Die Figuren in Wolfgang Borcherts
Geschichte »Die
Küchenuhr« wirken alle
traumatisiert
(engl. trauma; gr.
τράυμα (trauma) Verletzung).
Ihr Verhalten deutet darauf hin, dass sie infolge der Ereignisse, die sie
im Krieg erlebt haben, seelische Verletzungen davongetragen haben. In
solchen Fällen wird auch von einem »Kriegstrauma
gesprochen.
Ein solches Kriegstrauma können auch größere Bevölkerungsgruppen
erleiden. Diese kollektiven
Kriegstraumata hat man z. B. beobachtet,
Was sind Traumata?
Der Begriff
»Trauma (engl. trauma; gr. τράυμα (trauma)
bedeutet zunächst einmal nichts anderes als Verletzung und wird in
der Medizin und in der Psychologie verwendet.
Während man in der Medizin damit eine körperliche Verletzung
infolge von Gewalt oder eines Unfalls meint, zielt der
psychologische Begriff Trauma auf seelische Verletzungen, die auf
ein traumatisches Erlebnis zurückgeführt werden können.
Darunter versteht man "eine Situation mit außergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine
tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Bsp. sind das Erleben von
körperlicher und sexualisierter Gewalt, Entführung, Geiselnahme,
Krieg, politischer Haft, Folterung, Natur- oder durch Menschen
verursachte Katastrophen, Unfälle oder die Diagnose einer
lebensbedrohlichen Krankheit."
(aus: Hecker, T. (2019). Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS).
In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie. Abgerufen
am 08.06.2019, von
https://portal.hogrefe.com/dorsch/posttraumatische-belastungsstoerung-ptbs-1/
Traumata haben oft massive Auswirkungen auf das Leben
Wer als einzelner Mensch oder als Teil eines Kollektivs von
Menschen ein seelisches Trauma erleidet, hat an den Folgen oft
lange, manchmal ein Leben lang zu tragen. Ohne Hilfe von außen durch
Psychotherapie und Angstselbsthilfegruppen und oft auch ohne medikamentöse Behandlung zur
Unterstützung können Betroffene ihre Seele kaum heilen und die
psychischen und physischen Symptome (s. Abb.) ihres Leidens weder
mindern, noch gänzlich loswerden. Betroffene können unter
ernsthaften ▪
Angsterkrankungen bzw. Angststörungen leiden und/oder müssen mit
den Auswirkungen und Symptomen einer ▪
posttraumatischen Belastungsstörung leben.

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Viele Betroffene können dann z. B. kaum oder überhaupt nicht mehr
über die zurückliegenden (traumatisierenden) Ereignisse und ihre
Gefühle sprechen, entwickeln eine Art emotionaler Taubheit, können
dann weder trauern noch sich freuen, erleben krankhaft übersteigerte
Angstzustände und ziehen sich angesichts ihrer Entfremdungsgefühle
der Welt und ihren Mitmenschen gegenüber sozial vollständig zurück.
Um nicht an das ▪
traumatische Erlebnis zu denken, versuchen die
Betroffenen u. a.,
-
allem aus dem Weg
zu gehen, was sie daran erinnern könnte (Vermeidung)
-
die Ereignisse zu
▪
verdrängen
-
die Gefühle, die
die Ereignisse bei ihnen auslösen, abzuspalten (»Dissoziation)
Alle Figuren, die in Wolfgang Borcherts
Geschichte »Die
Küchenuhr« vorkommen, wirken
traumatisiert
(engl. trauma; gr.
τράυμα (trauma) Verletzung). Die
Erzählung thematisiert dabei vor allem die
konstriktiven Symptome posttraumatischer Belastungsstörungen,
von denen irgendwie alle Figuren in unterschiedlicher Art und Weise
betroffen zu sein scheinen. Sie wirken in sich und damit sozial auf
sich zurückgezogen und unfähig aufeinander einzugehen, wirken in
unterschiedlichem Maße irgendwie psychisch erstarrt und »emotional
taub. Lediglich der junge Mann mit der Küchenuhr scheint den
Kontakt zu den anderen aufnehmen zu wollen, redet aber im Grunde
meistens vor sich hin und damit mit sich selbst.
