Der
▪
Naturalismus als
gesamteuropäische Literaturepoche fällt in den Zeitraum zwischen 1880
und 1910.
Allgemein bezeichnet der Begriff "jede künstlerische Richtung, die sich um
die unmittelbare Nachahmung bemüht und bestimmte Ausschnitte der natürlichen
oder gesellschaftlichen Wirklichkeit mit den je eigenen literarischen,
bildnerischen oder musikalischen Mitteln »naturgetreu« wiedergeben will."
(Hoffacker
31989,
S. 309)
1. Naturalismus und bürgerlicher Realismus
Der Naturalismus entwickelt sich aus dem (bürgerlichen) Realismus. Wie
diesem geht es dem Naturalismus um eine möglichst objektive
Wirklichkeitsdarstellung. Während der Realismus allerdings seine
kritische Beschreibung existentieller Möglichkeiten des Menschen relativ
weit spannt, spitzt der Naturalismus solche Fragen auf die
Wirklichkeitswahrnehmung zu. Damit verengt er die realistischen Ziele auf
die Darstellung des moralischen und wirtschaftlichen Elends, das
Pathologischen des Alltags, des Niedrigen, Hässlichen und Triebhaften. Aus
diesem Grunde hat man den Naturalismus. auch als "Realismus in
Angriffsstellung“ (Hermand) bezeichnet und seine Vertreter haben sich bis
Gerhart Hauptmann dementsprechend auch selbst als „Neu-Realisten“
betrachtet.
Der Naturalismus macht thematisch die bis dahin auf der Bühne
ausgegrenzten Bereiche des sozialen Milieus von Kleinbürgertum und
Industrieproletariat literaturfähig. Seine Themen enthalten eine klare
Kritik am Bürgertum. Diesem wird vorgehalten, dass sein
Fortschrittsoptimismus angesichts der Probleme der sich entwickelnden
Industriegesellschaft (soziale Frage) fehl am Platz sei und zu Doppelmoral,
Gleichgültigkeit und mangelndem Mitgefühl mit den sozial Ausgestoßenen
geführt habe. Wegen dieser relativ klaren Zielsetzung lässt sich der
Naturalismus im Gegensatz zum Realismus als literarische Epoche jedoch
leichter beschreiben.
2. Der wissenschaftlich-philosophische Hintergrund des
Naturalismus
Von der jungen Generation als künstlerische "Moderne" und als
"Revolution" von Kunst und Literatur aufgefasst, orientierte sich der
Naturalismus an philosophischen und anthropologischen Erkenntnissen des
Positivismus, insbesondere an den Theorien des französischen Soziologen
Hippolyte Adolphe Taine (1828-1893), der einen Plan zur Anwendung
naturwissenschaftlicher Methoden auf die Untersuchung des Wesens und der
Geschichte der Menschheit entwickelte.
Der Positivismus lehnte jede idealistische Spekulation
entschieden ab und zielte auf eine rein empirische Naturerkenntnis. Sein
Menschenbild beruhte auf einem anthropologischen Determinismus, der besagte,
dass "im Verhalten des einzelnen wie der Gesellschaft, bestimmte
voraussagbare Gesetzmäßigkeiten, Ursachen und Wirkungen, Kausalitäten zu
erkennen" sind. (ebd., S. 311)
Der Einzelne, das Individuelle, war unter diesem Blickwinkel
von drei Faktoren bestimmt:
Weil die literarische Strömung des Naturalismus diesen
anthropologischen Determinismus weitgehend unverändert auf die Kunst- und
Literaturtheorie übertragen hat, konnte sie zwar bei der Darstellung des
sozialen Elends eine bis dahin nicht gekannte Wirklichkeitsnähe entfalten.
Eine Perspektive für die soziale Veränderung ließ sich daraus allein jedoch
nicht entwickeln.
