▪
Arno Holz und
Johannes Schlaf: Die papierne Passion (1890)
▪Aspekte
der Erzähltextanalyse
▪
Überblick
▪
Die Radikalisierung des Erzählverfahrens
Einer wichtigsten
Vertreter des sogenannten "konsequenten
Naturalismus" in Deutschland,
▪
Arno Holz (1863'-'1929),
war der Überzeugung, dass das Besondere des ▪
Naturalismus weniger auf der Auswahl von bestimmten Stoffen als auf
einer bestimmten Darstellungsart beruhte, die man als "photo-phonographische
Methode" (vgl.
Schanze 1983,
S.465, zit. n.
Stöckmann 2011, S.165) oder mit dem von
»Adalbert
von Hanstein (1861-1904) (1900)
geprägten Begriff Sekundenstil bezeichnet.
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Dabei geht diese
Darstellungstechnik aber nicht vollständig darin auf, dass sie eine
möglichst perfekte "Authentizitätsillusion" durch weitreichende mimetische
Genauigkeit, also ein möglichst "naturgetreues" Abbild der Wirklichkeit,
erzeugen will.
Die formale Revolution des stilistisch konsequenten
Naturalismus
Ausgangspunkt des "konsequenten Naturalismus" war eben wohl
weniger die immer wieder betonte Nachahmungsproblematik als eine
Sprachskepsis, die Holz dazu brachte, "der
konnotativen Dynamik der »hundert
Bedeutungen« (Holz, X, 341) – eine Begrenzung von Verweigerungsüberschüssen
entgegenzustellen; zuallererst diese Möglichkeit, der
Polysemie des
sprachlichen Materials Herr zu werden, begründet das Verfahren,
signifizierende (bedeutungsgebende) und signifikante (bedeutende) Momente so
eng miteinander zu verkoppeln, dass symbolische Bedeutungsüberschüsse
abgewiesen werden können." (Stöckmann
2011, S.166) Anders und sehr vereinfacht ausgedrückt: die Darstellung
mit Worten sollte dem Leser "ohne jede Möglichkeit des 'Abschaltens', des
Entweichens"
(Mahal 31996,
S.214) möglichst wenig Fantasie und Interpretationsspielraum
bei der Bedeutungskonstruktion des Textes bzw. des dargestellten Geschehens
lassen.
(vgl. ebd.,
S.203)
Dabei stand bei
»Arno
Holz (1863-1929) und »Johannes
Schlaf (1862-1941), den wichtigsten Vertretern des "konsequenten
Naturalismus" also nicht so sehr die thematische Revolution wider die
hergebrachte – nur 'schöne', nur feierliche, nur erhebende – Poesie" im
Zentrum, sondern beiden ging es darum, "einer formalen Revolution zum
Durchbruch zu verhelfen." (Mahal
31996, S.203). So gesehen wurde Prosastudie "Die
Papierne Passion" (1890) auch "zum Paradebeispiel" (ebd.,
S.214) – man würde sie heute wohl als
Prototypen bezeichnen –
"des
stilistisch – nicht stofflich – 'konsequenten Naturalismus'". (ebd.).
Bei diesem "geht es keineswegs um die soziale Anklage, um gesellschaftliche
Analyse, um engagierenden Appell; hier wird mit einem ausgefeilten
Instrumentarium exaktheits- und totalitätsbemühter Reproduktion, mit einer
nahezu perfekten Mimesis Realität, 'Natur' 'wieder' gezeigt, mit einem
Instrumentarium, das hie wie im naturalistischen Drama eingesetzt werden
kann." (ebd.).
Außerdem
zeigt die Tatsache, dass Arno Holz bei der Textproduktion zunächst einen
"konventionellen fiktionalen Entwurf" (Stöckmann
2011, S.166)
anfertigte, ehe er diesen "in einer Art geregelter Transkription" (ebd.)
und auf dem Wege einer "sprachlich-textuelle(n) Stilisierung" (ebd.) überarbeitete und die endgültige Fassung des Textes im ▪
Stil
des konsequenten Naturalismus (in der ▪
Stilbeschreibung poetischer/literarischer Texte
durch ▪
Wilhelm Schneider (1885-1979) als
sinnlichen Stil) angefertigte, dass die erwünschte mimetische
Illusion Ergebnis eines vielgestaltigen und zumindest zweistufigen
Produktionsprozesses war.
