Emil Staiger (1951): Die Kunst der Interpretation
"Der individuelle Stil des Gedichts ist nicht die Form und nicht der
Inhalt, nicht der Gedanke und nicht das Motiv. Sondern er ist dies alles in
einem; denn eben darauf [...] beruht die Vollkommenheit eines Werks, dass
alles einig ist im Stil.[...] Wenn dem Dichter sein Werk geglückt ist,
trägt es keine Spuren seiner Entstehungsgeschichte mehr an sich. Dann ist
es künstlerisch sinnlos, zu fragen, ob dies von jenem abhängig sei. Eines
schwingt gelöst im andern, und alles ist ein freies Spiel. Sagen wir es
ganz allgemein: Die Kategorie der Kausalität ist nichtig, wo makellose
Schönheit als solche verstanden werden soll. Da gibt es nichts mehr zu
begründen. Wirkung und Ursache fallen dahin.
" (aus:
Emil
Staiger (1951) 1982, S.16 f.)
Erläutern Sie Staigers Aussage "Wenn dem Dichter sein Werk geglückt
ist, trägt es keine Spuren seiner Entstehungsgeschichte mehr an sich."
Erich Trunz (1952): Interpretation soll Sachliches im Werk aufzeigen
"Interpretation soll nicht das, was das Werk selbst sagt, noch einmal sagen
(Inhaltsnacherzählung), auch nicht des Betrachters persönliche Stimmungen
beim Lesen schildern, sondern Sachliches im Werk aufzeigen; sie zeigt z. B.
in »Faust II« die Beziehung der metrischen Form zum Gehalt.
Hierüber sagt die Dichtung selbst nichts. Es ist eine der wesentlichen
Verbindungen in ihrem Gefüge. In dieser Schicht liegen die Aufgaben der
Interpretation.
Die Auslegung (als sprachliches Gebilde) kann nur eins nach dem andern
abhandeln. Da sie aber versucht, das Werk als Struktur zu erfassen und den
inneren Zusammenhang von Stoff, Stil, Gehalt usw. aufzuzeigen, besteht ihre
besondere Kunst darin, in ihrem Nacheinander das Gleichzeitige und Ganze
deutlich zu machen, so dass alle Elemente als nacheinander wechselseitig
bedingend erscheinen." (aus:
Erich Trunz
1952, zit.n.:
Goette
1975)
Wolfgang Kayser (1958): Interpretation
"Die [...] Arbeitsweise, von der nun zu sprechen ist, strebt zunächst gar
nicht nach Wertung. Sie sieht das Werk als Ganzheit - das ist ein Teil ihrer
Auffassung von der Dichtung - und will das Gefüge dieser Ganzheit begreifen
und durchsichtig machen. Sie heißt dieses ihr Verfahren Interpretation
schlechthin. Interpretation wird überall betrieben, wo es Texte gibt, mehr:
wo es sinnhaltige Formen gibt. Interpretation ist die auf Verstehen
beruhende Erfassung und Vermittlung des eine Sinn- und Funktionseinheit
bildenden Formkomplexes. Interpretation bezieht die Formelemente in einen
Funktionszusammenhang. [..] Im Fall der Werkinterpretation handelt es sich also darum, alle an der
Gestaltung zur einheitlichen Gestalt beteiligten Formelemente in ihrer
Wirksamkeit und in ihrem Zusammenwirken zu begreifen: von der äußeren
Form, Klang, Rhythmus, Wort, Wortschatz, sprachlichen Figuren, Syntax,
Geschehnissen, Motiven, Symbolen, Gestalten zu Ideen und Gehalt, Aufbau,
Perspektive, Erzählweise, Atmosphäre [...] und
was sich sonst an Gestaltungsmitteln
erfassen lässt. Dass die einzelnen Formen wie Nomen,
Parataxe,
Oxymoron
usf. nicht von Haus aus ihre Leistung mitbringen, so dass sie als Wegmarken
ins Zentrum zu benutzen wären, ist Gemeingut solcher Arbeitsweise. Die
Interpretation steigt überhaupt nicht vom Kleinen, Einfachen zum
Größeren, Komplexen auf, sondern bewegt sich in dem steten Schwingen vom
Teil zum Ganzen und Ganzen zum Teil." (aus: Wolfgang Kayser, Die Vortragsreise. Studien zur
Literatur. Bern: Francke 1958, S. 45 f.)
Wolfgang Kayser (1958a): Videtur oder lucet
"Interpretation bezieht die Formelemente in einen Funktionszusammenhang.
