällig wurde. Auch ein immer weiter
ausgebautes Netz für die elektrische Eisenbahn durchzog seit Anfang
des Jahrhunderts die Stadt. Das alte Zentrum der Stadt Prag um den
Altstädter Platz sei eine "Bühne" gewesen, betont
Stach (2014/2016 S.15): "ein weitläufiger, beinahe einen Hektar
beanspruchender, von mehreren Seiten zugänglicher Schauplatz, doch
wohlgegliedert und übersichtlich genug, um das Gefühl eines
abgegrenzten und symbolisch erhöhten Raums zu vermitteln." Wie in
einem Brennpunkt hätten sich in diesem Areal "die sozialen Energien
einer ganzen Region" verdichtet.
(ebd.)
Außer den die
moderne Topographie der Stadt kennzeichnenden großen Plätze,
Flanier- und Einkaufsstraßen im Stadtzentrum prägten auch viele
Grünanlagen und Parks, z. B. der Chotek-Park, der Rieger- und der
Stadtpark das Gesicht der Stadt, in der sich zahlreiche Bürgerinnen
und Bürger regelmäßig zu ihrem Sonntagsspaziergang einfanden.
Bei der
Volkszählung von 1847 lebten 66.046 Deutsche und 36.687 Tschechen in
der Stadt. Bedingt durch die Industrialisierung der Prager Vorstädte
stieg die Zahl der tschechischen Einwohner von da an sprunghaft an.
In nationaler Hinsicht war die Bevölkerung der Stadt ebenso
gespalten wie in sozialer. Unter der Oberfläche gärten die Konflikte
weiter. Sie konnten nur so lange latent bleiben, solange alle
Konfliktparteien mehr oder weniger stillhielten "jede der
Bevölkerungsgruppen ihre traditionelle Rolle spielte - die Tschechen
diejenige des einfachen Volkes, die Juden die der beherrschenden
Kraft innerhalb der Geschäftswelt und die Deutschen, privilegiert
durch den deutschen Charakter des österreichischen Staates, die
Rolle der Oberschicht". (Wagnerová
22003, S.64)
Vor allem die
Tschechen wollten aber eine Änderung des Status quo. Sie gehörten
überwiegend der Unterschicht an. Im Rahmen der aufkommenden
tschechischen Nationalbewegung für die Unabhängigkeit Böhmens von
der strebten deutschen Herrschaft und kämpften sie immer stärker
darum, ihre kulturelle Identität und Sprache gegen die Vorherrschaft
der höher angesehenen deutschen Kultur und Sprache öffentlich
durchzusetzen. Vehement forderten sie Chancen für den
gesellschaftlichen Aufstieg und die Teilhabe an Bildung und Kultur
ein, die von den der gesellschaftlichen Ober- und Mittelschicht
angehörigen Deutschen dominiert wurde. Diese verteidigte ihre
Position "mit ideologischen Gegenentwürfen, unter denen die
Vorstellung von der deutschen Kulturnation der mächtigste und
einflußreichste blieb." (Alt
2005/22008, S.33) Es dauerte bis zum Beginn der
1880er Jahre, bis die deutsche Bevölkerungsminderheit ihren
übermächtigen Einfluss auf das »Königreich
Böhmen verloren, das schon lange "ein künstliches politisches
Gebilde, dessen innere Spannungen au dem Widerstreit der nationalen
Interessen resultierten." (ebd.)
Immer wieder kam es
zu handfesten Konflikten zwischen beiden Bevölkerungsgruppen. Mal
ging es um die Einführung von Tschechisch als zweite Amtssprache,
mal um andere kulturelle und gesellschaftliche Fragen. So kam es
auch nach 1900 immer wieder zu gewalttätigen Demonstrationen,
Straßenkämpfen und Plünderungen und an den Universitäten und Schulen
prügelten sich die verfeindeten Gruppen. All das schuf das Klima
"einen latenten Bürgerkrieges als Abbild jener destruktiven Kräfte,
welche die nur oberflächlich harmonisierte Gesellschaft Böhmens
beherrschten." (ebd.,
S.35) Nach und nach verringerte sich durch den Zustrom tschechischer
Landarbeiter*innen im Zuge der böhmischen Industrialisierung auch
der Anteil der Deutschen in Prag.
