Literaturwissenschaftsdidaktik oder Literaturdidaktik?
Bei der Beschäftigung mit
▪ Gattungsfragen im schulischen
Literarunterricht konkurrieren, auch wenn sie in der Praxis wohl eine größere Bandbreite
aufweist, als es dem einen oder anderen Didaktiker in den konzeptuellen
Rahmen passt, vor allem zwei literaturdidaktische Konzepte
miteinander. Auf eine plakative Formel gebracht:
"Literaturwissenschaftsdidaktik versus Literaturdidaktik" (Köster
2015, S.60 unter Bezugnahme auf
Pflugmacher
2014, S. 157f.) Beide Konzepte können in ihrer Anwendung zum Erwerb
▪ literarischer Kompetenz
beitragen und im ▪
Handlungsfeld Literatur wirksam werden, sind aber in ihrem
Begriffsumfang nicht gleichbedeutend mit der
literarästhetischen
Rezeptionskompetenz.
-
Wissenschaftsorientierung kennzeichnet dabei vor allem die
"klassische" Gattungsdidaktik, die mit den aus der Fachwissenschaft
stammenden Merkmalskatalogen zur Gattungszuschreibung agiert. Ihr
Ansatz, durch Abstraktion gewonnene Merkmale für eine Gattung
bzw. ein Genre an einem konkreten Text nachzuweisen und zugleich
anzunehmen, dass damit Wesentliches zum Textverstehen beigetragen
werde, hat ihr auch die Bezeichnung "Merkmal-Nachweis-Didaktik"
eingebracht (Leubner/Saupe/Richter (2016),
Kap. 14.3 Unterrichtseinheiten zu Gattungen/Genres)
-
Ein Umgehen mit
Literatur, das eher an der Ganzheitlichkeit ästhetischer Erfahrung
ansetzt, prägt die so genannte
Prototypendidaktik (vgl. u. a.
Spinner 2006,
Köster 2015),
die bildliches Denken und das Finden von selbst generierten
Ähnlichkeiten mit all ihren dabei auftretenden Unschärfen in den
Mittelpunkt rückt.
Im
Leistungsraum
schulischen Lernens, vor allem in den höheren Jahrgangsstufen, bei
Klausuren und Prüfungen, dominieren vor allem die
wissenschaftsorientierten Ansätze, die "dem Erwerb einer verbindlichen
Beschreibungssprache verpflichtet" sind, was nicht nur eine "rationale
und transparente Verständigung ermöglicht, sondern auch zum Verfassen
von Metatexten befähigt." (Köster
2015, S.60) Und auch der kompetenzorientierte Literaturunterricht
sieht in der Anwendung von Merkmalskatalogen mit ihrem hohen
Transferpotenzial auf Texte eine besonders ausgeprägte Form der
Verbindung von Wissen und Können, das sich dazu auf
unterschiedlichen Kompetenzniveaus formulieren lässt.
Typische Schreibaufgaben
dazu werden im Rahmen der ▪
schriftlichen Interpretation literarischer Texte häufig in einer
mehrteiligen Arbeitsanweisung untergebracht und lauten oft schlicht:
"Bestimmen Sie die Textsorte." Dann soll am konkreten Text anhand von
Merkmalen auf der lokalen Textebene nachgewiesen werden, zu welcher
Gattung der vorliegende Text gezählt werden kann. Auch wenn es dabei
nicht um den lückenlosen Nachweis aller in Merkmalkatalogen
aufgelisteten Merkmale gehen kann, soll sich damit die Aufmerksamkeit
auf die Analyse von Gattungstypischem gelegt werden.
Die
Literaturwissenschaftsdidaktik: Merkmalskataloge
Die
Literaturwissenschaftsdidaktik orientiert sich vor allem daran, was in
den Fachwissenschaften (Literatur- und Sprachwissenschaft vor allem)
gelehrt und diskutiert wird.
