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 Hermeneutische Modelle

Regeln für das Aufstellen von Interpretationshypothesen

 
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Einen literarischen Text interpretieren (schulische Textinterpretation)

Hermeneutische Verfahren organisieren ihren Textverstehensprozess in einer Interaktion zwischen Text und Leser. 

Was sie Interpretation nennen, ist antihermeneutischen Positionen ein regelrechter Dorn im Auge, die der Interpretation schlechthin vorhalten, in ihrem Subjektivismus eine Beliebigkeit von Deutungen zu legitimieren, die sich in einen Text hineininterpretieren lassen. Die Frage jedenfalls nach der Richtigkeit oder Falschheit einer Interpretation, von Horst Steinmetz (1995, S.476) als " Gespenst" bezeichnet, kann die Hermeneutik aufgrund ihrer fehlenden empirischen Fundierung nicht so begründen, wie dies sonst in den Naturwissenschaften der Fall ist.

Dessen ungeachtet galt lange Zeit eine Interpretation, dann als "richtig", wenn es ihr gelang, "die eigentliche, die genuine, nur dem einzelnen und bestimmten Text eignende Bedeutung aufzuspüren und darzustellen" (ebd.) Verstehen ist dabei ein Vorgang, der "auf die inneren Vorgänge in Individuen, die in Äußerungen (Texten oder Handlungen) überliefert sind, (zielt)." (Baasner 1997/22006, S.163) Was immer einen Autor zu ihnen veranlasst hat, was er mit ihnen beabsichtigt und anderes mehr, hat sich in dem Text materialisiert und kann und muss von einem Interpreten in meistens psychologisierender Weise rekonstruiert werden.

Der dafür geeignete Modus ist der des Verstehens, weil er jedem Text unterstellt, dass er "einen wahrnehmbaren sozialen Sinn" (ebd.) besitzt, der quasi in seine sprachliche und inhaltlichen Komponenten eingeschrieben ist. Diesen auch aus einer großen zeitlichen Distanz oder trotz anderer ideologischer Voraussetzungen in seiner spezifischen Eigenheit überwiegend psychologisch-intuitiv zu erfassen und für sich und andere nachvollziehbar zu machen, darin besteht die Kunst hermeneutischer Interpretation.

In dem den Naturwissenschaften zugeschriebenen Modus des Erklärens und Begründens, der dem geisteswissenschaftlichen Verstehen oft in überspitzer Form entgegengesetzt wird, versucht man "Zusammenhänge aufgrund der Beobachtung äußerer Merkmale herzustellen, ohne zu behaupten, dass diese von innen her verstehbar wären." (ebd.)

  • Der Begriff "Analyse" fußt bei dieser Verwendung nicht selten auf der Vorstellung von einem "objektiven" wissenschaftlichen Herangehen und Umgehen mit Texten, das im Extremfall naturwissenschaftlicher Praxis vergleichbar ist. Ihm ist es vor allem darum, das erkennende Subjekt, also den Leser mitsamt seinem Kontext, vom zu "analysierenden" Objekt fernzuhalten.
    Sprechen wir dagegen heute im Alltag von Analyse, dann meinen wir häufig eine wissenschaftliche Untersuchung, die zu "objektiven", zumindest intersubjektiv haltbaren Ergebnissen gelangen will. Im Grunde blendet ein derartiges Verständnis von Analyse das untersuchende "Subjekt objektivierend aus und versucht die Frage zu beantworten: Welche Bedeutung und welchen Sinn nehme ich wahr und erkenne ich als Leser oder Leserin des Textes?" (Rusterholz 1996c, S.364)

  • "Interpretation" dagegen orientiert sich am Prozess und dem Ergebnis der Auslegung. Sie bezieht das erkennende Subjekt bewusst ein und schließt ein, dass es "die eigenen Voraussetzungen und Verfahrensweisen und die Konstituierung des Objekts mit reflektiert" (ebd.). Zugleich verlangt sie, dass der Interpret seine eigenen Voraussetzungen, seine Methoden und die Art, wie das Objekt, das es zu interpretieren gilt, zustande kommt, mit einbezieht. Dabei sind alle diese Momente aufeinander zu beziehen.