3. Der Naturalismus als gesamteuropäische Bewegung
Der deutsche Naturalismus konnte auf zahlreiche europäische
Vorbilder stützen. Dazu zählten u. a. die folgenden Schriftsteller und
Künstler
-
»Fjodor
Michajlowitsch Dostojewskij (1821'-'1881)
russischer Schriftsteller; Vertreter des Realismus innerhalb der
russischen Literatur, der vor allem mit seiner neuartigen psychologischen
Erzählweise und der philosophischen Komplexität seines Romanwerkes
Bedeutung erlangt hat
-
»Lew
Nikolajewitsch Graf Tolstoj (1828-1910)
russischer Schriftsteller der mit seinen episch breiten
Gesellschaftsromanen Krieg und Frieden und Anna Karenina wie Dostojewskij
zu den großen Realisten der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts
gezählt wird;
-
Henrik Ibsen (1828-1906)
norwegischer Dramatiker; gilt als Begründer des modernen, psychologisch
und sozial differenzierten Gesellschaftsdramas;
-
»Guy
de Maupassant (1850-1893)
französischer Schriftsteller; seine umfangreiches Schaffen zeichnet sich
u. a. durch einen klaren Stil und realistische Darstellung aus;
verzichtet auf moralisierende und psychologisierende Elemente; im
Unterschied zu den Naturalisten zielt der Detailreichtum seiner
Darstellung aber nicht auf eine naturgetreue Wiedergabe der Realität,
sondern auf eine poetische „Wahrheit” der Geschichte im Sinn ihrer
möglichen Wahrscheinlichkeit;
-
ȃmile
Zola (1840-1902)
französischer Schriftsteller; gilt als eigentlicher Begründer des
europäischen Naturalismus; unter dem Einfluss des französischer
Philosophen »Isidore
Marie Auguste François Xavier Comtes (1798-1857),
dem Hauptvertreter des klassischen Positivismus, der Evolutionstheorie des
britischen Naturforschers »Charles
Robert Darwins (1809-1882), der
Milieutheorie »Hippolyte
Adolphe Taines (1828-1893) und der
Experimentalmedizin »Claude
Bernards (1813-1878) entwickelt Zola die
Vorstellung von einem wissenschaftlich fundierten Roman, in dem die
Auswirkungen von Vererbung und sozialem Milieu im Mittelpunkt stehen; sein
literarisches Schaffen zielt auf eine möglichst umfassende Darstellung
aller Bereiche der menschlichen Existenz und die Darlegung
politisch-sozialer Missstände.
-
»August
Strindberg (1849-1912)
schwedischer Schriftsteller; beeinflusst mit seinen sozialkritischen
Theaterstücken und seiner innovativen Stationentechnik die Literatur des
Naturalismus und Expressionismus; (vgl.▪
Strindbergs Theorie des
naturalistischen Dramas)
4. Der deutsche Naturalismus
Der deutsche Naturalismus entwickelt sich in zwei Phasen und
besitzt zwei verschiedene Zentren.
-
Die erste Phase
(ca.1880'-'86) ist gekennzeichnet von programmatischen Diskussionen in
mehr oder weniger kurzlebigen Zirkeln in München und Berlin, die in
zahlreichen Pamphleten, Programmen und Manifesten ihren Niederschlag
gefunden haben.
-
Die zweite Phase
(1886'-'1895) stellt die produktive Hauptphase dar. Diese Phase ist
bestimmt durch das dramatische Werk »Gerhart Hauptmanns (1862'-'1942).
Auf den deutschen Naturalisten
▪
Arno Holz (1863'-'1929),
der gemeinsam mit Johannes Schlaf den sogenannten "konsequenten
Naturalismus" vor allem ▪
in stilistischer Hinsicht prägte, geht dabei
einer der programmatischen Sätze zur
ästhetischen Theorie des Naturalismus
zurück, das als sein ▪ "Kunstgesetz"
bekannt, aber auch vielgeschmäht wurde.
"Die Kunst hat die Tendenz, wieder die Natur zu sein."
Formelhaft ausgedrückt: "Kunst = Natur - x." (zit. n.
Hoffacker
31989, S. 311)
Danach galt es, "die Erscheinungen der Wirklichkeit möglichst deckungsgleich
wiederzugeben, wobei jener Faktor x, die künstlerische Subjektivität und die
Unvollkommenheit der künstlerischen Mittel, möglichst klein zu halten war,
um die Differenzen zwischen Realität und Abbild auszuschalten. Präzision in
der Erfassung der Wirklichkeit, die zu schildern war, so lautete das oberste
Gebot für die schriftstellerische Technik." (Hoffacker
31989, S. 311)
Die ästhetische Theorie des Naturalismus zieht aus der
Forderung nach Wirklichkeitsnachahmung eine Reihe von
Konsequenzen.
Dazu gehören u. a.:
-
wissenschaftsähnliche
Beobachtung der Realität
-
Orientierung an
Tatsachenmaterial
-
Bevorzugung der
Umgangssprache und des Dialekts
-
Normalität als
Maßstab für literarische Figuren bis hin zur Darstellung des Hässlichen,
Abseitigen und Niederen als Ausdruck der Realität
-
untere soziale
Schichten, Randgruppen wie Dirnen, Alkoholiker, Geisteskranke als
Handlungsträger (vgl. (Hoffacker
31989, S. 311)
In politisch-gesellschaftlicher Hinsicht wollte sich der
Naturalismus zunächst einmal klar und deutlich von der bürgerlichen Welt
abheben. Wirklichkeitsgetreue Nachahmung der Realität mit den Mitteln der
Kunst zielte dabei darauf ab, über die sozialen Verhältnisse der
Gesellschaft aufzuklären und wenn möglich die schlechte Wirklichkeit zu
verändern. Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
06.11.2022
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