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Arbeitsauftrag "Zu einem
Text (kritisch) Stellung nehmen"
Eine Stellungnahme ist kein "klassischer" Erörterungsaufsatz
Wer
die ▪ Stellungnahme
als
schulische Schreibform bei seiner
Schreibentwicklung vor den ▪
klassischen Formen des erörternden Schreibens
kennenlernt, wird sich mit der Abgrenzung von der ▪
freien Problem- und Sacherörterung
wahrscheinlich nicht sonderlich schwertun.
Unter dieser Perspektive erscheint die
Stellungnahme häufig wie eine Art Vorstufe für die anspruchvollere
Schreibaufgabe der Problem- und Sacherörterung, die erst ab der
9./10. Klasse gestellt wird. Dabei wird meist das Kriterium der
Mehrperspektivität, die Tatsache also, dass bei dieser auch
Gegenargumente zur eigenen Position dargelegt und abgewogen werden
müssen, vereinfacht: Pro und Contra zu Wort kommen muss, zur
Unterscheidung herangezogen.
Insbesondere Schülerinnen und Schüler, die schon über
Schreiberfahrungen mit den ▪
klassischen Formen des erörternden Schreibens, wie z. B. der ▪
freien Problem- und Sacherörterung
gemacht haben, ist aber oft nicht recht klar, was die ▪
Stellungnahme
davon unterscheidet. So kommt es nicht selten vor, dass
Stellungnehmen quasi automatisch mit dem Erörtern von Pro- und
Contra-Argumenten zu einem strittigen Sachverhalt gleichgesetzt
wird.
Das liegt wohl vor allem daran, dass die ▪
Stellungnahme
als schulische Schreibform meistens auf
Entscheidungsfragen antworten soll, ganz so wie dies auch bei
der ▪ dialektischen Erörterung
der Fall ist. Oft hängt es aber auch damit zusammen, dass die
Schreibaufgaben nicht so klar konzipiert sind, dass jedem Schreiber
sofort klar ist, was er zu tun hat bzw. auf welche Art und Weise er
die Schreibaufgabe bewältigen muss.
Auch ein "Unentschieden" ist ein Standpunkt
Die Stellungnahme lässt grundsätzlich zu, dass man sich bei
der Erörterung eines Problems oder Sachverhalts von vornherein
auf einen Standpunkt festlegt und nur darlegt, was diesen
Standpunkt begründet. Bei einer strittigen Frage geht man also
nur von seiner Position aus und begründet diese. Man sich also
prinzipiell gegen oder prinzipiell für etwas aussprechen. Aber:
Nicht nur das sind Standpunkte. In vielen Fragen kann man sich
aus verschiedenen Gründen nicht für die eine oder andere Seite
entscheiden. Unentschieden zu sein, ist eben auch ein
Standpunkt. Und auch dieser kann mit einer Stellungnahme
ausgedrückt werden.
Im Gegensatz zur dialektischen Erörterung muss aber dieses
"Unentschieden" nicht auf der Grundlage eines ausgewogenen
Wert- bzw.
Sachurteils
gefällt werden, das am Ende eines Schreibprozesses steht, mit
dem man seine eigene Urteilsfähigkeit und rationale
Standpunktbildung unter Beweis stellen soll (Selbstaufklärung in einem
(epistemisch-)heuristischen
Schreibprozess!), sondern kann und darf sehr subjektiv
erfolgen, u. U. einfach auch mit deutlichen emotionalen Akzenten
das Dilemma ausdrücken, indem man sich wegen zahlreicher, kaum
auflösbarer Widersprüche, befindet. Will man eine solche
Position beziehen, sollte man für beide Richtungen Argumente
finden, muss es aber nicht, selbst wenn das Fazit, das man am
Ende aus einer sich für eine Seite entscheidende Stellungnahme
zieht, in einem "Unentschieden" mündet.
