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Einen literarischen Text interpretieren (schulische Textinterpretation)
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Didaktische und methodische Aspekte: Die schulische
Interpretationspraxis zwischen den Welten
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Das "Gespenst der
richtigen Interpretation" - Aussagen führender
Literaturwissenschaftler über das Interpretieren bei der
Werkinterpretation
Wenn von Hermeneutik
und oder hermeneutischen Verfahren oder Methoden im Literaturunterricht
an den Schulen die Rede ist, dann kann damit Unterschiedliches gemeint
sein. Hermeneutik, wie sie
literaturdidaktisch modelliert wird, und wie sie hier gesehen wird, geht von der
sozialen Praxis der Texterschließung und Interpretation in der Schule
aus.
Immer geht es dabei
aber um Fragen des Verstehens literarischer Texte. In der Regel handelt es sich
um Fragen, die mit der Anwendung des sogenannten
▪ hermeneutischen Zirkels zusammenhängen, der als ein
grundlegendes Erschließungsverfahren für literarische Texte angesehen
wird und in der Geschichte des Literaturunterrichts und der
Literaturdidaktik unterschiedliche Vorstellungen darüber nach sich
gezogen hat, wie und mit welchen Zielen literarische Texte in der Schule
zu behandeln sind und wie
der Schreibprozess für eine ▪
schriftliche Textinterpretation organisiert werden soll.
Von den relevanten
hermeneutisch ausgerichteten Theorien und literaturwissenschaftlichen
Ansätzen sind vor allem bestimmte Prinzipien der ▪
Werkinterpretation und der ▪
Rezeptionsästhetik im Literarunterricht seit langem angekommen. Das
hat verschiedene Gründe, liegt aber auch wohl daran, dass andere
antihermeneutisch ausgerichtete Ansätze wie z. B. strukturalistische
Literaturtheorien, es nach wie vor nicht überzeugend geschafft haben,
das Verstehen alternativ zur Hermeneutik zu konzeptualisieren. (vgl.
Baasner
1997/22006, S.162)
Die Autonomie des Werks
Die Vertreter der
Werkinterpretation, die auch, wenngleich nicht vollständig synonym, auch
als textimmanente Interpretation bezeichnet wird, betonen die
Autonomie des literarischen
Werkes, die auf seiner ästhetischen Ganzheit beruht, die dann
"Vollkommenheit" repräsentiert, wenn sie "keine Spuren seiner
Entstehungsgeschichte" aufweist
(Staiger
1951/1982, S.16 f.).
Sozialgeschichtlich
steht dieses Autonomiekonzept im Kontext eines Bemühens, die
ideologische Instrumentalisierung von Kunst und Literatur im
Nationalsozialismus zu überwinden. Dies gilt auch, wenn man bedenkt,
dass die neuartige Methode, angesichts ihres "politischen Sündenfalls" (ebd.,
S.45) im Dritten Reich der nach 1945 unter Beschuss geratenen
Fachwissenschaft einen Fluchtweg aus ihren politisch-ideologischen
Verstrickungen mit dem ideologischen System der NS-Diktatur anbot. (vgl.
Conrady 1967, S.84f., vgl.
ebd.)
Etwas genauer besehen,
ist die neuartige formalästhetische ausgerichtete und ahistorische
Interpretationslehre der ▪
Werkinterpretation eben auch
nicht nur ein Reflex auf die von "Naivität, Unverfrorenheit und
wissenchaftlich(m) Dilettantismus" (Klein/Vogt
1971/31974, S.34) charakterisierte rassistische
völkisch-antisemitische "Deutschkunde" der Literaturwissenschaft im
Nationalsozialismus.
Denn diese konnte
nahtlos an die seit der Gründung des deutschen Germanistenverbandes im
Jahr 1912 von der sogenannten "Deutschkundebewegung"
in allen Unterrichtsfächer der Weimarer Republik längst etablierten
nationalistischen "deutschkundlichen Gedanken" über deutsche Kultur
(deutsche Kunst, deutsche Sitten und Gebräuche, das deutsche Staats- und
Wirtschaftsleben oder die deutschen Landschaften anknüpfen. Diese
Bewegung für sich zu vereinnahmen, ihre Ziele zu radikalisieren und der
nationalsozialistischen Ideologie und Rasselehre anzupassen, war
jedenfalls ein Leichtes. (vgl.
