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Themabereich: Lesen
Um im ▪ Lesemodus des
literarischen oder interpretierenden Lesens einen entsprechenden
Text rezipieren zu können, muss man im Rahmen des Erwerbs von ▪ literarästhetischen
Rezeptionskompetenzen gelernt haben, literarische oder fiktionale
Texte als solche zu erkennen. Das gilt schon im frühesten Lesealter,
aber auch noch später bleibt dies eine Voraussetzung für das
literarische Lesen. Diese Erkenntnis führt zu bestimmten
Erwartungshaltungen an, mit denen man an die Lektüre eines solchen
Textes herangeht, und: "Eine der allgemeinen Regeln, die für den
literarischen Text gelten, ist die Auffassung, es werde in ihm mehr
mitgeteilt, als der reine Text sagt." (Steinmetz
1996, S.16)
Der ▪ Lesemodus des
literarischen oder interpretierenden Lesens
ist gekennzeichnet durch das Erkennen und Werten von mehr oder weniger
deutlich zusammenhängenden Sinnbezügen in einem
literarischen Text.
Die prinzipielle Mehr- bzw. Vieldeutigkeit (Polysemie)
literarischer Texte im Unterschied zu den
pragmatischen
Texten (auch:
Sachtexte,
Gebrauchstexte,
expositorische Texte,
nichtfiktionale Texte),
die auf semantische Eindeutigkeit hin ausgerichtet sind, bestimmt einen
Lesemodus, der "mit einer besonderen Sensibilität für Sprache
ausgestattet" (Graf 2015,
S.199) sein muss. Im Idealfall trägt diese dazu bei, dass auf der Grundlage eines
Funktionszusammenhangs von Inhalt und ästhetischer (z. B.
sprachlich-stilistischer) Gestaltung der auch unter Einbeziehung
des eigenen Vorwissens gedeutet und ein kohärenter ▪
Bedeutungs- und Sinnzusammenhang konstruiert
werden kann.
Dabei kommen aber gerade bei literarischen
Texten neben kognitiven Verarbeitungsprozessen auch affektive oder
emotionale Prozesse zum Zuge, die "feste Wahrnehmungskonventionen,
mechanische Deutungsschemata und eingeschliffene Vorurteile lockern" (ebd.)
können und so die Erfahrung von
Andersartigkeit
ermöglichen.
Gefordert ist,
insbesondere bei anspruchsvollen literarischen Texten, auch eine
entsprechende ▪
literarästhetische Rezeptionskompetenz, die im Zuge institutioneller
Lernprozesse in Schule und/oder Studium oder in nicht-institutionellen
Lernprozessen aufgrund "privater" Leseerfahrungen erworben und
weiterentwickelt werden kann.
Grundsätzlich können auch andere Texte interpretierend gelesen werden
(z.B. Gesetzestexte, philosophische und essayistische Texte), die allerdings im Normalfall kein Gegenstand für
Schule und Unterricht sind. Aus diesem Grund wird das interpretierende
Lesen hier auf das literarische Lesen beschränkt.

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Literarisches Lesen vollzieht sich häufig in
stiller Lektüre und mündet in der Schule häufig in ein
Unterrichtsgespräch über das Gelesene. Dabei können die gewonnenen
▪
Erstleseeindrücke
als Hypothesen Ausgangspunkt für die weitere Interpretation des Textes
sein.
Um Schülerinnen und Schülern eine Hilfe bei der Wahrnehmung
ästhetischer Qualitäten eines Textes zu geben, wird im
Literaturunterricht auch das literaturdidaktisch begründete
verzögerte
Lesen praktiziert, das zur Entautomatisierung des Lesens beitragen
soll (Frommer 1981a)
und z. B. mit Hilfe von "Textlücken" oder dem bewussten Einbau anderer
"Stolperfallen" im Text über den Inhalt hinausgehend, die Aufmerksamkeit
bei der Textrezeption auf ästhetische Qualitäten des literarischen
Textes lenken will. Ähnliche Verfahren werden auch beim ▪
kreativen Schreiben zu literarischen Texten verwendet.
Der Grund, weshalb
literarisches Lesen alle diese Funktionen entfalten kann, liegt
daran, das es "als ein Refugium (wirkt), das kognitive
Repräsentationen möglicher Welten, erlebbare Emotionen und
Einsichten in zwischenmenschliche Interaktionsmuster offeriert." (Philipp
2015a, S.459)
-
Auf der kognitiven Ebene
rekonstruieren wir beim literarischen Lesen die Welt des
Dargestellten (Diegesis) Welt, gewinnen eine Vorstellung von den
Figuren, ihren Handlungen und Zielen. Damit können wir "die
Schlüssigkeit des Beschriebenen und die Dynamik der Geschichte"
(ebd.,S.458)
in rein kognitiver Art und Weise nachvollziehen.
-
Auf der emotionalen Ebene,
welche die kognitiven Prozesse stützt, können wir über
Identifikations- und Projektionsprozesse,
Empathie mit
den Figuren, aber auch durch Erinnerung an vergleichbare
Ereignisse im eigenen Leben, reale bzw.
echte Gefühle empfinden, die auf dem fiktiv bzw. fiktional
Dargestellten basieren. Dabei scheint sich literarisches Lesen,
insbesondere bei Mädchen, die im Vergleich zu männlichen
Jugendlichen höhere Empathiewerte beim Lesen literarischer Texte
aufwiesen, auch auf das Textverstehen positiv auszuwirken. (vgl.
ebd.,S.459f.)
-
Am Modell der
sozialen Welt, das literarische Texte entwerfen, können wir die
aus den dargestellten sozialen Beziehungen der Figuren und den
daraus resultierenden Konflikten usw. allgemeine Prinzipien,
Werte und Maßstäbe menschlichen Handelns erkennen und in einer
Art sozialer Simulation durchspielen. Zudem laden
identifikatorische Prozesse dazu ein, mit der eigenen
Identität zu "spielen" und durch die Übernahme von Perspektiven
wechselnder Figuren neue Identitäten im "sicheren" Umfeld der
literarischen Fiktion auszuprobieren und auszuloten.