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Arno und Johannes Schlaf (1892): Die papierne Passion
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Der
Text ▪ Die papierne Passion
wurde von »Arno
Holz (1863-1929) und »Johannes
Schlaf (1862-1941) 1890 wahrscheinlich als Prosastudie
("Berliner Studie") und womöglich auch als "eine Art Vorstudie für
das Drama" (Schulz
1973, S.19) "Die
Familie Selike" (1890) verfasst, das die Zerrüttung
Verhältnisse in einer Berliner Familie Ende des 19. Jahrhunderts
thematisiert.
In Die papierne Passion wird ein kurzer Ausschnitt in der
Berliner Küche von »Mutter Abendroth'n«
dargestellt. Sie ist mutmaßlich Witwe eines ehedem einmal finanziell
vergleichsweise gut gestellten Ehemanns (Fritze) und bewohnt mit
ihrer 11-jährigen Pflegetochter Wally, einem unehelichen Kind ihrer
Schwester, eine 2-Zimmer-Wohnung mit einer
Vorstube in der vierten Etage in einer typischen Mietskaserne mit einem
großen Innenhof in Berlin.
Mutter Abendroth'n, die gegen den Willen ihres "Karl" (eigener Sohn,
jetziger Lebensgefährte?) zwei Töchter aus der Reihe der elf
unehelichen Kinder (S.104) ihrer Schwester zu sich genommen hat, ist
nach dem Tode von "Marieken"
(Die papierne Passion, in: S.103f.) mit zwölf Jahren nur noch ihre
aufmüpfige Pflegetochter Wally geblieben. Beide wohnen in der Küche
mit ihrem kleinen Fenster, die mit dem Kohleherd, einem Tisch,
Stühlen und einem Bett gerade mit dem Wesentlichen ausgestattet ist.
Die beiden Zimmer der Wohnung und die dazu gehörige Vorstube hat »Mutter Abendroth'n« untervermietet: an zwei Studenten
aus unterschiedlichen finanziellen Verhältnissen (Herr Haase und
Herr Röder) sowie ein "Freilein in der Vorderstube" (S.102), um
damit die Miete für die Gesamtwohnung und zumindest einen Teil ihres
Lebensunterhaltes zu bestreiten, zu der hin wieder wohl auch ihr
Sohn (?) ("mein Karl") etwas beisteuert (S.102).
Es ist um die
Weihnachtszeit kurz vor sechs Uhr abends und draußen ist es bei
leichtem Schneetreiben fast
dunkel, als sich »Mutter Abendroth'n« daran macht, in ihrer von
einer Petroleumlampe erleuchteten Küche Kartoffelpuffer
zuzubereiten. Dabei wartet sie ungeduldig und sehr ärgerlich auf
ihre Pflegetochter, die zwei Stunden überfällig ist, und nicht wie
verabredet um vier Uhr wieder zu Hause gewesen ist. Als das Mädchen
("ein kleines, blondes, vermeckertes Ding von elf Jahren" (S.98))
dann gutgelaunt vom Weihnachtsmarkt zurückkommt, erwartet es eine
Abreibung, zumal die Mutter annimmt, dass es sich dort schon wieder mit
"die verfluchtichten Bengels" (S.98) herumgetrieben hat. In die
handgreifliche Schelte in der Küche hallt von vier Treppen weiter
unten, aus dem "Budikerkeller", ein Sauflied herauf, das mit
Ziehharmonikamusik begleitet wird. ("»Siste woll, da kimmt er
schon, der besoffne Schwiegersohn ...«", (S.98))
Herr Haase
kommt in Begleitung von Wally, die von ihrer Mutter zum Holen von
Petroleum für die Lampe beauftragt worden war, in die warme Küche
und bittet »Mutter Abendroth'n« um einen zeitweiligen Mietnachlass
und Aufschub bei der nächsten Miete (S.101). Sie freut sich offenbar
an der Gesellschaft des jungen Studenten in seinen trotz des Winters
immer noch "kurzen Höskens" (S.112) und bietet dem schon leicht
erkälteten Mann an, sich bei einer Tasse Kaffee in ihrer Küche
aufzuwärmen. Sie weiß wohl über seine prekären Verhältnisse gut
Bescheid und erklärt ihm ein paar Minuten später, dass das mit der
Miete keine Eile habe. (S.112) Im Gespräch mit dem jungen Studenten klagt
sie ihm ihr Leid mit ihrer
Pflegetochter Wally und erzählt ihm vom Schicksal ihrer so
wohlgeratenen, aber leider verstorbenen Tochter "Marieken" (S.103f.)