Paefgen
22006, S.13ff.)
Dass man der Literatur
außer der Indoktrination mit der nationalsozialistischen Ideologie auch
noch den Raum gab, einen "ideologisch gefärbten Innerlichkeitskult" (ebd.,
S.15) zu pflegen, kam auch diesen nationalistischen Deutschtümeleien
mehr als entgegen. Mit der Auswahl bestimmter Themen und literarischer
Formen und Regeln zu ihrer Rezeption, z. B. mit der höchst emotionalisierten, kitschigen, sentimentalen
und dramatisch pathetischen Rezeption von Naturlyrik,die zur
Blut-und-Boden-Ideologie passte, wurde die Literatur "als Ersatzreligion
funktionalisiert, mit deren Hilfe emotionale Bedürfnisse und Sehnsüchte
befriedigt werden konnten". (ebd.)
Dies zeigt darüber hinaus, wie perfide die Nationalsozialisten "das
Potential der Literatur, Emotionen wecken und bewegen zu können, [...]
in den Dienst "einer übertriebenen Heimattreue" (ebd.,
S.16 )und falschen Heldentums für sich zu nutzen wussten.
Wissenschaftlich waren
schon vor dem Nationalsozialismus Bestrebungen im Gange, sich von der in
den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts weithin unangreifbaren
geisteswissenschaftlichen Methode abzusetzen, die auf die ▪
Arbeiten Wilhelm Diltheys
(1833-1911) zurückgehen. Dessen Konzept, wonach sich Leben und
Literatur gleichermaßen "weitgehend der begrifflichen Erfassung"
entziehen und Literatur nur "intuitiv zu erschauen, [...], zu erfühlen
oder 'kongenial" von einer dazu befähigten intellektuellen Elite
"nachzuempfinden" (Klein/Vogt
1971/31974, S.31) ist, wurde von Vertretern der neuen
Richtung und ihrem Dogma, Dichtung müsse sich allein aus dem Text
verstehen lassen, schon in den 1920er Jahren nicht mehr geteilt.
Allerdings fanden ihre neuen Theorien in dieser Zeit noch wenig Gehör.
Erst nach 1945 stimmten
die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, dass sich die
Werkinterpretation auf breiter Flur durchsetzen konnte. Jetzt passte
auch ihre wissenschaftliche Prämisse "Das sprachliche Kunstwerk lebt als
solches und in sich." (Kayser
1968, S. 24) in die Zeit, die bei der Interpretation dazu führte,
dass alles "Außerliterarische" (Kayser) nahezu vollständig ausgeblendet
wurde. Was die vorgeisteswissenschaftlichen Positivisten mit ihrer
geradezu exzessiv-minuziösen"Erforschung von Biographien,
Entstehungsgeschichten von Werken, im Vergleich von Fassungen und dem
Nachspüren von Einflüssen und Bezügen" noch als ihre Hauptaufgabe
angesehen hatten und was die spekulative, subjektfixierte auf das
Erleben von Literatur Subjektfixierung der Dilthey'schen
Geisteswissenschaft angestrebt hatte, konnte der von der werkimmanenten
Interpretation der Nachkriegszeit herbeigeführten "»kopernikanischen
Wende« (Klein/Vogt
1971/31974, S.43) in der Literaturwissenschaft nun nicht
mehr standhalten.
Bis in die 1960er Jahre hinein war
die Werkinterpretation die bedeutendste Schule der
Literaturwissenschaft, die Beschäftigung und Umgangsweisen mit Literatur
und Kunst maßgeblich bestimmte.
Emil Staigers
(1908-1987) Ansatz der Werkinterpretation
»Emil
Staiger (1908-1987), einer ihrer bedeutendsten Vertreter, hält
Fragen nach den Kontexten bei der Interpretation für schlichtweg
"sinnlos"
(ebd.).
Fragen wie "Woher hat es der Dichter?"
(Rusterholz
1996c, S.368) gehen seiner Ansicht nach an der besonderen Qualität
des literarischen Werkes vorbei. Sie tun dies, weil sie Kausalität im
und um das Werk herum konstruieren, die in dessen "freie(m) Spiel"
(Staiger
1951/1982), in dem "eines (...) gelöst im andern schwingt)"
(ebd.), und
in der "makellose(n) Schönheit"
(ebd.) des
Werkes prinzipiell aufgehoben ist.