Die Sprachmittel des ▪
sinnlichen Stils bzw. des ▪
Ausdruckswertes,
den sie gestalten, sind neben den oben im Mind Map zum Sekundenstil
aufgeführten Merkmalen u. a.:
-
das zahlreiche Vorkommen
von Adjektiven und Attributsätzen
-
veranschaulichende, einen
sinnlichen Eindruck vermittelnde Verben
-
direkte Rede mit
individuellen Zügen (Alltagssprache, Dialekt, Soziolekt) einschließlich Darstellung von
suprasegmentalen
Aspekten der Sprache (prosodische und
paraverbale Merkmale);
-
Stilelemente wie
Vergleiche,
Metaphern,
Synekdoche, (vgl. Schneider 1931,
S.43ff.)
-
Zeichensetzung als
Ausdrucksmittel zur Verdeutlichung, ob man beim Reden z. B. ins
Stocken gerät oder eine Pause macht. Mit unterschiedlichen
Interpunktionszeichen wie z. B. Auslassungspunkten, Frage- und
Ausrufezeichen, Gedankenstrich, wird die Zeichensetzung zu einem
wichtigen Träger von Bedeutung. Dabei spielt bei dieser
Semantisierung der
Interpunktion der Gedankenstrich eine ganz zentrale Rolle.
Das panoptische und holoskopische Erzählverfahren
Um solchen Ziele gerecht
werden zu können, hatte der Autor
panoptisch und
holoskopisch vorzugehen.
-
Panoptisch,
indem er Beobachtetes nicht mehr durch einen selektierenden Eingriff
strukturierte". Damit sollte also keine subjektive Auswahl aus einem
Ganzen präsentiert werden. Allerdings zeigte sich "immer wieder,
dass die 'reine Beobachtung' eine Abstraktion ist, die sich literarisch
nur punktuell und in Kombination mit anderen literarischen Texten
umsetzen lässt." (Fick
2007, S.139)
-
Der Weg dahin war ein
holoskopisches Verfahren,
bei dem er alles Sicht- und anders Wahrnehmbare registriert, ohne es
ihn seiner Bedeutung zu gewichten. Gefordert war daher eine Rolle
als eine Art Zeuge des 'Ganzen', in dem alles, selbst das, was
gemeinhin als unwichtig galt, prinzipiell gleichwertig zur
Darstellung gebracht wird. (vgl.
Mahal
31996, S.175)
Der ▪
naturalistische Sekundenstil
galt als die fortgeschrittenste
Darstellungstechnik, mit der dies umzusetzen war. In seiner
Extremform verlangte er, dass sämtliche
"Hohlräume" eines Textes zu
füllen waren, auch wenn das mediale Schriftformat dem natürlich
prinzipiell entgegenstand. (vgl.
Korthals
2003a, S.20)
Der Sekundenstil steht auch
für das mancherorts so genannte "erzählerlose
Erzählen" (Stöckmann
2011, S.167), das ein wenig an die von »Franz
K. Stanzel (geb. 1924) einstmals unterschiedene, später aber vielleicht etwas "voreilig", wie Jochen
Vogt
(2014, S.90, auch S.51ff.) meint, aufgegebene, besondere Variante
der ▪ personalen Erzählsituation
die ▪ neutrale
Erzählsituation erinnert. Allerdings wird von bestimmten
Vertretern der neueren Erzähltheorie
die Vorstellung eines quasi erzählerlosen Erzählens abgelehnt, weil Perspektive eine basale Grundeigenschaft allen Erzählens
darstellt. (z. B.
Schmid 2005, S.133).
Aus didaktischen Gründen
lässt sich aber an dem Begriff des erzählerlosen Erzählens auch dann
festhalten, wenn es dagegen gewichtige analytische und erkenntnistheoretische Einwände
gibt. In der
schulischen Interpretationspraxis jedenfalls hat sich die Beibehaltung
der neutralen Erzählsituation, die ja auch auf besondere Weise in das ▪
Fokalisierungkonzept von Gerard
Genette
(2. Aufl. 1998, S.134ff.) mit der sogenannten
externen
Fokalisierung wieder Eingang gefunden hat, durchaus als Hilfsmittel
der Interpretation bewährt.