Zu der Gruppe in der Küche
gesellt sich wenig später Herr Röder mit seiner Studentenmütze auf
dem Kopf, über dessen äußere Gestalt (Kneifer auf der Nase, Buckel)
und geziertes Verhalten (macht mehrfach "zeremonielle Verbeugungen",
(S.105)) sich Wally lustig macht. Im Gegensatz zu Herrn Haase kann
er sich wie ein Pensionsgast Verpflegung durch seine Vermieterin
leisten und auch geeignete Winterkleidung. Mit seinen lockeren
Sprüchen und Scherzen bringt er »Mutter Abendroth'n« zum Lachen und
geht dann in sein Zimmer, um auf das Abendessen, die angekündigten
Kartoffelpuffer, zu warten. (S.107) Von seinem Zimmer, das nur durch
eine dünne Wand von der Küche getrennt ist, dringen mal das Pfeifen
einer Opermelodie (S.107), mal das laute Singen eines
Studentenliedes (S.110), dann "»Hildebrand und sein Sohn
Hadubrand, Hadubrand!« bis in die in die Küche und signalisieren
wohl die gute Laune des lebenslustigen Burschenschaftlers Röder, der es sich auch immer wieder
herausnimmt, nachts "so'nn ollet Froonzimmer" (S.107) bei sich zu
haben, was seine Vermieterin aber "übersieht".
Dann kommt Olle Kopelke,
im Hauptberuf wohl Anwalt
(S.113) und in ihrer gemeinsamen Jugend ehemaliger Verehrer von
»Mutter Abendroth'n« (S.115) zu Besuch. Er wird von Wally als
"der olle Kopelke" (S.108) ziemlich respektlos, aber auch vertraut
begrüßt und der so Genannte erkundigt sich zur Begrüßung nach dem
Befinden seiner alten Bekannten und "olle(n) Quasselstrippe" (S.108)
»Mutter Abendroth'n«.
Kopelke hat offenbar auch schon bessere Zeiten gesehen und verdient
sich das nötige Zubrot mit Scherenschnitten, "Schustern" und
"Doktern" (S.114, im Drama »"Die
Familie Selike" arbeitet die Figur des »"alten
Kopelke" als Heilpraktiker) Die drei Erwachsenen plaudern
miteinander über alte Zeiten und über das Studentenleben, während
sich allmählich die von der Hausherrin goldgelb gebratenen Kartoffelpuffer mit
ihrer Zuckerschicht auftürmen und ihren Duft in der ganzen Küche verbreiten. (S.111) Als Kopelke um einen Kartoffelpuffer
bittet, bietet ihm »Mutter Abendroth'n« eine Portion an und ebenso
dem zögerlichen Haase (S.114).
Im weiteren Gespräch will Kopelke
eine Geschichte aus seiner Studienzeit zum Besten geben, die er
einstmals beim Schneiden von
"Silewetten" (S.116) erlebt hat. Damals habe er dafür,
dass er in einer Kneipe "de Leiden Jristi" (S.116) ausgeschnitten
und zu einer papiernen Passion zusammengelegt habe, beinahe Prügel
kassiert. Wally, die unbedingt sehen will, wie er das gemacht hat,
bringt ihn daraufhin mit Unterstützung ihrer Mutter dazu, das Ganze
einmal vorzuführen.
Während Kopelke die ersten Papierschnitzel zur
biblischen Hinrichtungsstätte auf dem Berg Golgotha zusammengelegt
hat, macht Wally ihre Mutter darauf aufmerksam, dass irgendwo unten
"Radau" (S.118) zu hören sei. Als die in der Küche Anwesenden
daraufhin horchen, hören sie "vom Hofe her schwere dumpfe Schläge.