Auch wenn die Entgegensetzung Analyse = naturwissenschaftlich und Interpretation = geisteswissenschaftlich so nicht aufrechtzuerhalten ist, kann man aber doch sagen, dass Objekte oder Sachverhalte mit dem analytischen Ansatz der Naturwissenschaft aus einer gewissen Distanz und am Ideal der Objektivität orientiert untersucht, beschrieben, erklärt und/oder begründet werden. Daher kann man trotz der Tatsache, dass es in der Verwendung der beiden Begriffe eigentlich keinen Konsens gibt, doch an ihrer Unterscheidung festhalten, "da sie es erlaubt, eine komplexe literaturwissenschaftliche Tätigkeit nach bestimmten Kriterien zu differenzieren und damit klarer beschreibbar zu machen. Textanalysen gelten als eher neutral gegenüber den spezifischen Rahmenannahmen eines literaturtheoretischen Ansatzes, für Interpretationen dagegen wird der Grad der Abhängigkeit von solchen Rahmenannahmen als hoch angesetzt." (Köppe/Winko (2008, S.13 f.

Die Modi geisteswissenschaftlichen Verstehens und des natur- und sozialwissenschaftlichen Erklärens müssen, sollen ihre Ergebnis gesellschaftliche Relevanz erlangen, in kommunikativen Prozessen vermittelt und plausibel gemacht werden können.

Natürlich kann man auch einfach die Gefühle mit anderen teilen, die das Lesen eines literarischen Textes ausgelöst haben und sich dabei wenig darum kümmern, wie diese Inferenzen in der Interaktion zwischen Text und Leser konkret entstanden sind, weil die Existenz und das Erleben dieser Gefühle nicht an die kognitive Erkenntnis ihrer text- oder leserseitigen Begründungszusammenhänge gebunden ist.

Wenn man sich allerdings in eine Auseinandersetzung mit einem Text begibt, an deren Ende eine rationale Verständigung über ihn stehen soll, dann muss eben auch das Interpretieren auf Handlungen des Erklärens und Begründens aufbauen, muss für das eigene Verständnis eines Textes mit Argumenten geworben werden, die aber im Falle der Vieldeutigkeit literarischer Texte nie einen Wahrheitsanspruch, sondern nur den Anspruch auf intersubjektive Plausibilität erheben können. Und gegen skeptizistische Einwände gewandt, welche immer wieder die Beliebigkeit von Interpretationen anprangern, lässt sich eben einwenden, dass es offensichtlich doch einen bestimmten, von text- und leserseitigen Faktoren, abhängigen Bedeutungsrahmen sozial akzeptierter Interpretationen gibt, welche die Bedeutungserzeugung als bloßen Willkürakt einschränken. So wird wohl mit stichhaltigen Argumenten kaum zu begründen sein, dass es in »Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832)Drama »Faust statt "um die Gefahren menschlichen Erkenntnisstrebens [...] um die richtige Aufzucht von Pudelwelpen geht." (Descher/Petraschka 2019, S.17)

Konsensfähige Regeln für die hermeneutische Interpretationspraxis

Ganz allgemein gilt, dass Thesen, die im Zusammenhang mit Interpretationen aufgestellt werden, in einem prinzipiell nicht abschließbaren Interpretationsprozess immer als Hypothesen zur einer konkreten Form der Texterschließung und Bedeutungszuschreibung verstanden werden müssen. Sie können und sollen überprüfbar sein, ihre Konsistenz auch im Vergleich mit anderen zeigen und können und sollen modifiziert, revidiert oder gänzlich aufgegeben werden können, wenn ihnen mit guten Gründen widersprochen werden kann.