Zuguterletzt ist auch die Kategorie
des Sekundenstils selbst fragwürdig. Im Kern geht es nämlich um
eine "Schreibtechnik als Mittel zur Erzeugung einer Illusion zeitdeckender Darstellung (...), bei der die Autoren sich des
Wissens ihrer Leser über die Häufigkeit und Dauer alltäglicher
Verrichtungen bedienen und es nicht wie üblich bei der
zusammenfassenden Erwähnung belassen. Sie schreiben z. B. nicht 'X
briet sich ein Schnitzel, sondern führen so viele Einzelschritte des
Schnitzelbratens oder verbale und non-verbale Äußerungen des
Geschehensteilnehmers X während des Schnitzelbratens auf, dass
der Prozess des Lesens der Dauer des Vorgangs zumindest eher zu
entsprechend scheint als jedem zusammenfassenden Satz." (ebd.,
Anm. 17)
Die ästhetische Theorie des Naturalismus zieht aus der
Forderung nach Wirklichkeitsnachahmung eine Reihe von ▪
Konsequenzen.
Die Tatsache, dass
den Naturalisten alles verdächtig war, was in der Literatur nach Intuition
und Fantasie, einem schöpferischen Umgang mit der Natur oder gar dem
künstlerischen Gestalten und Arrangieren einer fiktiven Wirklichkeit aussah,
schlug sich auch in einem typischen naturalistischen Stil, einem
(prototypischen) Epochenstil
(vgl. Sandig
22006, S.535), nieder.
Statt einer
artistisch und in ihren Augen völlig gekünstelt wirkenden poetischen
Sprache, die mit der in Wirklichkeit gesprochenen Sprache nichts zu tun
hatte – man denke in diesem Zusammenhang nur einmal an die Sprache eines
Dramas der Weimarer Klassik von ▪ Johann
Wolfgang von Goethe (1749-1832) (z. B. ▪
Egmont oder »Iphigenie
auf Tauris) oder von ▪
Friedrich Schiller (1759-1805) (z. B. ▪
Maria Stuart) –
nutzten deutsche Naturalisten wie z. B. »Gerhart Hauptmann
(1862-1942) oder
»Arno
Holz (1863-1929) und »Johannes
Schlaf (1862-1941) "die Umgangssprache, den Dialekt, den unvollständigen
oder gar fehlerhaftern Satz, um so Natürlichkeit zu erreichen und näher an
die Wirklichkeit zu gelangen." (ebd.)
Auch die Auswahl
von Stoffen und Figuren ordnete sich dem literarischen Konzept unter. In der
damit verbundenen Ausweitung des
Themenspektrums betraten nun statt
edler und erhabener Figuren oder ▪ "schöner
Seelen" wie z. B. Maria Stuart in Schillers gleichnamigem Drama nunmehr Prostituierte, von Alkohol- und sonstigen Süchten gezeichnete
Gestalten, Geisteskranke und vor allem die unteren sozialen Schichten,
"deren Milieu außerhalb der bürgerlichen Welt lag"
(ebd.),
die Bühne der naturalistischen Literatur. Dabei richteten die Naturalisten
ihren Blick "keineswegs nur auf soziale Randbereiche" (Bunzel
22011, S.60), sondern "auch auf psychische
Begleiterscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft." (ebd.)
Zur Sprache gebracht werden "mentale und emotionale Phänomene wie
Statusdenken, Leistungsdruck, Sozialneid, Versagens- und Abstiegsängste" (ebd.)
und damit "ein ganzer Verhaltenshabitus, der das Ineinandergreifen
biologischer Prägefaktoren und sozialer Nomen bezogen auf Körper und Psyche
eines einzelnen erkennbar macht." (ebd.)
Konsequenter Naturalismus von Arno Holz und Johannes Schlaf
Ein
Prototyp (vgl.
