Mit dem Schreiben ist das halt so eine Sache
Über
das Schreiben macht sich wohl so jeder seine eigenen Vorstellungen.
Im Extrem: Die einen erleben das Schreiben selbst immer wieder als
Trauma, und die anderen wollen im Schreiben Traumata bewältigen nach
dem Motto: "Schreib
dich gesund". Was die einen also "krank" machen kann, kann bei
anderen, z. B. beim
expressiven Schreiben als Therapie die körperliche und
psychische Gesundheit stärken (besseres Immunsystem, Senkung des
Blutdrucks, besseres psychisches Wohlbefinden, effektiveres Lernen
etc.)

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Die Ideen, die vom sogenannten "gesunden Menschenverstand" und
Erfahrungen im "operativen Geschäft" ausgehen, sollen irgendwie
erklären, wie man zum Schreiben kommt und weshalb es die einen
können und die anderen eben nicht - angeblich. Mit dem Schreiben,
das einen komplexen kognitiven und psychomotorischen Hintergrund
hat, ist aber nicht so einfach.
Da hilft es schon weiter, wenn man, insbesondere bei
Schwierigkeiten mit dem Schreiben, hinter die Kulissen sieht
und sich fragt, "wie alles anfing": Wie verläuft die
Schreibentwicklung?
Am Anfang steht der Schriftsprachenerwerb und das Erstlesen
Die eigentliche Schreibentwicklung beginnt, wenn wir gelernt
haben, Sprache schriftlich zu fixieren, wenn wir also die
psychomotorische Fähigkeit erworben haben, zu schreiben. Die Schreibentwicklung
schließt sich also an den Schriftsprachenerwerb
(Erstlesen und Erstschreiben) an. (vgl.
Fix 2006/2008,
S.50)
Die Fähigkeit, beim Schriftsprachenerwerb
Gesprochenes oder Gedachtes in schriftliche Zeichen zu überführen,
stellt eine sehr komplexe Leistung in verschiedenen Bereichen dar. Neu
sind dabei auch die Bedingungen, unter denen sich die davon geprägte
Kommunikation vollzieht.
-
So gilt es beim
Schreiben z. B. "eine Schreibaufgabe in einen Text umzusetzen, der nicht
mehr auf einen unmittelbar gegebenen Handlungszusammenhang angewiesen
ist, sondern über eine unmittelbar gegebene Situation hinausweist" (Baurmann
2002/2008, S. 13).
-
Und erschwerend kommt dazu: Solches
Schreiben muss auf die direkte Rückmeldung eines
Kommunikationspartners verzichten. (vgl.
Fix 2006/2008,
S.50)
Ziemlich neu das Ganze also für Kinder, die sich bis dahin nur
mündlich oder mittels
körpersprachlicher Signale verständigt haben.
"Geborene Schreiber" gibt es jedenfalls nicht und wir alle
haben das Schreiben gelernt.
"Ich konnte noch nie was Vernünftiges schreiben" - Die
individuelle Schreibentwicklung ein Rätsel?
Wie sich das Schreiben des einzelnen nach dem
Schriftsprachenerwerb weiter entwickelt, ist dagegen für viele Menschen
ein Rätsel, dem man mit unterschiedlichen Alltagshypothesen zu Leibe
rückt.
Dass die Schreibentwicklung für einen großen Teil der
Schülerinnen und Schüler trotz langjährigen Aufsatzunterrichts ein
Mysterium bleibt, zeigen Untersuchungen, wonach etwa ein Drittel der
Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I angeben, dass sie das
Schreiben von Aufsätzen für nicht lernbar halten. (vgl.
Merz-Grötsch
2001, S.168ff., zit. n.
Baurmann
2002/2008, S. 7)
Rezepte aus der Mottenkiste
Feilke (1995,
S,278ff.) hat drei Vorstellungen herausgearbeitet, die, obwohl sie wenig
taugen, heute immer noch in den Köpfen der Menschen herumgeistern, wenn
es um das Schreiben geht. Und selbst Lehrkräfte, die es eigentlich
besser wissen müssten, sind oft nicht dagegen gefeit, weil sie sich in
Ihrer Unterrichtspraxis wenig von neueren Ergebnisse der
Schreibforschung leiten lassen.