Ob eine Interpretation gelungen ist, kann jeder Interpret für sich alleine entscheiden, ob sie aber von anderen akzeptiert oder als nicht plausibel verworfen wird, ist eine eine andere Frage. Entscheidend ist dabei weniger, was und wie eine Interpretation aussieht, sondern die mehr oder weniger konventionalisierten Maßstäbe der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Diskurses. Dementsprechend sind auch die Maßstäbe, die in den fachwissenschaftlichen Domänen gelten andere, als die die im ▪ Handlungsfeld Literatur in der Schule anzulegen sind. Wo im fachwissenschaftlichen Kontext "die Aspekte des Fachwissens, der konsistenten Darstellung, der sinnvollen Einordnung in einen bestehenden Forschungskontext sowie die notwendige Innovation" (Baasner 1997/22006, S.164) unverzichtbar ist, kann sich der schulische Literaturunterricht, ohne solche Überlegungen grundsätzlich über Bord zu werfen, aus pädagogischen und literaturdidaktischen Gründen mit dem Anwenden von Plausibilitätsstrategien begnügen, die den umfassenden Ansprüchen der Fachwissenschaft, allen Unkenrufen zum Trotz, weder genügen noch genügen müssen.

Hypothesen, die im Zusammenhang mit Fragen der Interpretation von literarischen Texten aufgestellt, sind als (vorläufige) Antworten auf bestimmte Fragen, die sich einem Rezipienten beim Lesen eines Textes stellen, Erklärungen. Sie erklären z. B. warum eine bestimmte Figur in einem Text so oder so handelt, welche Rolle unterschiedliche Räume spielen, wie die sprachliche und stilistische Gestaltung zur Wirkung des Textes beiträgt.

Dabei kann auch eine Interpretation nicht alle Aspekte eines Textes erklären. Sie wird sich mit nachvollziehbar gemachten Gründen also stets um eine Auswahl erklärungsbedürftiger Momente kümmern und insofern bemüht sein, "exemplarische Aussagen" (Hervorh. d. Verf.) zu machen, "die im Bemühen um Klarheit und Deutlichkeit komplexe Sachverhalte vereinfachen" (Baasner 1997/22006, S.163) Diese Aussagen sollen im Rahmen hermeneutischen Verstehens in eine in sich geschlossene sprachliche Form gebracht werden.

Im Einzelnen, aber ohne den Anspruch letztendlicher Objektivität, sollten folgende Regeln beachtet werden, wenn sich die Aussagen im "Rahmen des sinnvollerweise Erwartbaren" (Baasner 1997/22006, S.163) bewegen sollen:

  • Die Interpretation und ihre Aussagen müssen als Ganzes widerspruchsfrei und zusammenhängen, d. h. konsistent sein. Dies bezieht sich sowohl auf die Methoden, die dabei verwendet werden als auch auf die Art der Darstellung. (vgl. ebd.) Dabei sind natürlich nicht Widersprüche gemeint, die der literarische Text selbst enthält. Sie sind nicht selten und haben dann im Allgemeinen auch eine Funktion. Sie können z. B. bestimmte Vorgänge und Sachverhalte bewusst verfremden oder irgendwie signalisieren, dass "dem Sprecher oder Erzähler nicht zu trauen ist, dass es sich bei der geschilderten Welt um keine realistische Welt handelt usw." (Descher/Petraschka 2019, S.125)

  • Die Darstellung wird eine "in sich geschlossene sprachliche Wiedergabe einer Textauslegung" (Baasner 1997/22006, S.163) erwartet. Dies gilt auch angesichts der Tatsache, dass "Literaturinterpretationen [...] typischerweise komplex (sind): Ihr Begründungszusammenhang kann verwickelt sein und aus einem ganzen Gefüge von Prämissen und begründungsbedürftigen Konklusionen oder Zwischenkonklusionen bestehen, die im Rahmen eine ausführlich argumentierenden Textes präsentiert werden" (ebd.) sollten, ohne das dies im Gefolge einer verwirrenden Strukturierung der Ausführungen auf Kosten ihrer intersubjektiven Verständlichkeit und nachvollziehbaren Plausibilität gehen darf.