Stellungnahme und dialektische Erörterung: Die wichtigsten
Unterschiede
Es gibt eine Reihe von Unterschieden
zwischen einer Stellungnahme und einer ▪ dialektischen Erörterung, die hier knapp skizziert werden
sollen. Dabei wird sichtbar, dass die dialektische Erörterung, wenn
sie als eigenständige schulische Schreibform ernst genommen wird,
andere Kompetenzen im Allgemeinen verlangt und vor allem auch, in
Bezug auf die Schreibkompetenzen ein deutlich höheres Map an
Eigenorganisation voraussetzt
(vgl.
Matthießen
2003, S.134).
Stellungnahme |
Dialektische Erörterung |
Kann eigenständige
Schreibaufgabe sein oder eine Schreibaufgabe, die im
Rahmen eines anderen globalen
Textmusters zu bewältigen ist (z. B. Stellungnahme
in einem ▪
privaten
Geschäftsbrief oder auch einem ▪
freien oder ▪
textgebundenen
kommentierenden Leserbrief |
in der Regel eigenständige
Schreibform mit eigenem globalen Textmuster |
Festlegen auf den eigenen
subjektiven Standpunkt zum Thema (z. B. für - gegen -
unentschieden) und Begründung dieses Standpunkts (These)
mit Argumenten |
Sachliche Erörterung des
Themas aus unterschiedlichen Perspektiven (Pro und
Contra), die jeweils mit ihren Begründungen dargestellt
werden müssen (Mehrperspektivität) und am Ende zur
eigenen Urteilsbildung herangezogen werden müssen. |
Thema mit der Vorgabe einer
Kommunikationssituation verbunden |
ohne Vorgabe einer
Kommunikationssituation |
problemlösendes Schreiben
im Rahmen der Vorgaben |
Schreiben als Mittel, um
sich der eigenen Urteilsfähigkeit und rationalen
Standpunktbildung zu vergewissern (Erörterndes Erschließen,
Selbstaufklärung in einem
(epistemisch-)heuristischen
Schreibprozess) |
Vorwissen (Weltwissen,
thematisches Wissen) soweit nötig, wie es zur
Begründung des eigenen Standpunktes erforderlich ist |
Umfangreicheres Vorwissen (Weltwissen,
thematisches Wissen) notwendig, um die verschiedenen
Standpunkte und Aspekte des Themas aus verschiedenen
Perspektiven betrachten, darlegen und letzten Endes
bewerten zu können (Mehrperspektivität) |
Thema bzw. Themafrage ist
in der Schreibaufgabe klar benannt und muss nicht weiter
erschlossen werden |
je nach Themenstellung muss
das Thema bzw. die Themafrage in der Planungsphase des
Schreibprozess in einem besonderen ▪
Arbeitsschritt,
der ▪
Erschließung des Themas,
erst erfasst werden, indem z. B. ▪
die
wichtigen Themabegriffe bestimmt und geklärt werden |
Dreigliedrigkeit
(Einleitung, Hauptteil und Schluss) als äußere
Gliederung |
Dreigliedrigkeit (▪
Einleitung,
▪
Hauptteil und
▪
Schluss) als äußere Gliederung |
Einleitung beschränkt sich
auf die Bezugnahme auf das Thema der Stellungnahme und
ggf. die Formulierung des persönlichen Standpunktes als
These dazu. |
▪
Einleitung führt zum Thema hin, hat eine gewisse Eigenständigkeit und
mündet im Idealfall in die bei der ▪
Erschließung des Themas
ermittelte ▪
Themafrage(n, die nicht unbedingt mit den
Formulierungen in der Themenstellung identisch ist/sind. |
Im Hauptteil geht die
Stellungnahme auf der Grundlage einer Stoffsammlung und
argumentativen Strukturierung des Stoffs direkt "in
medias res" und stellt in einem linearen Nacheinander
▪
Basisargumente
für den eigenen Standpunkt dar und entfaltet diese mit
geeigneten
Stützungen des Argumentes wie z. B. Beweise und
Beispielen. |
Der ▪
Hauptteil basiert auf einer durch die ▪
Arbeitsschritte
▪
Stoffsammlung
und ▪
Ordnung
des Stoffes vorbereiteten ▪
Arbeitsgliederung,
die dem Gegenstand und Inhalt angemessen ist, im
Idealfall mit aufeinander bezogenen Ober- und
Unterbegriffen strukturiert und damit den eigenen
Zugriff auf das Thema deutlich werden lässt. Dabei entfaltet
sie ihre Argumentation auf der Grundlage von
▪
Basisargumente
zum Thema mit einer ▪
vernunftorientierten Argumentation, die mit
Stützungen unterschiedlicher Art versehen sind.