Seit den 1970er Jahren versucht sie sich am
Brückenschlag zwischen Fachwissenschaften, Didaktik und Literaturunterricht in der Schule. Wer Texte analysieren
und mit den dafür zuständigen wissenschaftlichen Termini beschreiben und
bezeichnen kann, kann, und zwar eigentlich nur dann, zu einem vertieften
Verständnis gelangen, das ist die Grundannahme.
Wer so mit Literatur
umzugehen versteht, dem steht auch der Zugang zu entsprechenden Gemeinschaften
offen, die den Diskurs über Literatur im Sinne der von »Pierre
Bourdieu (1930-2002) analysierten "feinen
Unterschiede" (1987) dominieren. Das "hohe Transferpotenzial", das
die von der Fachwissenschaft bereitgestellten Merkmalskataloge
aufweisen, gibt dem versierten Leser nicht nur das "Handwerkszeug, mit
dem man die Struktur fast aller literarischen Texte erschließen kann" (Köster
2015, S.60), an die Hand. Zugleich ermöglicht es aber auch – diese kritische
Anmerkung so gestattet – im Zuge der "ästhetischen Distanzierung" (Bourdieu
1987242014, S.68), "die Ablehnung jeder Art von
Involviertsein, von naiver Verhaftung und vulgärer Verfallenheit" (ebd.)
von sich zu weisen, die Vorstellungen des Umgangs von Literatur
nachgesagt werden, die vor allem auf ästhetische Erfahrung verweisen.
Die Merkmalskataloge
mit ihrer Auflistung von mehr oder weniger klar definierten Merkmalen
für bestimmte ▪ Literaturepochen, für Gattungen-, Genres- oder Textsorten
sowie Stilen gehören bis heute zum Literaturunterricht und
ermöglichen damit nicht nur eine rationale Art der Kommunikation und
Verständigung über Literatur. Sie grenzen auch den schulischen Umgang
mit Literatur von dem ab, den Schülerinnen und Schüler, sofern sie solche
lesen, in ihrem privaten Umfeld pflegen, der ohnehin schon von weit
auseinander gehenden Lesestoffen gekennzeichnet sind.
In der Gattungsdidaktik
geht man im Anschluss an entsprechende Literaturtheorien davon aus, dass sich die Zugehörigkeit von Texten zu einer
bestimmten Gattung über klar definierte Merkmale bestimmen lässt. Diese
Merkmalsbündel werden dabei aus einzelnen Merkmalen gebildet, die selbst durch
Abstraktion gewonnen wurden. Ihre Anwendung folgt dem binären
dichotomischen
Analysemodell und die
Identifikation bestimmter Merkmale in einem konkreten Text geschieht als Ja- oder Nein-Antwort,
mit dem das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Merkmale am Text
festgestellt wird. Dieser inzwischen fast klassische Ansatz der
Gattungsdidaktik wird dementsprechend auch als Merkmalsdidaktik oder
auch als "Merkmals-Nachweis-Didaktik" (Leubner/Saupe/Richter (2016), Kap. 14.3 Unterrichtseinheiten zu
Gattungen/Genres).
Gattungswissen beeinflusst dabei natürlich auch die Interpretation
eines konkreten
Textes, zumal die Textrezeption oft durch die Brille
der ▪ Gattungszuschreibung wahrgenommen und
dann
versucht wird, den Text auf deren Grundlage kognitiv zu verarbeiten. (vgl.
Zymner 2010a,
S.2) In jedem Fall beeinflussen die Gattungszuschreibungen die davon
zunächst einmal geleitete
kognitive Top-down-Verarbreitung des Textes und die •
Bildung von Inferenzen
in ganz erheblicher Art und Weise. Hinzukommen weitere subjektive Theorien (•
Folk-Gattungstheorien)
die einerseits subjektive, andererseits aber doch auch mehr oder weniger
sozial verfestigte Annahmen oder Wissensbestände darstellen, die unsere
Wahrnehmung und auch unser Verständnis von Gattungen bestimmen. (vgl.
Zymner 2010a,
S.3.)
Argumente für die
wissenschaftsorientierte Merkmalsdidaktik
Befürworter der
klassischen Gattungsdidaktik sehen eine Reihe von Vorteilen, die sich
aus der
Beschäftigung mit Gattungs- und Textsortenfragen auf der Grundlage von
Merkmallisten ergeben.