Was Staiger im
Gegensatz zur Frage "Woher hat es der Dichter?" im Sinne der
Rekonstruktion des historisch-sozialen Kontexts interessiert, ist "die
Frage:
Was sagt uns dieser Text hier in dieser einmaligen neuen Situation?"
(Rusterholz
1996c, S. S.372)
Wie weit indessen
Staigers "Ablehnung der historisch-soziologischen Perspektiven"
reicht, ist allerdings strittig. So kann sie man wohl auch sehen als
Widerstand gegen "Versuche, das Kunstwerk auf die Funktion als
historischen Quellentext zu reduzieren" (ebd.,
S. S.373), ohne Staiger die Absicht einer prinzipiellen "Enthistorisierung
der Texte" zu unterstellen. Was ihn nämlich interessiere, sei "nur
die Geschichte im Text, nicht der Text in der Geschichte", wie
Rusterholz
(1996c, S. S.374) betont.
Dass es für Staiger vor allem um das
Ästhetische eines literarischen Textes geht, welche das subjektive
Empfinden des Lesers aufspüren sollte ("zu begreifen, was mich bewegt" (Staiger
1939/1953, S,11) lautete seine Maxime), beruhte auf seinem
Verständnis von der autonomen, in sich abgeschlossenen ästhetischen
Einheit und Ganzheit von höherwertiger Dichtung, die zu verstehen
eigentlich nur einem "psychischen Mechanismus" (Schulte-Sasse/Werner
1977/91979, S.29) obliegt, mit dessen Hilfe sich ein
Leser einen vertieften Zugang zum Text verschaffen kann. Es sind sind
dies psychische Prozesse der Einfühlung und des Erlebens von Literatur.
Allerdings verfügt nicht jeder Leser über ein gleichermaßen ausgeprägtes
Einfühlungsvermögen für die Dichtung oder die dafür notwendige
Erlebnisfähigkeit. Beides muss sich entwickeln und in einem Prozess der
Sensibilisierung für die Anmutungsqualitäten der in Frage kommenden
Texte erworben werden, ehe es in deren Folge zu einem unmittelbaren
Verstehen kommen kann, bei dem es "zu einem 'Kurzschließen' zwischen dem
ästhetischen Objekt und dem Rezipienten kommen kann." (ebd,
S.298) Die Einfühlung in Texte, die einen "ansprechen", auch wenn man
sie noch nicht verstanden hat, und uns, weil es ihnen gelingt uns
emotional zu "berühren", dadurch motivieren, "sie wieder zu lesen, uns
ihren Zauber, ihren dunkel gefühlten Inhalt zu eigen zu machen", ist für
Staiger (1951/21955,
S.12) der Königsweg zum Verstehen von Dichtung. Ob man sich als
Leseexperte dabei auf sein Gefühl verlassen kann, hängt auch von der
Qualität und Vielfalt der sich im einfühlenden Verstehen ständig weiter
vollziehenden "Rückkopplungen zwischen Text und Rezipient ab, die
schließlich dadurch für "Evidenz" (ebd.,
S.8) sorgen, dass sich "ein sicheres, sich seiner selbst gewisses Gefühl
des Verständnisses" (Schulte-Sasse/Werner
1977/91979, S.29) bei dem Rezipienten einstellt,
"was im Ernst aber dich nur heißen kann, dass 'Eingefühltes' (d. h. in
der Dichtung Liegendes) und vom erkennenden Subjekt Hineingelegtes sich
zu einem undurchschaubaren und untrennbaren Konglomerat von subjektiven
und objektiven Einsichten verbinden." (ebd.)
Staigers "diffus-subjektivistische,
allenfalls scheinobjektivistische Methode der Bedeutungsanalyse" (ebd.) unterschied ihn nicht nur
von anderen Vertretern der Werkinterpretation. Dieser Subjektivismus
führte im Zusammenhang mit der allgemeinen Politisierung, die im Zuge
und im Anschluss an die Studentenbewegung der 1968er Jahre auch vor den
"Literaturpäpsten" keinen Halt machte, zu dem raschen Bedeutungsverlust
der Lehren, die von der Autonomie des sprachlichen Kunstwerks ausgingen
und mit ihrer klassizistischen Orientierung dazu beitrugen, dass "auf
Funktionalität ausgerichtete literarische Bewegungen insbesondere des
Jungen Deutschland, des Vormärz sowie der Literatur der Weimarer
Republik und des Exils" (Becker/Hummel/Sander
22018, S.204) aus dem fachwissenschaftlichen Diskurs
bis dahin ausgegrenzt geblieben waren.