Neben dem Gegensatz
von Tschechen und Deutschen sorgte auch der Antisemitismus für eine
weitere Spaltung der Gesellschaft Prags. Um 1880 lebten bei einer
Gesamtbevölkerung von 162.300 Einwohner*innen 16.774 Juden (10,3%)
in der Stadt. Seit 1848 waren sie weitgehend gleichberechtigt und
hatten die vollen Bürgerrechte. 1849 wurde das im 13. Jahrhundert
geschaffene jüdische Ghetto, die abgeschlossene »Prager
Judenstadt mit ihren kleinen Häusern in verwinkelten
Gassen aufgelöst, so dass die jüdische Bevölkerung fortan im ganzen
Stadtgebiet wohnen durfte. Wer es sich leisten konnte zog weg, so
dass das ehemalige Ghetto immer weiter herunterkam. Zwischen 1893
und 1913 wurde es zum größten Teil abgerissen und machte neuen
luxuriöseren Wohngebäuden in Zentrumsnähe Platz. Sechs Synagogen,
der alte Jüdische Friedhof, die Zeremonienhalle und das alte
Jüdische Rathaus blieben auf Grund von Bürgerprotesten an ihrem
Platz stehen. 1850 wurde das Viertel umbenannt in Josephstadt, nach
•
Kaiser Joseph II.(1741-1790), der den zuvor immer wieder
diskriminierten Juden mit dem
Toleranzpatent 1781 eine freiere Ausübung ihrer Religion
ermöglichte.

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Wenngleich die Zahl
der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung wegen einer
größeren Auswanderungswelle nach Amerika Ende des 18. Jahrhunderts
etwas gesunken ist, blieb ihr Anteil in Prag bis über die
Jahrhundertwende hinweg stabil. Dies war vor allem auf die
anhaltende Zuwanderung aus dem ländlichen Raum zurückzuführen, deren
Geschäfte auf dem flachen Lande für die meistens im Handel tätigen
jüdischen Familien kaum mehr eine Überlebenschance boten. Hinzu
kamen aber auch eine große Zahl jüdischer Flüchtlinge und
Vertriebener, die wegen den zu dieser Zeit in »Galizien
und »Russland
unter »Zar »Nikolaus
II. (1868-1918) zur Staatsräson erhobenen »Judenpogromen
in die Stadt kamen. In den Städten trafen die zugewanderten Juden,
die auch dort ihre Handelsgeschäfte als Konkurrenten der ansässigen
christlichen Händler aufnahmen, "auf eine doppelte Barriere: die
Tschechen erblickten in ihnen Vertreter des kapitalistischen
Systems, das die als billig geltenden einheimischen Arbeitskräfte
ausbeutete, die Deutschen registrierten sie als Konkurrenten im
Kampf um Märkte und Kunden." (Alt
2005/22008, S.41) Und ein Weiteres kennzeichnete ihre
Lage: Weil die zugewanderten Juden immer wieder versuchten, deutsche
und tschechische Kulturelemente miteinander zu verbinden, hielt man
ihnen immer wieder das stereotype Vorurteil vom angeblich
grundsätzlichen jüdischen Opportunismus als quasi
anthropologisch-ethnische Konstante vor. (vgl.
ebd.)
Die jüdische
Bevölkerung Prags war aber auch immer wieder antisemitisch
motivierten Anfeindungen ausgesetzt, die vor allem von einigen
Vertreter der tschechischen Nationalbewegung ausgingen. Sie warfen
den Juden vor, im Konflikt zwischen der tschechischsprachigen und
der deutschsprachigen Bevölkerung Prags mit der deutschen Seite zu
sympathisieren, weil sie weiterhin Deutsch sprachen und den
Gepflogenheiten der deutschen Kultur eher folgten als der
tschechischen. zu leben. Der Judenhass in Böhmen zeigte sich nicht
wie in anderen Ländern durch die vom Staat gedeckten Pogrome. Hier
zeigte er sich verdeckter und "in perfidere(n) Formen der
alltäglichen Bespitzelung und Denunziation". (ebd.,
S.43)
So kam es in Prag
in den Jahren 1844, 1848, 1863, 1897, 1904, 1905, 1920 und 1921
insgesamt achtmal zu Wellen antisemitischer Ausschreitungen. Der so
genannte "Dezembersturm" 1897, bei dem erst das Einschreiten von
Soldaten dem Mob Einhalt bot, richtete sich gegen Deutsche wie
Juden. Er war "ein traumatisches Erlebnis aller Prager Juden der
Generation von »Max
Brod, • Franz Kafka und »Egon
Erwin Kisch“.(Zimmermann
2006, S.70) »Egon
Erwin Kisch (1885-1948) schilderte, was es bedeutete, "zu denen
zu gehören, die gehetzt, mißhandelt wurden und selbst zuhause nicht
vor dem Wahnwitz der Gasse sicher waren, mitzuerleben, wie
gebrandschatzt und zertrümmert wurde, wie der Feuerschein des
Nationalen durch die ausgebrannten Ladentüren und die zertrümmerten
Fensterscheiben züngelte". (Stölzl
1975, S.63) Auch Franz Kafka hat solche antijüdischen
Ausschreitungen und das Klima der permanenten Denunziation kennen
gelernt, selbst wenn er selbst niemals ihr direktes Opfer geworden
ist. Auf sein literarisches Schaffen dürfte es sich dennoch
nachhaltig ausgewirkt haben. Dies betont auch
Alt
(2005/22008, S.43): "Daß Macht und Ohnmacht nicht an
der Sichtbarkeit der Ordnungsverhältnisse zu messen sind, in denen
sie auftreten, gehört zu den wesentlichen Erkenntnissen, die seine
Texte ihren Lesern vermitteln".