-
Gattungswissen gehört
in ihren Augen zur literarischen Allgemeinbildung. Wer über
entsprechendes Wissen verfügt, der kann kann in der Gesellschaft im
▪
Handlungsfeldes Literatur nicht nur am
Diskurs über Literatur teilnehmen und damit ihre ▪
kulturelle Bedeutsamkeit
erfahren (vgl. Abraham/Kepser
(42016, S.24), sondern auch darüber hinaus an
wesentlichen Diskursen des kulturellen Lebens. Was man über
literarische Gattungen weiß, lässt sich aufgrund seines
Allgemeinheitsgrades in der Regel auf konkrete Erscheinungen
anwenden, entwickelt also ein hohes Transferpotenzial, was nicht nur
in der Schule, sondern auch im Leben durchaus anerkannt wird und
damit positive psychische Gratifikationen mit sich bringen kann. Wer
bestimmte Autoren und ihre Werke kennt, diese Werke literarischen
Gattungen oder Genres zuordnen kann und sich dazu in
Literaturgeschichte auskennt, der kann mit diesem Wissen sein
kulturelles Kapital (vgl.
Bourdieu
1987/242014) erhöhen. (vgl.
Köster 2015,
S.59f.) in den drei Bereichen des
-
Gattungsfragen
stärken das Formbewusstsein.
-
Gattungen haben eine
Orientierungsfunktion und bestimmen dazu mehr oder weniger besondere
Erwartungen an einen literarischen Text.
-
Gattungsbegriffe
tragen als Termini "zur rationalen Verständigung über Texte" bei (Köster
2015, S.61).
-
Gattungen und
Gattungsbegriffe
orientieren sich an der
(Fach-)Wissenschaft, liefern
analytische Instrumente, mit denen die spezifische Leistung
bestimmter Texte untersucht werden kann und führen in solcher
Verwendung zu einem
tieferen Verständnis der einzelnen Texte. (vgl.
ebd.)
-
Gattungen verfügen
über
keine allgemein verbindlichen Namen bzw. Bezeichnungen. Zudem
kommt es dabei immer wieder zu Bedeutungsverschiebungen und -veränderungen. Sie
"funktionieren" im Unterricht wie auch sonst nur in bestimmten
Diskursgemeinschaften, die den Begriffsumfang der jeweiligen
Gattungszuschreibung kennt. (vgl.
Zymner (2010a,
S.1-5)
Die Gattungsdidaktik
stellt vom einzelnen Text abstrahierende Merkmale in Merkmalsbündeln
zusammen, die bei der Analyse von literarischen Texten zum Einsatz
gelangen, um sie an einem konkreten Text zu identifizieren und diesen
damit einer bestimmten Gattung oder Textsorte zuordnen zu können.
Das klassifikatorische
Verfahren dient dabei als ein Ordnungsprinzip, wie dies auch in anderen
wissenschaftlichen Kontexten praktiziert wird. Dass es dabei zu einer "weitgehende(n)
Suspendierung inhaltlicher Aspekte und der Individualität des einzelnen
Textes" (vgl. ebd.,
S.62) kommt, wird dabei durchaus hingenommen (vgl.
Müller-Dyes
(1996, S. 326f.)
Kritik der klassischen
Gattungsdidaktik
Die
literaturdidaktische Kritik, die gegen die Merkmalsdidaktik ins Feld
geführt wird, richtet sich vor allem gegen seine rein textanalytische
Konzeptualisierung, die sich nie auf das Textganze als Objekt
ästhetischer Wahrnehmung richtet. Dabei rückt auch eine
Unterrichtspraxis ins Blickfeld, bei der das Auffinden von Textmerkmalen auf der
lokalen Textebene wie das "Malen nach Zahlen" "zu einer Art
Geschicklichkeitsübung" verkommt. Zum Textverstehen dürfte eine
solche Praxis und Merkmals-Nachweis-Didaktik wenig beitragen.