Dazwischen, grell, eine Weiberstimme. / »Hil–fe! – Hil–feee!! –
Er – schlägt – mir – ja – dooot!! Hiiil–fe!! – Hiiil–fe!!!!«"
Für »Mutter Abendroth'n« ist die Sache sofort klar: Es ist die Frau
des "verfluchtije(n) Schlossers" (S.118) aus der
Parterrewohnung, die zum vierten Mal schon (S.120) von ihrem
betrunkenen Mann verprügelt wird. Vom Fenster aus schauen »Mutter Abendroth'n«,
Wally und Herr Haase, der dabei am ganzen Leib zittert (S.118), in
den Innhof, wo von unten ein aufgeregtes Stimmengewirr der dort
zusammengelaufenen Hausbewohner heraufschallt, die Alarm schlagen
und davon künden, dass der gewalttätige Mann seine Haustüre
verriegelt hat. Zwischen die anhaltenden Hilferufe der Frau mischt
sich der Ruf der aufgeregten Masse: "»Schlagt den Hund dot!!«
(S.118). Während der Olle Kopelke zunächst sitzen bleibt und an
seiner papiernen Passion weiterbastelt und seinen Kartoffelpuffer
verzehrt, schreit »Mutter Abendroth'n« mit vollem Mund hinunter, man
solle doch die Polizei bzw. den "Schutzmann" rufen und von unten
schallt es zwischen den weiter anhaltenden Hilferufen der
misshandelten Frau des Schlosses herauf, man solle doch die Fenster
der Wohnung einschlagen (S.119). Inzwischen ist auch der olle
Kopelke ans Küchenfenster getreten. Als ein Windstoß die bis dahin
gelegten Papierschnitzel der papiernen Passion auf- und
auseinanderwirbelt, können sie gerade noch von Herrn Haase
aufgefangen werden. (S.119) Unten taucht ein Schutzmann auf, der
sich unter "Geschrei. Heulen. Fluchen." seinen Weg durch die
unter dem Parterrefenster und im Hausflur zusammengelaufenen
Schaulustigen den Weg bahnt. Die Tür zur Wohnung des Schlossers wird
aufgebrochen und kurz danach "(wälzt sich) ein schwarzes
Menschenknäuel (...) zu Haustüre hinaus", in deren "Mitte ein Mann
(taumelt)", den die aufgebrachte und tosende Menschenmenge mit Rufen
wie "»Hund, verdammter!!«" oder »Totschlagen müssten Sie
den Hund!!!« (S.119) zusammen mit dem Schutzmann zum
Torweg hinaus vorwärtsgezerrt wird. Die Szenerie, die eben noch den
Eindruck einer bevorstehenden Lynchjustiz hinterlässt, beruhigt sich
damit auf einen Schlag: "Endlich ist der Hof wieder leer. Alles
ist wieder still." (S.119) Das weitere Schicksal des
gewalttätigen Schlossers spielt sich jenseits des Wahrnehmungsfeldes
der Akteure in der Mietskaserne ab.
Während sich die anderen Fenster zum Innenhof nach und nach
schließen, lehnt sich »Mutter Abendroth'n« noch immer hinaus und
spricht mit jemandem, während Kopelke sie auffordert, das Fenster zu
schließen und Herrn Haase bittet, ihm die aufgefangenen
Papierschnitzel zu überreichen. (S.120) Vom Fenster her hört man
eine kurze Unterhaltung von »Mutter Abendroth'n« mit Frau Scharf,
die offenbar zu berichten weiß, dass der Schlosser mit einem Beil
auf seine zum vierten Mal schwangere Frau losgegangen und dieser das
Blut "man immer so vom Kopp runterjeloofen" sei. (S.120) Weil sich
»Mutter Abendroth'n« danach noch immer kaum beruhigen kann, fordert
Kopelke, der wieder zur Tagesordnung übergegangen und inzwischen
schon wieder mit seinen Papierschnitzeln beschäftigt ist, sie auf,
sich wieder abzuregen. (S.121)
Auch für »Mutter Abendroth'n« scheint die Sache damit erledigt und
sie macht sich daran, Herrn Röder die Kartoffelpuffer zum
Abendessen, geht aber in den Hof hinunter, um sich mit ein paar
anderen Frauen wohl weiter über das Geschehen zu unterhalten
(S.121). Während ihrer Abwesenheit bastelt Kopelke unter den Augen
von Wally und Herrn Haase seine Papierschnitzel weiter zu einem
abstrakten Szenenbild der Golgatha-Szenerie zusammen. Doch kaum
steht das Ganze mit allen möglichen Elementen Kreuz, Kriegsknechten,
Maria, Johannes, den Emmaus-Jüngern und dem Stock mit dem Schwamm,
wird das ganze Gebilde von Wally vom Tisch gepustet. (S.122) Auch
wenn Kopelke das Verhalten von Wally tadelt, scheint ihn der Vorgang
nicht sonderlich zu7 berühren. Aus dem eben noch als Kreuz
titulierten und inszenierten Papierschnitzel, der als einziger an
Ort und Stelle liegen geblieben war, rollt er sich kurzerhand einen
"Fidibus", d. h. einen Anzünder für die Zigarre, die er sich damit
wieder ansteckt. (S.122) Dann spricht er Herrn Haase noch einmal
direkt auf den Grund an, weshalb er die Geschichte von der papiernen
Passion für ihn reinszeniert hat, ohne damit freilich in eine
gefährliche Situation wie damals zu geraten: »Sehn Se, werter,
junger Herr? Is det nich sonderbar? Schließlich kann eener aus so
wat 'n Spielzeich machen! Aber, wissen Se? Dabei hätt'n se mir
doch beinah eklig drum verhau'n! Sehn Se! Ick meen man! Wenn eener
so nimmt: schließlich is det doch 'ne putzije Welt!« (S.122) Für ihn
jedenfalls ist die Welt in Ordnung: Er macht es sich auf seinem
Stuhl behaglich und blinzelt selbstzufrieden durch den Zigarrenqualm
zu Herrn Haase hinüber, ehe er – das ist der Satz, mit dem die
Erzählung endet – Wally wie selbstverständlich auffordert (in
Abwesenheit von »Mutter Abendroth'n«), ihm "»noch mal so'n Puffert
rieberzulangen!"« (S.122) Auf diese Weise endet das Ganze "ebenso
beliebig, wie das Geschehen begonnen hat". (Stöckmann
2011, S.167)
Es ist ein für naturalistische Epik und Dramatik durchaus Übliches
handlungsarmes Geschehen, das sich vor den Augen seiner Leser
entfaltet.
