Was einem Leser zunächst in den Sinn
kommt, wenn er einen Text zum ersten Mal liest, sind spontane
Leseeindrücke,
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Erstleseeindrücke.
Lange bevor man sich also in den Text "hineingekniet" hat, entsteht
in unserem Kopf eine Art Sinnentwurf.
Von
Erstleseeindrücken wird das Verstehen eines Textes ganz entscheidend geprägt. Mit ihnen und von ihnen
ausgehend lässt sich nach und nach ein vertiefteres Textverständnis gewinnen.
Das
Festhalten von Erstleseeindrücken ist damit ein ganz wichtiger Bestandteil der
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Lesetechnik und jeder
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Texterfassung.
Das Verständnis und die Deutung eines Textes im Zuge
der Auseinandersetzung mit ihm verändert. Die ersten Eindrücke, die
man beim Lesen gewonnen hat, werden damit zum Einstieg in einen
Prozess, an dessen Ende im Allgemeinen ein besseres, weil
vertiefteres Verstehen eines Textes steht.
Voraussetzung dafür ist, dass man eine
fragende Haltung zum Text einnimmt. Das bedeutet, dass der Text
verstanden wird als Quelle von Antworten, die man an ihn stellt, um
ihn zu verstehen.
Dann wird jede neue Frage, die man an den Text
stellt, zu einer neuen Sicht auf den Text als Ganzes oder seiner
Teile führen.
Indem man also den Fragehorizont damit ständig
verschiebt, entwickeln sich die Erstleseeindrücke, die man gewonnen
hat, zu einem ersten Vorverständnis und mit weiteren Fragen und
Antworten zu einem vertiefteren Textverständnis.
Wenn z. B. eine
der in der Abbildung dargestellten spontanen Leseeindrücke lautet:
"Also mir ist das einfach zu pessimistisch!", dann empfiehlt es
sich, dies als Frage an den Text zu formulieren und Antworten darauf
im Text zu suchen. Die Frage "Warum empfinde ich das Ganze als
pessimistisch?", schickt einen dann auf die Suche nach Antworten im
Text. Oder sie ermöglicht eine Reihe weiterer Fragen aufzuwerfen,
wie z. B.
- Ist es die dargestellte Situation im Allgemeinen, die bei
mir den Eindruck von Pessimismus hervorruft? Was ist an der
Situation, die erzählt wird, eigentlich pessimistisch?
- Ist es das Ende der Geschichte, das diesen Eindruck bei mir
hinterlässt? Ist es wirklich so pessimistisch? Kann man es auch
anders sehen? ...
Diese um den Text kreisende Gedankenbewegung von
Fragen und Antworten ist Kern des sogenannten hermeneutischen
Verfahrens bei der ▪
werkimmanenten Interpretation
von literarischen Texten.
Dabei
sind die Erstleseeindrücke (Vorverständnis) Ausgangspunkt für
das (erste) Textverständnis, das
den Horizont des Vorverständnisses (V1)
erweitert.
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Allerdings darf man
sich das nicht so vorstellen, dass damit einfach zu dem bisherigen Vorverständnis
etwas hinzuaddiert wird.
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In Wahrheit entsteht dabei nämlich etwas Neues, weil
die vorläufigen Sinndeutungen neu konstruiert werden.
Von diesem neuen
Vorverständnis (V2) ergibt sich bei der weiteren
Auseinandersetzung mit dem Text ein (erweitertes, korrigiertes) neues
Textverständnis (T1). Wird dieser Prozess weiter fortgeführt,
findet ein fortlaufender Erkenntnisfortschritt statt, der prinzipiell
unabgeschlossen ist.