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Schlink, Der Vorleser - 1. Teil

Psychodynamik in der Adoleszenz*

Ingomar D. Mutz und Peter J. Scheer

 
 
  Es ist die Zeit der Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungen, der Einordnung in die Gesellschaft der Erwachsenen und des Eintritts ins Berufsleben. Alle diese Veränderungen müssen bewältigt werden, treffen auf ein unreifes Ich (A. Freud, 1968), das diese Veränderungen nur zum Teil verstandesmäßig integrieren kann. Der Wunsch alles schon selber zu können bei gleichzeitiger Unfähigkeit dazu führt zu den so genannten schweren Erfahrungen der Jugendzeit. [...]

Änderungen der Objektbeziehungen

Um unabhängig und selbständig zu werden, muss sich der Jugendliche von den Eltern als seinen wichtigsten Liebesobjekten lösen. Das führt zum Beispiel zu demonstrativer Gleichgültigkeit, zur Herabsetzung der Eltern als unnütz und/oder unfähig. Demonstrative Aufsässigkeit und Rebellion gegen die bisherigen Normen kann vorkommen und ist als "gesund" einzuschätzen. [...]
Immer wieder kommt es zu Rückfällen in Hilflosigkeit und Abhängigkeit von den Eltern und Erziehern, die mit Liebe und Toleranz zu ertragen sind. [...}
Grundsätzlich gilt: Je enger das Verhältnis zwischen Kind und Eltern war, desto stürmischer der Trennungskampf.

Zeit der Gefühlslabilität und des Protestes

Gefühlslabilität - hoch und tief: (ups and downs): Empfindlichkeit wird von übertriebener Selbstkritik abgelöst, eine Neigung zu depressiver Verstimmung kommt sehr oft vor (J.W. v. Goethe: "Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt / Glücklich allein die Seele, die liebt (Käthchen in Faust I.)
Die Kinder werden oft bockiger, rücksichtsloser, grausamer, zerstörerischer, schmutziger, unmoralischer, schon, um sich abzulösen, um zu zeigen, dass sie "anders" sind. Es kann helfen, darauf nicht einzugehen, manchmal nützen auch Auseinandersetzungen darüber. Wenn man aber auf sie aber eingeht, muss man wissen, dass man dadurch manchmal das bekämpfte Verhalten bestärkt.[...]

Änderung des Körperbildes

Die gesteigerte Selbstwahrnehmung bei Änderung des Körperbildes beunruhigt und führt zu verstärktem Schamgefühl und Zunahme des Intimitätsbedürfnisses. Der Körper wird als peinlich empfunden, der Jugendliche fühlt sich unsicher, wie er auf die Umgebung wirkt, versteckt den Körper unter weiter Kleidung (ev. auch skurrile Haartracht, um damit fertig zu werden und/oder zu einer als "Heimat" empfundenen Gruppe zu gehören - Zauber der Montur in anderer Form).
Versuche das Körperbild zu verändern können sein: Pubertätsmagersucht,   Übergewicht, Selbstverstümmelung (Pearcing = Selbstverstümmelung und Schmuck). Die Grundlagen können in einer Ambivalenz zwischen Ablehnung und Akzeptanz der eigenen Körperlichkeit, der Rollenverständnisse und Lebensführung der Eltern liegen und oft auch unbeholfene Versuche der Pflege der eigenen Person darstellen.
Die Akzeptanz des eigenen Körpers erfolgt frühestens in der späten Adoleszenz, bei vielen Menschen (bei Frauen öfter als bei Männern) sind Diätfetischismen und Körperwahrnehmungsprobleme lebenslange Begleiter.

Änderung der sozialen Kontakte

Die Ablösung von der Familie geht mit Stimmungsschwankungen einher und erfordert Ersatz durch Freundschaft mit (gleichgeschlechtlichen) Gleichaltrigen, dann kommt es zur Zuwendung zu einer Gruppe von Gleichaltrigen und Gleichgesinnten (peer - group, Cliquen), deren Führerschaft man als unumstrittene Autorität anerkennt und/oder Hinwendung zu Leitfiguren wie Filmschauspielern, Dichtern, Philosophen, Politiker, Gurus oder Idole der Popkultur.
In der späten Adoleszenz verliert die Gruppe an Attraktivität und es kommt zur Aufnahme von Intimbeziehungen, die dann eine neue, wichtigere Stütze geben.