  • Interpretationen können zwar vielfältig, aber nicht beliebig ausfallen. Dazu müssen sie das dafür nötige deklarative und prozedurale Wissen, das dafür herangezogen werden kann, berücksichtigen. Das betrifft z. B. das historische, das ästhetische, das methodische Wissen aber natürlich auch das kulturelle Wissen und das allgemeine Weltwissen. Hinzukommen muss aber auch das Wissen um andere konkurrierende Interpretationen, die sich um das Verstehen des Textes bemüht haben (intertextueller Aspekt). (vgl. Baasner 1997/22006, S.162)

  • Interpretationen. die sich auf die hermeneutische Methode berufen, werden sich bei ihrer Begründung von hypothetischen Erklärungen und Argumentationen dazu vor allem auf sogenannte "Textargumente"  (Descher/Petraschka 2019, S.88, Hervorh. d. Verf.) stützen. Damit werden Argumente bei der literaturwissenschaftlichen Argumentation bezeichnet, "deren Prämissen aus Aussagen über den Text selbst bestehen" (ebd.) und damit etwas über die Beschaffenheit des Textes aussagen, die selbst aber durchaus auch strittig sein können. Ihre Grundlage sind Beobachtungen auf der lokalen Textebene, die zur Begründung einer Erklärung herangezogen und zur Konstruktion des Textarguments als Ganzes genutzt werden. Dass man sich z. B. nicht darauf verlassen kann, was in einem Text steht, zeigt sich unter anderem beim "unzuverlässigen Erzählen", bei dem auch Erzähler, die sich ansonsten als äußerst "zuverlässig" in der Darbietung eines Geschehens präsentieren, aus irgendwelchen Gründen die fiktive Welt anders darstellen als sie "in Wirklichkeit" ist. Dass Textargumente nicht mit dem Anspruch auf Wahrheit zu konstruieren sind, zeigt sich auch bei Fragen, die im Zusammenhang mit Interpretationen oftmals nicht auf eine bestimmte Antwort festzulegen sind. Das ist z. B. bei vielen Unbestimmtheits- oder Leerstellen in erzählenden Texten der Fall oder bei Fragen, ob eine bestimmte Textpassage aus einer figuralen Perspektive oder aus der Perspektive eines Erzählers dargeboten wird, oder eine Metapher diese oder jene Bedeutung hat, oder sich der Sinn einer modernen Parabel so oder so in bestimmten außertextlichen Bedeutungszusammenhängen konstruieren lässt. Fazit: Ein Textargument ist nicht deshalb schon "gut (...), weil es ein Textargument (ist)".(ebd., S.92)

  • Neben den Textargumenten i. e. S. spielen für die hermeneutische Interpretationspraxis aber auch historische Argumente mit ihrem Bezug auf historische Sachverhalte, intertextuelle Argumente, die sich auf andere Texte beziehen, oder auch biografische Argumente, die sich an Leben und Lebensumständen eines Autors bzw. einer Autorin festmachen, eine, allerdings grundsätzlich untergeordnete Rolle. Sie werden im hermeneutischen Ansatz gewöhnlich aber erst nach der auf Textargumentationen gestützten Bedeutungskonstruktion "in Stellung gebracht", um die dabei gewonnenen Standpunkte damit abzugleichen und im Idealfall zusätzlich zu bestätigen.

  • Im Kontext anderer, schon existierender Interpretationen, sollten sie etwas Neues in Bezug auf ihre Zugangsweisen oder die Art der Bedeutungs- und Sinnkonstruktion enthalten, und sich damit in den nie abgeschlossenen Prozess von Interpretationen und Neuinterpretationen einordnen lassen.

  • Interpretationen sind, wenn sie diese grundsätzlichen Kriterien im Rahmen ihres Interpretationsansatzes erfüllen, untereinander gleichwertig, ganz unabhängig davon, ob sie von anderen als mehr oder weniger gelungen angesehen werden.

  • Interpretationen können als ganzheitlich geschlossene Gebilde im Nachhinein kaum durch Revisionshandlungen verbessert werden, sondern müssen in der Regel durch Neuinterpretationen ersetzt werden. (vgl. Baasner 1997/22006, S.163)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 09.10.2024

 
 

 
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