Wer in einem mittelalterlichen Text ein Wort nicht versteht, schlägt im
Wörterbuch nach. Das ist kein Interpretieren. Wenn dagegen Staiger und
Heidegger in eine Kontroverse geraten, ob das "scheint" in
Mörikes Zeile: "Was aber schön ist, selig scheint es in ihm
selbst" - videtur oder lucet bedeutet, so interpretieren sie: aus dem
Zusammenhang und wieder in den Zusammenhang." (aus:
Wolfgang
Kayser 1958, S. 45 f. Worin besteht nach Kayser der Unterschied zwischen dem
"Nachschlagen" eines Begriffes im Lexikon und dem
Interpretieren?
Erich Trunz (1952
"Interpretation soll nicht das, was das Werk selbst sagt, noch einmal sagen
(Inhaltsnacherzählung), auch nicht des Betrachters persönliche Stimmungen
beim Lesen schildern, sondern Sachliches im Werk aufzeigen; sie zeigt z. B.
in »Faust II« die Beziehung der metrischen Form zum Gehalt.
Hierüber sagt die Dichtung selbst nichts. Es ist eine der wesentlichen
Verbindungen in ihrem Gefüge. In dieser Schicht liegen die Aufgaben der
Interpretation.
Die Auslegung (als sprachliches Gebilde) kann nur eins nach dem andern
abhandeln. Da sie aber versucht, das Werk als Struktur zu erfassen und den
inneren Zusammenhang von Stoff, Stil, Gehalt usw. aufzuzeigen, besteht ihre
besondere Kunst darin, in ihrem Nacheinander das Gleichzeitige und Ganze
deutlich zu machen, so dass alle Elemente als nacheinander wechselseitig
bedingend erscheinen." (aus:
Erich Trunz
1952, zit.n.:
Goette
1975)
Arbeiten Sie aus dem Text
heraus:
-
Worauf zielt nach Ansicht von Trunz der Vorgang der Interpretation?
-
Welche Aufgaben gehören seiner Auffassung nach zur
(werkimmanenten) Interpretation?
Horst Steinmetz (1995): Das Gespenst der richtigen Interpretation
"In der Nachfolge [...] entstand eine literaturwissenschaftliche
Interpretationspraxis, die dem Gespenst der so genannten richtigen
Interpretation verfallen war. Die richtige Interpretation war die, welche
die eigentliche, die genuine, nur dem einzelnen und bestimmten Text eignende
Bedeutung aufzuspüren und darzustellen vermochte. Regelmäßig wurde dabei
das (häufig psychologisierende) Verstehen der geisteswissenschaftlichen
Methode dem Erklären und Begründen naturwissenschaftlicher Auslegung
gegenübergestellt, das notwendige, der individuellen Eigenart des zu
deutenden Textes allein gerecht werdende intuitive Erfassen des Sinns
hervorgehoben. Die reinste Verwirklichung der richtigen Interpretation sah
man überdies dann erreicht, wenn die Bedeutung im Text und im Text allein,
unter Verzicht also auf alle textexternen Faktoren, gewonnen werden konnte." (aus:
Horst
Steinmetz 1995, S.476)
-
Welche Merkmale hat nach Steinmetz die
werkimmanente Interpretation?
-
Wie beurteilt er diese Interpretationsmethode?
Horst Steinmetz (1995): Alle Textdeutungen über Kontexte
"Blickt
man auf die Geschichte der Interpretationspraxis, kann man im Übrigen
ohne große Schwierigkeit erkennen, dass alle Textdeutungen über Kontexte
ausgeführt worden sind. Das gilt auch für diejenigen, in denen behauptet
wird, sie hätten sich ausschließlich auf den Text selbst konzentriert
und keine außertextlichen Elemente benutzt. Die Kontexte können relativ
abstrakt sein, sie mögen noch so implizit bleiben, sie sind dennoch
immer vorhanden. So ging man z. B. auch in der Periode der
werkimmanenten Interpretation - trotz gegenteiliger Behauptung - von
Kontexten aus. In diesem Fall lieferte vor allem die Vorstellung vom
harmonischen Kunstwerk, in dem alle Teile in funktionalem Zusammenhang
stünden und miteinander ein kohärentes und konsistentes Ganzes bildeten,
den allgemeinen Hintergrund, von dem aus die konkreten
Bedeutungszuerkennungen gesteuert wurden." (aus:
Horst
Steinmetz 1995, S.482) Worin besteht nach Ansicht von Steinmetz die
kontextuelle Bedeutungserzeugung bei der
werkimmanenten Methode?
Gert Egle. zuletzt bearbeitet am:
23.12.2023
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