Als das "Tell"-Problem ist die Frage in
die Geschichte der Deutschdidaktik eingegangen, welcher dramatische Text der
erste sein sollte, den Schülerinnen und Schüler lesen.
Die Debatte nachzuzeichnen lohnt wenig, wohl aber der
Hinweis, dass heutzutage in der Dramendidaktik weitgehend
Einigkeit darüber herrscht, dass die Beschäftigung mit Dramen im
Deutschunterricht entwicklungspsychologische Gegebenheiten und
die mit dem Alter wachsenden affektiven und kognitiven
Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüle rberücksichtigen muss.,
die sich in einem von der Grundschule bis in die gymnasiale
Oberstufe reichenden Prozess entwickeln,
Harro Müller-Michaelis
Konzept eines Spiralcurriculums
(1971), das die verschiedenen Strukturen dramatischer Texte je nach
Alter bzw. Schuljahr in einer höheren Komplexionsstufe und in stets
variierten Kombinationen anbietet, ist dabei beispielgebend geblieben und
von Henze (1987) etwas modifiziert worden.
Payrhuber (1998, S. 655) beschreibt das Konzept wie folgt: "Die
einfache Figurenkonstellation und der zweidimensionale Bühnenraum des
Puppenspiels wiederholen sich auf der komplexeren Stufe im
Fernsehkriminalfilm; die knappe Situationsanalyse in Dialogen der
Kleinkunstbühnen wird in den Dramen analytischer Bauart wiedererkannt; die
Adressen an die Zuschauer im Fastnachtsspiel weiten sich zum verfremdenden
Kommentar im epischen Theater. Das 'mehraktige Drama' erhält seinen Platz
vom 7.. Schuljahr an". Insgesamt gesehen ist aber wohl auch der Ansatz
von Müller-Michaelis, vor allem was seine Auswahl mit einer starken
Vernachlässigung des 20. Jahrhunderts anbelangt, "antiquiert" (Paefgen
22006, S.58)
Angesicht der Tatsache, dass sich zahlreiche Widerstände von Schülern bei
der schulischen Dramenlektüre auf eine entwicklungspsychologisch ungeeignete
thematische und formale Komplexität zurückführen lassen, stellt
Payrhuber (1998, S.656f.) "ohne Anspruch auf curriculare
Lehrgangssystematik und Vollständigkeit" eine Liste von Dramen zusammen, die
er bestimmten Klassenstufen zuordnet.
Dabei weichen diese Zuordnungen
naturgemäß auch von den Lehrplan- bzw. Bildungsplanvorgaben ab, für deren
Zuordnungen sich mit Sicherheit ebenso überzeugende Argumente finden.
Zugleich verfügt jeder Lehrer bzw. jede Lehrerin über eigene Erfahrungen und
Einschätzungen, die mal diesen, mal jenen Text für bestenfalls "mittel-"
oder in jedem Fall "oberstufentauglich" halten. Eine Diskussion darüber mag
zwar interessant sein, zu einem verbindlichen Kanon kann und wird sie
freilich nicht führen können. So stellt die Auflistung Payrhubers eine von
zahlreichen Möglichkeiten der Dramenauswahl und der
Dramenzuordnung zu den Jahrgangsstufen dar, die auf ihre Weise
einen neuen Beitrag zum "Tell-Problem" darstellt.