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[»Roman Ingarden (1893-1970),
ein polnischer Philosoph und Anhänger der »Phänomenologie
Husserls hat mit
seiner Theorie der Werkerfassung die spätere
Rezeptionsästhetik
zwar beeinflusst, ohne dass seine Auffassungen jedoch in der
Rezeptionsästhetik münden.] 1. Das literarische Werk ist ein mehrschichtiges Gebilde. Es enthält
a) die Schichte der Wortlaute und der sprachlautlichen Gebilde und
Charaktere höherer Ordnung, b) die Schicht der Bedeutungseinheiten: der
Satzsinne und der Sinne ganzer Satzzusammenhänge, c) die Schicht der
schematisierten Ansichten, in welchen die im Werk dargestellten
Gegenstände verschiedener Art zur Erscheinung gelangen, und d) die
Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten, welche in den durch die
Sätze entworfenen intentionalen Sachverhalten dargestellt werden. [...]
6. Das literarische Kunstwerk (wie auch jedes literarische Werk
überhaupt) ist seinen Konkretisationen gegenüberzustellen, welche bei
einzelnen Lesungen des Werkes (eventuell bei der Aufführung des Werkes im
Theater und deren Erfassen durch den Betrachter) entstehen.
7. Im Unterschied zu seinen Konkretisationen ist das literarische Werk
selbst ein schematisches Gebilde. Das heißt: manche seiner Schichten,
insbesondere die Schicht der dargestellten Gegenständlichkeiten und die
Schicht der Ansichten, enthält 'Unbestimmtheitsstellen' in sich. Diese
werden in den Konkretisationen zum Teil beseitigt.[...]
8. Die Unbestimmtheitsstellen werden in den einzelnen Konkretisationen auf
die Weise beseitigt, dass an ihre Stelle eine nähere oder weitere
Bestimmung des betreffenden Gegenstandes tritt und sie sozusagen
'ausfüllt'. Diese 'Ausfüllung' ist aber nicht durch die bestimmten
Momente dieses Gegenstandes hinreichend bestimmt, kann also im Prinzip in
verschiedenen Konkretisationen noch verschieden sein.
9. Das literarische Werk überhaupt ist ein rein intentionales Gebilde,
das seine Seinsquelle in den schöpferischen Bewusstseinsakten seines
Verfassers und dessen physisches Seinsfundament in dem schriftlich
fixierten Text oder in einem anderen physischen Werkzeug der möglichen
Reproduktion (z.B. dem Magnetophon) liegt.
(aus:
Roman
Ingarden, Konkretisation und Rekonstruktion 1968, in:
Warning
1975, S.43f.)
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