Vordergründig stellt die "Handlung" der
zeitdeckenden
Erzählung die
Gespräche von »Mutter Abendroth'n« in den Mittelpunkt, die diese um
die Weihnachtszeit herum führt. Inhaltlich geht es dabei um Themen ihres
Alltagslebens wie z. B. die prekären finanziellen Verhältnisse, die Mietschulden von
Herrn Haase, das Studentenleben oder das
boshafte Verhalten ihrer Pflegetochter Wally sowie um die Zubereitung von
Kartoffelpuffern. Im Hintergrund dieser in konsequentem ▪
Sekundenstil, ohne Hinweis auf einen das Geschehen
organisierende Erzählinstanz präsentierten
"Ereignisse", (von Geschehen im traditionellen Sinne lässt sich
auf dieser "Vordergrundebene" wohl
kaum reden (vgl.
ebd.),
spielt sich ein verdecktes Geschehen im Hinterhof ab, aus dem die
gewalttätige Misshandlung der Frau des Schlossers durch ihren
besoffenen Mann, umrahmt von dem "dumpfen Geratter der Fabrik hinten
auf dem Hofe" (S.97) herausragt und bis in die Wohnung bis in
die Wohnung von »Mutter Abendroth'n« in der vierten Etage
heraufschallt.
Man hat betont, dass das vordergründig so
bedeutungslos
daherkommende Spiel mit dem Papier auf keine "'außerhalb' liegende
Bedeutung" (Mahal
31996, S.210) verweise und der ganze "Sinn der
Papiernen Passion einerseits in der Wiedergabe der gewählten
Milieurealität auf(geht)" (Stöckmann
2011, S.167) Anfang und Ende der von Kopelke erinnerten und
reinszenierten "Geschichte" seien "derart niederschwellig
gestaltet"(ebd.),
dass die Geschichte sich nicht aus dem sonst zur Anschauung
gebrachten Geschehen abhebt.
Diese Ansicht ist hingegen nicht unumstritten. So lässt sich beim
genaueren Hinsehen eben durchaus "ein
Geflecht
semantisch-symbolischer Korrespondenzbezüge und Anspielungen" (ebd.
S.168) erkennen. So fungiere das Fensterkreuz zugleich als Schwelle
und Grenze: als Schwelle, weil es den
teichoskopischen Blick auf
die reale Passion, auf die Gewalttätigkeit des Schlossers, im Hinterhof ermögliche,
"und als Grenze, weil es auf
das symbolisch-kunsthafte Papierarrangement der Kreuzigungsgruppe im
Interieur verweist." (ebd.)
So zeige sich gerade auch in diesem Text von Arno Holz und Johannes
Schlaf, dass es nicht immer zielführend ist, den sogenannten
▪
konsequenten Naturalismus immer wieder und vor allem fast
ausschließlich mit einem "planen Nachahmungsverständnis" (ebd.)
in Verbindung zu bringen. Stattdessen sollte sich die Interpretation
"dem komplexen Zusammenhang von mimetischem Realitätsbezug und
Symbolizität stellen" (ebd.)
Dies kann auch dadurch geschehen, dass man dem vordergründig so
belanglos daherkommenden "Passionsspiel" mit den Papierfetzen ein
stärkeres Gewicht bei der Deutung des Textes gibt.
Stellt man unter einer literaturwissenschaftlich-theologischen
Perspektive den Gedanken und den Aspekt der Passion in den
Mittelpunkt, dann "liest sich Die papierne Passion gerade in
ihrer relativen Theorielosigkeit als kleine Parabel von der
Medienverwiesenheit christlicher Passionserinnerung und –reflexion:
Die Passion braucht das Paper. [...] Die Passion braucht das Papier,
so passionsanfällig es – sie – selbst auch sein mag. Auch die
theologischen Reinszenierungen der Passion (genannt Christologie
oder Soteriologie) brauchen eine Sensibilität für ihre Kontexte, für
die text- ebenso wie für die lebensweltlichen." (Mauz
2008, S.193)
»Holz,
Arno und Johannes Schlaf (1892): Die papierne Passion
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