"Hier war es. Da stand sie. Diese steinernen Löwen, jetzt kopflos, haben
sie angeblickt. Diese Festung, einst uneinnehmbar, ein Steinhaufen jetzt,
war das letzte, was sie sah. Ein lange vergessener Feind und die
Jahrhunderte, Sonne, Regen, Wind haben sie geschleift. Unverändert der
Himmel, ein tiefblauer Block, hoch, weit. Nah die zyklopisch gefügten
Mauern, heute wie gestern, die dem Weg die Richtung geben: zum Tor hin,
unter dem kein Blut hervorquillt. Ins Finstere. Ins Schlachthaus. Und
allein.
Mit der Erzählung geh ich in den Tod.
Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts was ich hätte tun oder
lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel
geführt. Tiefer als von jeder andren Regung, tiefer selbst als von meiner
Angst, bin ich durchtränkt, geätzt, vergiftet von der Gleichgültigkeit
der Außerirdischen gegenüber uns Irdischen. Gescheitert das Wagnis,
ihrer Eiseskälte unsre kleine Wärme entgegenzusetzen. Vergeblich
versuchen wir, uns ihre Gewalttaten zu entziehn, ich weiß es seit langem.
Doch neulich nachts, auf der Überfahrt, als aus jeder Himmelsrichtung die
Wetter unser Schiff zu zerschmettern drohten; niemand sich hielt, der
nicht festgezurrt war; als ich Marpessa traf, wie sie heimlich die Knoten
löste, die sie und die Zwillinge aneinander und an den Mastbaum
fesselten; als ich, an längerer Leine hängend als die anderen
Verschleppten, bedenkenlos, gedankenlos mich auf sie warf; sie also
hinderte, ihr und meiner Kinder Leben den gleichgültigen Elementen zu
lassen, und sie statt dessen wahnwitzigen Menschen überantwortete; als
ich, vor ihrem Blick zurückweichend, wieder auf meinem Platz neben dem
wimmernden, speienden Agamemnon hockte - da musste ich mich fragen, aus
was für dauerhaftem Stoff die Stricke sind, die uns ans Leben binden.
Marpessa, sah ich, die, wie einmal schon, mit mir nicht sprechen wollte,
war besser vorbereitet, auf was wir nun erfahren, als ich, die Seherin;
denn ich zog Lust aus allem, was ich sah - Lust; Hoffnung nicht! - und
lebte weiter, um zu sehn.
(aus: Christa Wolf, Kassandra.
Erzählung, Frankfurt a. M.: Luchterhand, 8. Aufl. 1986, S.5f. (=
Erzählungsanfang)