-
Die
Genie-Hypothese geht davon aus,
dass sich das Schreiben in einem quasi automatischen Prozess selbst
entwickelt. Schreiben kann demzufolge nicht gelernt werden, sondern
ist vor allem Ergebnis von Anlagen und Begabung, die sich im Laufe
der Zeit weiter differenzieren können. Die Formel "Man
kann es eben, oder kann es eben nicht" bringt das
Genie-Konzept auf den Punkt.
-
Die
Dornröschen-Hypothese
besagt, dass sich das, was man von seiner Begabung her mitbringt, im
Laufe der Entwicklung durch Reifung entfaltet. Wachgeküsst wird das
Dornröschen durch das Lesen und dieser "Kuss" ist es auch, der die
vor sich hinschlummernden Schreibfähigkeiten erweckt. Auf eine
vereinfachte Formel gebracht: "Schreiben lernt man durch
Lesen."
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Die
Nachahmungshypothese, auch
Mimikry-Hypothese genannt, glaubt
hingegen, dass man das Schreiben durch das Nachahmen vorgegebener
Schreib- bzw. Textmuster lernt. Auf eine einfache Formel gebracht: "Schreibe
so, wie es dir vorgemacht wird."
Falsche Vorstellungen über das Schreiben senken die Motivation,
das Schreiben zu lernen
Die moderne Schreibforschung weiß um die mehr oder weniger tragischen
Folgen, die solche Alltagshypothesen haben.
-
Sie fördern und festigen die Vorstellungen von Schülerinnen und
Schülern, dass man Schreiben eben nicht lernen kann. Wer das glaubt, hat
natürlich auch keine Lust "sinnlose" Übungen zu machen, die ihm
erfahrungsgemäß ja doch nichts "bringen".
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Jede Lehrkraft kennt die Aussagen von eher schreibschwachen Schülerinnen
und Schülern, die z. B. bei der Abgabe einer Klassenarbeit oder nach
einem weiteren Misserfolg ratlos daherkommen und sagen: "Ich habe mich
dieses Mal doch so angestrengt ...".
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Was die Schüler in der Regel nicht
wissen, ist, woran es liegt, dass ihnen solches immer wieder passiert.
Die Deutschnote wird dann zu einem unentrinnbaren Schicksal, gegen das
aufzubegehren wenig Sinn macht.
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Und: Werden sie erst am Ende einer langen Schreibentwicklung, die sich
unter z. T. fragwürdigen methodisch-didaktischen Vorzeichen auch und vor
allem in der Schule vollzogen hat, mit der Komplexität des Schreibens
konfrontiert, können sie damit aus verschiedenen Gründen oft nicht mehr
viel anfangen.
Da der "gesunde Menschenverstand" mit seinen Alltagshypothesen zur
Schreibentwicklung lange triumphiert hat, ist guter Rat eben manchmal
teuer.
Der erste Schritt, da ist sich
Baurmann (2002/2008, S. 8)
sicher: Die Ergebnisse der Schreibforschung müssen stärker Eingang
finden in die Schule. Nur dann sei die Vorstellung zu beenden, dass
Schreiben "auf
mysteriösen Vorgängen" beruht, "die sich unzugänglich im
Kopf der Schreiber abspielen und sich - wie in einer 'Blackbox' - jedem
Zugriff entziehen".
Es gibt moderne Konzepte zum Thema Schreiben
Wissenschaftliche Ansätze in der Schreibforschung zeigen im Gegensatz
zu den Alltagshypothesen auf, dass die Schreibentwicklung einen
komplexen Prozess darstellt, der in in Teilprozessen erfasst und
beschrieben werden kann. Wichtige Anstöße neben anderen geben dazu die
schreibtheoretisch fundierten Konzepte von Carl
Bereiter (1980)
, Michael Becker-Mrotzek (1997) und Helmuth
Feilke (1996,
1996b), die jeder für sich jedoch unterschiedliche Schwerpunkte und
Akzente setzen. (vgl.
Baurmann
2002/2008, S.26f.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
11.01.2024
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