Allerdings wird häufig aber
auch ein
Zerrbild einer methodischen Praxis im Literaturunterricht
herbeizitiert, um die Merkmals- oder Gattungsdidaktik zu diskreditieren.
So scheuen sich auch renommierte Didaktiker nicht, ein Bild zu
entwerfen, wonach es gängige Praxis im Literaturunterricht der
Sekundarstufen sei, Schülerinnen und Schüler mit Merkmalslisten
"zuzuschütten", um sie dann auf die Suche nach ihnen in Märchen, Fabeln
oder Parabeln zu schicken. ( so z. B.
Leubner/Saupe/Richter (2016), Kap. 14.3 Unterrichtseinheiten zu
Gattungen/Genres). Kein Wunder, wenn dabei ästhetische Erfahrung und die
Freude am Umgang mit literarischem Lesen auf der Strecke bleibt.
In der Praxis des
Literaturunterrichts, so wie wir sie sehen, ist eine solche "Merkmalshuberei"
aber wohl eher die Ausnahme. Dass Merkmale in unterrichtlichen Lehr- und
Lernprozesse gewöhnlich erst induktiv, in einem
Bottom-up-Verarbeitungsprozess textlicher Informationen verarbeitet
werden, Merkmale an Beispielen generiert und mit ihnen verknüpft werden,
ist längst gängige methodische Praxis, das herbeizitierte
Top-Down-Modell der unterrichtlichen Praxis wohl eher ein
Schreckgespenst, der das Befeuern eines Diskurs bewirken soll, von dem
alle profitieren, die sich darin positionieren und daraus ihr
kulturelles Kapital schlagen wollen.
Dass der
Umgang mit
Merkmalskatalogen ein hohes Maß an Flexibilität verlangt, gerade weil
"die Großzahl der tatsächlichen Texte [...] keineswegs eindeutig diesen
Merkmalen entsprechen" (Spinner
2006, S.13), ist alltägliche Erfahrung von Lehrkräften und
entwertet die Frage danach, welche Merkmale einer bestimmten Gattung ein Text aufweist,
nicht.
Viel wichtiger
erscheint es daher in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass es
in der Literaturdidaktik wohl sehr viel mehr um die Entwicklung einer
"Brückentechnologie" gehen sollte. Mit diesen ließe sich das
"Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Anwendungsansprüchen" (Winkler
2016, S.170) nutzen und mit konzeptionell durchdachten "Brückenprinzipien
[...] eine angemessene Verbindung der Rationalitätsformen von
Wissenschaft und praktischer Handlungsrelevanz" ermöglichen und zugleich
dabei " helfen,
Übervereinfachungen zu vermeiden." (ebd. S.171)
Wie dies gehen kann, zeigt das Modell der "didaktischen
Rekonstruktion eines Unterrichtsgegenstandes", bei dem "drei wechselwirkende
Teile eng aufeinander bezogen: fachliche Klärung, Erfassung von
Schülervorstellungen und didaktische Strukturierung. "(Kattmann
u. a.
1997, S. 43, zit. n.
ebd. S.171)
Mit Hilfe des von
Komorek/Fischer/Moschner (2013) entwickelten Modells der
didaktischen Reduktion lassen sich u.
U. jene Brücken schlagen, welche die "Rekonstruktion", mit ihrem
"entschieden fachlichen Kern", "als harmonisierende Klammer zwischen den
Ansprüchen der Fachdidaktik, einerseits Wissenschaft und andererseits
Unterrichtsentwicklung" versteht.
Die daraus resultierenden
Brückenprinzipien sind indessen keine Rezepte für den Umgang mit Texten. Sie
wollen nicht als allseits und unmittelbar umsetzbare Handlungsempfehlungen
verstanden werden, mit denen Erkenntnisse der Fachdidaktik mundgerecht und
häppchenweise umzusetzen sind. Und auf der anderen Seite darf dabei aber
auch nicht der Eindruck entstehen, "dass die im Deutschunterricht gegebene
Komplexität so reduziert wird, als könnte man ihr allein durch den Import
wissenschaftlicher Befunde beikommen." (Winkler
2016, S.173)
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
15.09.2024
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