Aufbau einer eigenen Identität

Es kommt zur Zunahme der Urteilsfähigkeit bei gleichzeitigem Wachsen der Phantasiewelt (Tagträume). Berufsvorstellungen werden oft überaus idealistisch gesehen. Elterliche Scheinheiligkeit wird durchschaut und angeprangert.
Durch Omnipotenzgefühl (=Allmachtphantasien) und dem Wunsch nach Grenzerfahrungen ("Was kann ich alles") kommt es vermehrt zu Sport- und Freizeitunfällen.
Die Entwicklung eigener moralischer Werte ist nun das Thema und äußerst bedeutsam. Der Jugendliche will - im besten Falle - alles besser machen. Seine Beziehung wird nicht durch Trennung, Untreue etc. ruiniert; sein Berufsleben wird keine Vetternwirtschaft kennen und so fort. [..]
Erst langsam entwickelt sich - auch in der Auseinandersetzung mit der Realität - ein zunehmender Realismus, der zu realistischeren Berufsvorstellungen führt. Das führt dann - oft viel zu früh (manche Menschen werden schon als "Alte" geboren) zur Kompromissbereitschaft und der Bereitschaft, Grenzen zu akzeptieren.

Biologische Reifung und soziale Integration

Längere Lernzeit bei gleichzeitiger Akzeleration (Beschleunigung) der körperlichen Reifung vergrößert die Diskrepanz zwischen physischer und sozialer Reife. Diese Grenzposition führt zu Rollen- und Statuskonflikten.

  • Rolle = Summe der Verhaltenserwartungen, die die Gesellschaft an eine Person heranträgt (Pflichten). Rollenkonflikte entstehen, wenn vom Jugendlichen bereits ein erwachsenenmäßiges Verhalten erwartet wird, zu dem er noch gar nicht fähig ist, oder wenn er noch als Kind behandelt wird, obwohl er sich schon halb oder ganz erwachsen fühlt.
  • Als Status bezeichnet man die mit einer Position (als Sohn/Tochter, Schüler, Lehrling, Kamerad) verbundenen Erwartungen des Betreffenden in Bezug auf seine Selbständigkeit, sein Mitspracherecht, die gebührende Anerkennung, die Verantwortung und Entscheidungsfreiheit etc.. Statuskonflikte entstehen, wenn der Jugendliche z.B. mehr Rechte verlangt, solche Ansprüche nicht ihren Möglichkeiten entsprechen und nicht mit den Erwartungen ihrer Umwelt übereinstimmen.

(aus: Ingomar D. Mutz und Peter J. Scheer, Pubertät und Adoleszenz (1); nach einem Fortbildungsvortrag (I.D. Mutz) von Krankenpflegepersonal, Veranstalter: Firma Milupa, Bruck/Mur im Herbst 1997, http://www-ang.kfunigraz.ac.at/~scheer/doc/pubertaet.html, 3.1.04, leicht geändert)

Worterklärungen:

Adoleszenz: Zeit der physischen und psychischen Reifung eines Menschen; man unterscheidet drei Phasen: frühe A. 10./11. - 14 Lebensjahr; mittlere A. 14 - 16./17. Lebensjahr; späte A. 16./17. - 21. Lebensjahr

 

 
    
   Arbeitsanregungen:
  1. Arbeiten Sie die wesentlichen Bereiche der Psychodynamik in der Adoleszenz heraus.
  2. Zeigen Sie an der Entwicklung des Ich-Erzählers Michael Berg in Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" auf, welche dieser Bereiche im Text thematisiert werden und überlegen Sie, welche Bedeutung ihnen zukommt.
     
 
     
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