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Gattungsfragen im Literaturunterricht

Merkmallisten und -kataloge

Literarische Gattungen

 
FAChbereich Deutsch
Glossar Literatur Autorinnen und Autoren Literarische Gattungen
Überblick Gattungskonzepte [ Gattungen und Gattungsbegriffe im schulischen Literaturunterricht Überblick Merkmallisten und -Kataloge Prototypen und Exemplare Historische Gattungen und systematische Gattungsbegriffe Gattungen unter sozial- und funktionsgeschichtlicher Perspektive ] Erzählende Texte Dramatische Texte  Lyrische Texte Literarische Zweckformen Einfache Formen Satire Literaturgeschichte Motive der Literatur Grundlagen der Textanalyse und Interpretation Literaturunterricht Schreibformen  Operatoren im Fach Deutsch
 

▪ Kohärenzbildung über mentale Modelle, kognitive Schemata und literarische Konventionen (Gattungen)
Literaturwissenschaftsdidaktik oder Literaturdidaktik?

Bei der Beschäftigung mit ▪ Gattungsfragen im schulischen Literarunterricht konkurrieren, auch wenn sie in der Praxis wohl eine größere Bandbreite aufweist, als es dem einen oder anderen Didaktiker in den konzeptuellen Rahmen passt, vor allem zwei literaturdidaktische Konzepte miteinander. Auf eine plakative Formel gebracht: "Literaturwissenschaftsdidaktik versus Literaturdidaktik" (Köster 2015, S.60 unter Bezugnahme auf Pflugmacher 2014, S. 157f.) Beide Konzepte können in ihrer Anwendung zum Erwerb ▪ literarischer Kompetenz beitragen und im ▪ Handlungsfeld Literatur wirksam werden, sind aber in ihrem Begriffsumfang nicht gleichbedeutend mit der literarästhetischen Rezeptionskompetenz.

  • Wissenschaftsorientierung kennzeichnet dabei vor allem die "klassische" Gattungsdidaktik, die mit den aus der Fachwissenschaft stammenden Merkmalskatalogen zur Gattungszuschreibung agiert. Ihr Ansatz, durch Abstraktion gewonnene Merkmale für eine Gattung bzw. ein Genre an einem konkreten Text nachzuweisen und zugleich anzunehmen, dass damit Wesentliches zum Textverstehen beigetragen werde, hat ihr auch die Bezeichnung "Merkmal-Nachweis-Didaktik" eingebracht (Leubner/Saupe/Richter (2016), Kap. 14.3 Unterrichtseinheiten zu Gattungen/Genres)

  • Ein Umgehen mit Literatur, das eher an der Ganzheitlichkeit ästhetischer Erfahrung ansetzt, prägt die so genannte Prototypendidaktik (vgl. u. a. Spinner 2006, Köster 2015), die bildliches Denken und das Finden von selbst generierten Ähnlichkeiten mit all ihren dabei auftretenden Unschärfen in den Mittelpunkt rückt.

Im Leistungsraum schulischen Lernens, vor allem in den höheren Jahrgangsstufen, bei Klausuren und Prüfungen, dominieren vor allem die wissenschaftsorientierten Ansätze, die "dem Erwerb einer verbindlichen Beschreibungssprache verpflichtet" sind, was nicht nur eine "rationale und transparente Verständigung ermöglicht, sondern auch zum Verfassen von Metatexten befähigt." (Köster 2015, S.60) Und auch der kompetenzorientierte Literaturunterricht sieht in der Anwendung von Merkmalskatalogen mit ihrem hohen Transferpotenzial auf Texte eine besonders ausgeprägte Form der Verbindung von Wissen und Können, das sich dazu auf unterschiedlichen Kompetenzniveaus formulieren lässt.