Die Konzeption der
Werkinterpretation Wolfgang Kaysers (1908-1960)
Für »Wolfgang
Kayser (1906-1960) neben »Emil
Staiger (1908-1987) wohl der wichtigste Vertreter der
Werkinterpretation, geht es bei der "Werkinterpretation"
(Kayser 1958,
S. 45f.) vor allem um das Verstehen der "Ganzheit" (ebd.)
des "autonomen" Sprachkunstwerks, das sich durch dadurch, dass es
ästhetische, strukturelle und inhaltliche Momente zu einer kunstvollen
Einheit gestaltet, auch von den ästhetisch geringerwertigen
literarischen Gebrauchsformen wie z. B, dem Essay, dem Tagebuch,
Biografien und Reiseberichten unterscheidet, die dementsprechend auch
keine Gegenstände lieraturwissenschaftlichen Forschungsinteresses werden
können. (vgl.
Klein/Vogt 1971/31974, S.47)
Im Unterschied zu Staiger, der "die im
subjektiven Gefühl gründende Interpretation betont" (Rusterholz
1996c, S. S.383), legt Kayser besonderes Gewicht "auf den objektiv
fassbaren Formkomplex". (ebd.)
Indem er "Brüche und Spannungen ästhetisch legitimiert" (ebd.),
relativiert er auch das fragwürdige Stimmigkeitskonzept von Staiger. Er
hält allerdings daran fest, dass solche Unstimmigkeiten innerhalb des
Werkganzen nicht zum Tragen kommen.
Das Werkganze soll im Zuge des
Verstehensprozesses, der bei jeder Interpretation stattfindet, als ein
die "Sinn- und Funktionseinheit bildenden Formkomplexes" (ebd.)
erfasst und verstanden werden. Dazu bringt die Interpretation die
erfassten "Formelemente in einen Funktionszusammenhang". (ebd.)
Um diesen
Funktionszusammenhang sichtbar zu machen, müssen "alle an der Gestaltung zur einheitlichen Gestalt beteiligten
Formelemente in ihrer Wirksamkeit und in ihrem Zusammenwirken" (ebd.)
erfasst und verstanden werden. Dazu gehören die Elemente der äußeren Form
wie z. B.
Klang, Rhythmus, Wort, Wortschatz, sprachliche Figuren, grammatische und
andere Strukturen sowie
Geschehnisse, Motive, Symbole, Gestalten, Ideen und "und was sich sonst an
Gestaltungsmitteln erfassen lässt". (ebd.)
Was sich auch immer an
derartigen Formelementen in einem literarischen Werk identifizieren
lässt, muss stets in seiner Funktion für das Ganze gesehen werden,
einzelne sprachliche und stilistische Mittel dienen dabei "als
Wegmarken ins Zentrum" (ebd.) des Werkes.
Der Prozess der
Erschließung, des Verstehens und der Interpretation ist prinzipiell
hermeneutisch: "Die Interpretation steigt überhaupt nicht vom Kleinen,
Einfachen zum Größeren, Komplexen auf, sondern bewegt sich in dem steten
Schwingen vom Teil zum Ganzen und Ganzen zum Teil." (ebd.)
Was die verschiedenen Richtungen der Werkinterpretation eint, ist in
jedem Fall ihr gemeinsames Ziel, nämlich beim Interpretieren die
"Fügungsart des Ganzen zu fassen." (Rusterholz
1996c, S.368) Insbesondere ist es wohl der werkimmanenten
Interpretationslehre Wolfgang Kaysers u danken, dass die
Literaturwissenschaft "einen präzisen und differenzierten
Begriffsapparat der literaturwissenschaftlichen Methodik entwickelt" (Klein/Vogt
1971/31974, S.47) hat. Die textwissenschaftliche Basis
ihres Vorgehens führte darüber hinaus, und dies ist bis heute auch in
der Literaturdidaktik spürbar, dass literarisches Lesen als
textnahes
Lesen ("close reading"), ohne "die großzügigen Entwürfe der
geisteswissenschaftlichen Richtung" (Klein/Vogt
1971/31974, S.47) verstanden wurde.