Zudem entscheidet sie sich für eine bestimmte ▪
Reihenfolge der Argumente, um sie dadurch zu gewichten. |
Der Schluss der
Stellungnahme besteht in der Regel in einem kurzen
Fazit, das oft nur in der pointierten Wiederholung der
Eingangsthese besteht, aber auch einen gewissen Ausblick
geben kann. |
Der ▪
Schluss mündet stets in ein begründetes, gemeinhin als
ausgewogen geltendes
Sach- bzw.
Werturteil, das die in
Argumentation und
Gegenargumentation dargestellten Aspekte des Themas
gegeneinander abwägt. |
Sprachlich-stilistisch an
der ▪
vernunftorientierten Argumentation orientiert aber
auch mit Akzenten, die die emotionale Beteiligung des
Schreibers bzw. der Schreiberin ausdrücken. |
Sprachlich-stilistische
Gestaltung ordnet sich dem Prinzip der ▪
vernunftorientierten Argumentation unter, ist stets um Sachlichkeit
auch dann bemüht, wenn der Schreiber oder die
Schreiberin dem Gegenstand mit hoher gefühlsmäßiger
Beteiligung begegnet.
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Eine Stellungnahme ist auch keine Texterörterung
Immer wieder werden Schreibaufgaben zur Stellungnahme auch im
Zusammenhang mit einem längeren Text zu einem Thema gestellt. In
solchen Fällen dient der Text hauptsächlich als
Materialgrundlage, um eine eigene Position zu dem in der
Schreibaufgabe verdeutlichten Thema der Stellungnahme zu
entwickeln. Damit soll vermieden werden, dass nur diejenigen
sich an die Stellungnahme machen können, die über ein eigenes
Vorwissen zum Thema verfügen.
Die Schreibaufgaben für die Stellungnahme und eine ▪
Texterörterung
unterscheiden sich aber deutlich und sollten auch bei der
Themenstellung berücksichtigt sein.
Die Schreibaufgabe zu einer auf diese Weise materialgestützte
Stellungnahme könnte z. B. im Zusammenhang mit dem
Beispieltext ▪ Wie ein Rücksturz
ins Mäuschenzeitalter: Das Frauenbild in der Scripted-Reality-Doku "Der Bachelor"
lauten:
Das Bachelor-Format ist bis heute sehr umstritten.
Legen Sie Ihren eigenen Standpunkt zu dem Format in Form
einer schriftlichen Stellungnahme
dar und begründen Sie diesen mit geeigneten Argumenten.
Gehen Sie bei Ihrer Stellungnahme von der Äußerung des
Schlagersängers Udo Jürgens aus.
Die Schreibaufgabe für die Texterörterung, bei der die
intensive Textarbeit zur Erschließung des im Text angelegten
Gedankenganges und der im Text vorhandenen argumentativen
Strukturen Voraussetzung für die argumentative
Auseinandersetzung mit zentralen Thesen, Argumenten und
Darstellungsformen des vorgelegten Textes darstellt, könnte für
den gleichen Text in ihrer einfachsten Form wie folgt lauten:
Setzen Sie sich mit den Aussagen des Textes
kritisch auseinander.
Auch wenn das nicht unbedingt der Klarheit über die
Schreibaufgabe dient, wäre auch eine Aufgabenstellung möglich,
die das Wort Stellungnehmen enthält. Gemeint ist aber auch damit
die Schreibaufgabe der Texterörterung. (Nehmen Sie zu den
Aussagen des Verfassers über das Bachelor-Format (kritisch)
Stellung.)
Am besten ist, wenn die Schreibaufgabe keinen Zweifel darüber
aufkommen lässt, ob ein Text erörtert oder eine Stellungnahme
verfasst werden soll.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
30.12.2023
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