Der zwanzigjährige
junge Mann mit der Küchenuhr stellt dabei die Hauptfigur der
Geschichte dar. Was er den anderen auf der Bank zu erzählen hat,
bestimmt den Verlauf der Handlung, die im Grunde genommen aus einem
mit wenigen dialogisch gestalteten Einwürfen der anderen gestalteten
Monolog des Mannes mit der Küchenuhr besteht, der sein Inneres
deshalb tiefe Einblicke gewährt, weil er, dialogisch kaum
eingebettet, fast wie ein gesprochener innerer Monolog daherkommt.
Das Haus, das er mit seiner Mutter bewohnt hat, ist offenbar erst
vor kurzem von einer Bombe zerstört worden. Bei dem Angriff ist
offenbar auch seine Mutter getötet worden. Seitdem ist auch sein
eigenes Leben, das er bis dahin geführt hat, aus den Bahnen geraten.
Ihm ist, abgesehen von seinen Erinnerungen an das frühere
"Paradies", in dem er gelebt hat, nichts geblieben als die defekte
Küchenuhr, die er noch aus den Trümmern gezogen hat. Für ihn ist ein
Symbol, das die im Bombenhagel untergegangene "heile Welt" in ihrem
ursprünglichen Zustand festhält, gerade weil sie mutmaßlich seit der
Explosion der Bombe nicht mehr weiterläuft. Diese und den Verlust
der Mutter ▪
verdrängt er vollständig und wehrt jede
Auseinandersetzung mit der Realität ab. So gelingt es ihm, die Gefühle,
die die Ereignisse bei ihnen auslösen, abzuspalten (»Dissoziation).
Was er über über die Uhr und die liebevolle Hingabe seiner Mutter
sagt, findet in den Menschen, die mit ihm auf der Bank sitzen, keine
wirklich verständnisvolle Zuhörer. Daher vermenschlicht sich die
Küchenuhr für ihn so sehr, dass er ihr leise "ins weißblaue runde
Gesicht" (Z. 52) sagt (Personifikation),
er wisse, dass sein Leben früher, vor der Zeit also als die Uhr
stehen geblieben ist, das "Paradies" gewesen sei. Wie um keine
Missverständnisse aufkommen zu lassen, was damit gemeint sein könnte,
fügt er noch einmal an: "Das richtige Paradies." (Z. 53)
So unterstreicht er, dass in seinem Denken und Fühlen kein Platz (mehr)
für religiöse Vorstellungen vom biblischen Paradies ist, der Glaube an
Gott sich mit dem, was er erlebt hat, verflüchtigt hat. Das
verlorengegangene Paradies, von dem er spricht, ist irdisch, ganz
profan, ganz klein und eben doch das einzige, das Menschen jemals
erleben können. Trost auf ewiges Leben im Paradies? Fehlanzeige. Und:
"Auf der Bank war es ganz still." (Z. 51, 55) (vgl.
Textnahe Interpretation: Innerlich kaputt und nie mehr wie immer)

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Die Personen auf der Bank kennen sich offensichtlich nicht. Kein Wort
der Begrüßung, kein Name fällt, nicht die Spur eines Smalltalks, wie
Menschen es oft tun, wenn sie nebeneinander auf einer Bank in der Sonne
sitzen. Sie sind ganz zufällig zusammengetroffen und der Leser erfährt
zunächst nicht mehr über den Ort und den Raum, wo die Begegnung
stattfindet. Eine Bank irgendwo, das reicht. Was in ihnen vorgeht, wird
nicht erzählt. Sie wirken emotional abgestumpft und zeigen sich
unfähig, über ihre eigenen Erlebnisse und Gefühle zu sprechen ebenso
wie sie nicht über das sprechen können, was den jungen Mann bewegt.
Sie sind im Grunde genommen wie die Küchenuhr, innerlich kaputt.
(vgl. Textnahe Interpretation: Innerlich kaputt und nie mehr wie immer)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
25.05.2025
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