Typische Schreibaufgaben dazu werden im Rahmen der ▪ schriftlichen Interpretation literarischer Texte häufig in einer mehrteiligen Arbeitsanweisung untergebracht und lauten oft schlicht: "Bestimmen Sie die Textsorte." Dann soll am konkreten Text anhand von Merkmalen auf der lokalen Textebene nachgewiesen werden, zu welcher Gattung der vorliegende Text gezählt werden kann. Auch wenn es dabei nicht um den lückenlosen Nachweis aller in Merkmalkatalogen aufgelisteten Merkmale gehen kann, soll sich damit die Aufmerksamkeit auf die Analyse von Gattungstypischem gelegt werden.

Die Literaturwissenschaftsdidaktik: Merkmalskataloge

Die Literaturwissenschaftsdidaktik orientiert sich vor allem daran, was in den Fachwissenschaften (Literatur- und Sprachwissenschaft vor allem) gelehrt und diskutiert wird.

Seit den 1970er Jahren versucht sie sich am Brückenschlag zwischen Fachwissenschaften, Didaktik und Literaturunterricht in der Schule. Wer Texte analysieren und mit den dafür zuständigen wissenschaftlichen Termini beschreiben und bezeichnen kann, kann, und zwar eigentlich nur dann, zu einem vertieften Verständnis gelangen, das ist die Grundannahme.

Wer so mit Literatur umzugehen versteht, dem steht auch der  Zugang zu entsprechenden Gemeinschaften offen, die den Diskurs über Literatur im Sinne der von »Pierre Bourdieu (1930-2002) analysierten "feinen Unterschiede" (1987) dominieren. Das "hohe Transferpotenzial", das die von der Fachwissenschaft bereitgestellten Merkmalskataloge aufweisen, gibt dem versierten Leser nicht nur das "Handwerkszeug, mit dem man die Struktur fast aller literarischen Texte erschließen kann" (Köster 2015, S.60), an die Hand. Zugleich ermöglicht es aber auch – diese kritische Anmerkung so gestattet – im Zuge der "ästhetischen Distanzierung" (Bourdieu 1987242014, S.68), "die Ablehnung jeder Art von Involviertsein, von naiver Verhaftung und vulgärer Verfallenheit" (ebd.) von sich zu weisen, die Vorstellungen des Umgangs von Literatur nachgesagt werden, die vor allem auf ästhetische Erfahrung verweisen.

Die Merkmalskataloge mit ihrer Auflistung von mehr oder weniger klar definierten Merkmalen für bestimmte ▪ Literaturepochen, für Gattungen-, Genres- oder Textsorten sowie Stilen gehören bis heute zum  Literaturunterricht und ermöglichen damit nicht nur eine rationale Art der Kommunikation und Verständigung über Literatur. Sie grenzen auch den schulischen Umgang mit Literatur von dem ab, den Schülerinnen und Schüler, sofern sie solche lesen, in ihrem privaten Umfeld pflegen, der ohnehin schon von weit auseinander gehenden Lesestoffen gekennzeichnet sind.

In der Gattungsdidaktik geht man im Anschluss an entsprechende Literaturtheorien davon aus, dass sich die Zugehörigkeit von Texten zu einer bestimmten Gattung über klar definierte Merkmale bestimmen lässt. Diese Merkmalsbündel werden dabei aus einzelnen Merkmalen gebildet, die selbst durch Abstraktion gewonnen wurden. Ihre Anwendung folgt dem binären dichotomischen Analysemodell und die Identifikation bestimmter Merkmale in einem konkreten Text geschieht als Ja- oder Nein-Antwort, mit dem das Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Merkmale am Text festgestellt wird. Dieser inzwischen fast klassische Ansatz der Gattungsdidaktik wird dementsprechend auch als Merkmalsdidaktik oder auch als "Merkmals-Nachweis-Didaktik" (Leubner/Saupe/Richter (2016), Kap. 14.3 Unterrichtseinheiten zu Gattungen/Genres).