Sandig
22006, S.535f.) für den naturalistischen Stil in
einer besonderen Form ist
z. B. die Erzählung ▪ "Ein
Tod", die 1889 von »Arno
Holz (1863-1929) und »Johannes
Schlaf (1862-1941) unter dem gemeinsamem Pseudonym Bjarne P. Holmsen
verfasst und in dem dreiteiligen Erzählband »Papa
Hamlet enthalten ist. Ein Beispiel für die weitere Radikalisierung des
Erzählverfahrens stellt die Prosastudie ▪ "Die
papierne Passion" (1890) dar, die ebenfalls aus der gemeinsamen
Feder dieser beiden Autoren stammt. Sie zählen, ebenso wie ▪ "Papa
Hamlet" (1889) zu den Werken, die zum
sogenannten "konsequenten Naturalismus" gezählt werden.
Prototypische
Stile, zu denen literarische Autor- oder Epochenstile, Individualstile
und auffällige soziale Stile gehören (ebd.,
S.535), zeichnen sich dadurch aus, "dass ihre Merkmalsbündel zusammen mit
neutralen Elementen eine charakteristische Kombination stilistisch
markierter Elemente enthält." (ebd.)
Dabei gehört ist das, was die beiden Autoren Holz und Schlaf in ihren
Prosafragmenten, die für sie selbst keine "abgerundete(n) Kunstwerke",
sondern nur "»Studien« zu solchen waren" (zit. n.
Bunzel 22011,
S.60), niederschrieben zu dem, was man gemeinhin den im internationalen
Vergleich als Sonderweg dastehenden "konsequenten
Naturalismus" nennt. Dieser betrat mit seinen Experimenten in Sprache und Form
ästhetisches Neuland und erzeugte vor allem "einen veränderten literarischen
Fiktionsmodus". (Bunzel
22011, S.62) Dabei löst sich "die Narration vom Zwang
fortschreitender Mitteilung und nähert sich der Zustandsschilderung an. Das
Sprachmaterial bleibt zwar noch im Dienst der Beschreibung, doch
verselbständigt es sich gewissermaßen unter der Hand, weil es nurmehr dem
Gebot der Mimesis, aber nicht mehr Zwecken narrativer Ökonomie gehorcht." (ebd.,
S.62f.)
Dass eine solche literarische Darstellungsweise, "die so naturgetreu wie
möglich Wirklichkeit wiedergeben sollte" (Schulz
1973, S.19), auch in der literarischen Öffentlichkeit aneckte, versteht
sich. So machte man Holz und Schlaf den Vorwurf, für sie sei die Kunst
nichts mehr als "photographische und phonographische Kopie des Äußeren". (ebd.)
Was die Kritiker moniert haben, zeigt sich z. B. besonders deutlich daran, dass die
▪ Zeichensetzung als
Ausdrucksmittel ein erhebliches Gewicht bekommt. Dabei spielt bei
dieser Semantisierung der
Interpunktion der Gedankenstrich eine ganz zentrale Rolle und hat
zeitgenössische Kritiker dazu veranlasst, abfällig von "Taubstummenpoesie"
(vgl. Berg 1896, S.375-380, zit. n.
Bunzel 22011,
S.63)) zu sprechen oder das Ganze als wenig gehaltvolle
"Interjektionspoesie" (Tägliche Rundschau
13, 1893, Unterhaltungsbeilage, 308, zit. n.
Bunzel 22011,
S.63) abzutun.
Die zeitgenössischen Kritiker besaßen offenkundig kein
Verständnis für die von »Arno
Holz (1863-1929) und »Johannes
Schlaf (1862-1941) konzipierte ▪ "photo-phonographische Methode", die sich durch
den Verzicht auf "den über eine zwischengeschaltete Erzählinstanz
wiedergegebenen Gesprächsbericht oder die Beschreibung von Gestik und Mimik"
auszeichnete. Sie setzte stattdessen auf "die protokollarische Wiedergabe ihrer
Verlautbarungen" (Bunzel
22011, S.64), mit
ihrem Dialekt und Soziolekt, mit ihren spezifischen Sprechgeschwindigkeiten
und ihrer jeweils besonderen Art sie zu artikulieren und zu phrasieren. und
darüber hinaus sogar noch ihre möglichen ▪
körpersprachlichen
Ausdruckformen in ▪
Gesten, ▪
Mimik,
▪
Körperhaltungen und -bewegung
zu berücksichtigen.
▪
Arno Holz und
Johannes Schlaf: Die papierne Passion (1890)
▪Aspekte
der Erzähltextanalyse
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Überblick
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Die Radikalisierung des Erzählverfahrens
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
06.11.2022
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