Stach
(2014/2016 S.15)
Der tschechische
Antisemitismus hatte aber auch zur Folge, dass auch ein größerer
Teil von Juden verstärkt Sympathien für deutschnationale
Gruppierungen entwickelte, von der er sich als um Assimilation
bemühte jüdische Mittelstandsbürger wohl die soziale Integration
wünschte, die die rein rechtliche Gleichstellung unter •
Kaiser Joseph II. (1741-1790) nicht in der Form bewirkt hatte,
die sie sich vorgestellt hatten. Die aufgeheizte antijüdische
Stimmung ebbte auch im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts nicht
ab. Immer wieder kam es zu Boykottaufrufen jüdischer Geschäfte, mit
denen ihre Inhaber vom Markt verdrängt werden sollten und in
kleineren Städten ging dies sogar soweit, dass so genannte deutsche
"Bebachtungskomitees" alle als "Volksverräter" denunzierten, die in
jüdischen Läden einkauften. Hinzukamen Propagandalügen in Form von
Horrormeldungen "über religiös motivierte Blutrituale, die Juden
vorgeblich an Deutschen zu vollziehen pflegten."(
Alt
2005/22008, S.32)
Als sich mit der
Abnahme des deutschsprachigen Bevölkerungsteils nach und nach
allerdings auch die deutsche kulturelle Dominanz verringerte, hatte
dies auch Auswirkungen auf die Vorlieben und Vorbilder in der
jüdischen Bevölkerung. 1890 gaben noch 73,8 Prozent der Prager Juden
an, dass Deutsch ihre
Hauptsprache sei, während dies zehn Jahre später nur noch 43,7
Prozent erklärten. (vgl.
Alt
2005/22008, S.36) Die äußerliche Annäherung der Juden
an ihre christliche Umgebung war dabei für sie selbst "eine
selbstverständliche Überlebensstrategie, die verhindern sollte, daß
sie im Kampf zwischen Deutschen und Tschechen unter die Räder
gerieten." (Alt
ebd. S.40) Sie gingen vorwiegend Handelsberufen nach, da ihnen
seit 1849 der Zugang zu den meisten akademischen Berufen unmöglich
und der Erwerb von Grundbesitz verboten war. Und auch der
Beamtenstatus blieb ihnen verwehrt - Franz Kafka selbst war als
beamteter Angestellter bei einer öffentlichen Behörde - mit einer
geringen Zahl anderer eine Ausnahme.
Allerdings lassen
sich wohl die Anteile nationaler und konfessionell begründeter
Momente der Identität gerade auch bei der jüdischen
Bevölkerungsgruppe, die insgesamt sehr um Assimilation bemüht war,
nicht immer klar gegeneinander abgrenzen.
Hinter dieser
Entwicklung stand wohl "die wachsende Annäherung der Juden an die
tschechische Bevölkerung, die sich auch auf institutioneller Ebene
vollzog." (ebd.,
S.37) Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts waren sie noch
überwiegend Mitglieder deutscher Vereine, danach ging der Trend mehr
zu tschechischen. Trotz alledem schickten die meisten jüdischen
Familien in Prag ihre Kinder auch nach 1900 auf deutsche Schulen.
Deutsch galt eben weiterhin trotz der sonstigen gesellschaftlichen
Änderungen als Sprache der Gebildeten und diese trugen ihren
"bisweilen philiströsen Bildungsanspruch" (ebd.)
demonstrativ zur Schau, während die Tschechen mehr auf die Bedeutung
ihrer autonomen kulturellen Identität pochten.
Dennoch "(blieb)
die kulturelle Vormacht der Deutschen in Böhmen (...) als letzte
Bastion einer fragwürdigen Dominanz bis ins 20.Jahrhundert erhalten.
Wer nach sozialem Aufstieg strebte, mußte sich um Kontakt zu den
deutschen Clubs und Vereinen bemühen." (ebd.,
S.37) Diese Auffassung machte sich auch Franz Kafkas Vater • Hermann Kafka (1852–1931)
zu eigen, "der sich, wo immer es um den Ausweis seines
gesellschaftlichen Erfolgs ging, als Freund der Deutschen zu
profilieren suchte." Er hatte frühzeitig erkannt, dass
gesellschaftlicher Aufstieg, Kultur und Bildung in der Umgebung der
Deutschen zu suchen und zu finden waren. Trotzdem: Die Prager
Karls-Universität war in eine deutsche und eine tschechische
Universität aufgeteilt und stand damit auch die Konflikte zwischen
der deutschen und tschechischen Bevölkerung.
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Czechia: Prag - Der Altstädter Ring
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.10.2024