Gattungswissen beeinflusst dabei natürlich auch die Interpretation eines konkreten Textes, zumal die Textrezeption oft durch die Brille der ▪ Gattungszuschreibung wahrgenommen und dann versucht wird, den Text auf deren Grundlage kognitiv zu verarbeiten. (vgl. Zymner 2010a, S.2) In jedem Fall beeinflussen die Gattungszuschreibungen die davon zunächst einmal geleitete kognitive Top-down-Verarbreitung des Textes und die • Bildung von Inferenzen in ganz erheblicher Art und Weise. Hinzukommen weitere subjektive Theorien (• Folk-Gattungstheorien) die einerseits subjektive, andererseits aber doch auch mehr oder weniger sozial verfestigte Annahmen oder Wissensbestände darstellen, die unsere Wahrnehmung und auch unser Verständnis von Gattungen bestimmen. (vgl. Zymner 2010a, S.3.)

Argumente für die wissenschaftsorientierte Merkmalsdidaktik

Befürworter der klassischen Gattungsdidaktik sehen eine Reihe von Vorteilen, die sich aus der Beschäftigung mit Gattungs- und Textsortenfragen auf der Grundlage von Merkmallisten ergeben.

  • Gattungswissen gehört in ihren Augen zur literarischen Allgemeinbildung. Wer über entsprechendes Wissen verfügt, der kann kann in der Gesellschaft im ▪ Handlungsfeldes Literatur nicht nur am Diskurs über Literatur teilnehmen und damit ihre ▪ kulturelle Bedeutsamkeit erfahren (vgl. Abraham/Kepser (42016, S.24), sondern auch darüber hinaus an wesentlichen Diskursen des kulturellen Lebens. Was man über literarische Gattungen weiß, lässt sich aufgrund seines Allgemeinheitsgrades in der Regel auf konkrete Erscheinungen anwenden, entwickelt also ein hohes Transferpotenzial, was nicht nur in der Schule, sondern auch im Leben durchaus anerkannt wird und damit positive psychische Gratifikationen mit sich bringen kann. Wer bestimmte Autoren und ihre Werke kennt, diese Werke literarischen Gattungen oder Genres zuordnen kann und sich dazu in Literaturgeschichte auskennt, der kann mit diesem Wissen sein kulturelles Kapital (vgl. Bourdieu 1987/242014) erhöhen. (vgl. Köster 2015, S.59f.) in den drei Bereichen des 

  • Gattungsfragen stärken das Formbewusstsein.

  • Gattungen haben eine Orientierungsfunktion und bestimmen dazu mehr oder weniger besondere Erwartungen an einen literarischen Text.

  • Gattungsbegriffe tragen als Termini "zur rationalen Verständigung über Texte" bei (Köster 2015, S.61).

  • Gattungen und Gattungsbegriffe orientieren sich an der (Fach-)Wissenschaft, liefern analytische Instrumente, mit denen die spezifische Leistung bestimmter Texte untersucht werden kann und führen in solcher Verwendung zu einem tieferen Verständnis der einzelnen Texte. (vgl. ebd.)

  • Gattungen verfügen über keine allgemein verbindlichen Namen bzw. Bezeichnungen. Zudem kommt es dabei immer wieder zu Bedeutungsverschiebungen und -veränderungen. Sie "funktionieren" im Unterricht wie auch sonst nur in bestimmten Diskursgemeinschaften, die den Begriffsumfang der jeweiligen Gattungszuschreibung kennt. (vgl. Zymner (2010a, S.1-5)

Die Gattungsdidaktik stellt vom einzelnen Text abstrahierende Merkmale in Merkmalsbündeln zusammen, die bei der Analyse von literarischen Texten zum Einsatz gelangen, um sie an einem konkreten Text zu identifizieren und diesen damit einer bestimmten Gattung oder Textsorte zuordnen zu können.

Das klassifikatorische Verfahren dient dabei als ein Ordnungsprinzip, wie dies auch in anderen wissenschaftlichen Kontexten praktiziert wird. Dass es dabei zu einer "weitgehende(n) Suspendierung inhaltlicher Aspekte und der Individualität des einzelnen Textes" (vgl. ebd., S.62) kommt, wird dabei durchaus hingenommen (vgl. Müller-Dyes (1996, S. 326f.)