Aspekte Kritik der Werkinterpretation
Ihr Grundproblem
der Werkinterpretation scheint indessen weniger die
"faktische Beschränkung auf Literatur- und Kulturgeschichte" (ebd.,
S.381) zu sein, die andere Kontexte wie das politische Geschehen
oder Sozialgeschichtliches ausblendet.
Und auch die Tatsache
dass sie sich diejenigen "Formen der Kunst" beschränkt, "die
noch eine gewisse Unmittelbarkeit des Zugangs ermöglichen" (ebd.),
ist wohl
Der gravierendste Mangel aber
liegt wohl im einseitig
klassizistischen Kunstbegriff, der die Norm der Interpretation
ebenso bestimmt, wie die Norm dessen, was als Kunst zu gelten habe:
Das Kunstwerk muss als stilistisch kohärente Einheit zu beschreiben sein;
das historische Wissen wird auf seine heuristische Funktion zum Erweis
dieser »Stimmigkeit« beschränkt". (ebd.,
S.381)
Die Werkinterpretation kümmert sich eigentlich nur am Rande um
Außertextliches. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie nicht auch eine
literaturhistorische oder kulturgeschichtliche Einordnung des Textes
vornimmt. Die Analyse solcher Aspekte, die dazu viele andere Komponenten
außer Betracht lässt, geht allerdings der "eigentlichen Analyse
allenfalls voran". Im Zentrum ihres Interpretationsansatzes steht
stattdessen die Freilegung der syntaktischen und sprachlichen Machart (=
objektive Analyse), um sodann auf der Basis der Annahme einer engen
Verbindung von Gestalt und Gehalt die inhaltliche Aussage dieses
ästhetischen Textgebildes freizulegen (= subjektive Deutung)." (Becker/Hummel/Sander
22018, S.203)
Die von der Hermeneutik und vor allem der Werkinterpretation
in den 1960er Jahren dominierte Interpretationspraxis war, wie
Steinmetz (1995, S.476) betont, war "dem Gespenst der so
genannten richtigen Interpretation verfallen". Dabei galt die
Interpretation für richtig, "welche die eigentliche, die
genuine, nur dem einzelnen und bestimmten Text eignende
Bedeutung aufzuspüren und darzustellen vermochte." Dazu stellte
man immer wieder "das (häufig psychologisierende) Verstehen der
geisteswissenschaftlichen Methode dem Erklären und Begründen
naturwissenschaftlicher Auslegung" einander gegenüber und
erklärte, dass sich die "Verwirklichung der richtigen
Interpretation" dadurch erreichen lasse, "wenn die Bedeutung im
Text und im Text allein, unter Verzicht also auf alle
textexternen Faktoren, gewonnen werden" könne. (ebd.)
Die Werkinterpretation unterschlägt dabei vor allem, die
aktive Rolle des Lesers bei der Sinnkonstruktion und die
"Tatsache, dass Sinn und Bedeutung eines Textes im Akt des
Lesens und im historischen Prozess unabhängig vom Autor
variieren." (Becker/Hummel/Sander
22018, S.193)
Die Tatsache, dass sie die Literatur
ohne ihre kontextuellen Bezüge verstehen will, hat die
werkimmanente Interpretation im literaturwissenschaftlichen
Diskurs spätestens seit den 1990er Jahren endgültig ins Abseits
bugsiert. Für die Neuorientierung und Differenzierung
literaturwissenschaftlicher Ansätze unter der Perspektive
"interdisziplinärer Kulturwissenschaften" und der damit
einhergehenden Öffnung der Literaturwissenschaft zu den Kultur-,
Medien- und Gesellschaftswissenschaften hat sie
begreiflicherweise wenig beizutragen. (vgl. (ebd,, S.205) Dabei
darf das Kind aber nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden: Der
hermeneutische "Verstehens- und
Auslegungsprozess" bleibt dessenungeachtet "die theoretische Basis
jeglicher Interpretation" und ihrer verschiedenen Zugänge und
Umgangsweisen von Literatur. (ebd., S.193)
▪
Einen literarischen Text interpretieren (schulische Textinterpretation)
▪
Didaktische und methodische Aspekte: Die schulische
Interpretationspraxis zwischen den Welten
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Das "Gespenst der
richtigen Interpretation" - Aussagen führender
Literaturwissenschaftler über das Interpretieren bei der
Werkinterpretation
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023
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