Kritik der klassischen Gattungsdidaktik

Die literaturdidaktische Kritik, die gegen die Merkmalsdidaktik ins Feld geführt wird, richtet sich vor allem gegen seine rein textanalytische Konzeptualisierung, die sich nie auf das Textganze als Objekt ästhetischer Wahrnehmung richtet. Dabei rückt auch eine Unterrichtspraxis ins Blickfeld, bei der das Auffinden von Textmerkmalen auf der lokalen Textebene wie das "Malen nach Zahlen" "zu einer Art Geschicklichkeitsübung" verkommt. Zum Textverstehen dürfte eine solche Praxis und Merkmals-Nachweis-Didaktik wenig beitragen.

Allerdings wird häufig aber auch ein Zerrbild einer methodischen Praxis im Literaturunterricht herbeizitiert, um die Merkmals- oder Gattungsdidaktik zu diskreditieren. So scheuen sich auch renommierte Didaktiker nicht, ein Bild zu entwerfen, wonach es gängige Praxis im Literaturunterricht der Sekundarstufen sei, Schülerinnen und Schüler mit Merkmalslisten "zuzuschütten", um sie dann auf die Suche nach ihnen in Märchen, Fabeln oder Parabeln zu schicken. ( so z. B. Leubner/Saupe/Richter (2016), Kap. 14.3 Unterrichtseinheiten zu Gattungen/Genres). Kein Wunder, wenn dabei ästhetische Erfahrung und die Freude am Umgang mit literarischem Lesen auf der Strecke bleibt.

In der Praxis des Literaturunterrichts, so wie wir sie sehen, ist eine solche "Merkmalshuberei" aber wohl eher die Ausnahme. Dass Merkmale in unterrichtlichen Lehr- und Lernprozesse gewöhnlich erst induktiv, in einem Bottom-up-Verarbeitungsprozess textlicher Informationen verarbeitet werden, Merkmale an Beispielen generiert und mit ihnen verknüpft werden, ist längst gängige methodische Praxis, das herbeizitierte Top-Down-Modell der unterrichtlichen Praxis wohl eher ein Schreckgespenst, der das Befeuern eines Diskurs bewirken soll, von dem alle profitieren, die sich darin positionieren und daraus ihr kulturelles Kapital schlagen wollen.

Dass der Umgang mit Merkmalskatalogen ein hohes Maß an Flexibilität verlangt, gerade weil "die Großzahl der tatsächlichen Texte [...] keineswegs eindeutig diesen Merkmalen entsprechen" (Spinner 2006, S.13), ist alltägliche Erfahrung von Lehrkräften und entwertet die Frage danach, welche Merkmale einer bestimmten Gattung ein Text aufweist, nicht.

Viel wichtiger erscheint es daher in diesem Zusammenhang darauf zu verweisen, dass es in der Literaturdidaktik wohl sehr viel mehr um die Entwicklung einer "Brückentechnologie" gehen sollte. Mit diesen ließe sich das "Spannungsverhältnis zwischen Wissenschaft und Anwendungsansprüchen" (Winkler 2016, S.170) nutzen und mit konzeptionell durchdachten "Brückenprinzipien [...] eine angemessene Verbindung der Rationalitätsformen von Wissenschaft und praktischer Handlungsrelevanz" ermöglichen und zugleich dabei " helfen, Übervereinfachungen zu vermeiden." (ebd. S.171) Wie dies gehen kann, zeigt das Modell der "didaktischen Rekonstruktion eines Unterrichtsgegenstandes", bei dem "drei wechselwirkende Teile eng aufeinander bezogen: fachliche Klärung, Erfassung von Schülervorstellungen und didaktische Strukturierung. "(Kattmann u. a. 1997, S. 43, zit. n. ebd. S.171)

Mit Hilfe des von Komorek/Fischer/Moschner (2013) entwickelten Modells der didaktischen Reduktion lassen sich u. U. jene Brücken schlagen, welche die "Rekonstruktion", mit ihrem "entschieden fachlichen Kern", "als harmonisierende Klammer zwischen den Ansprüchen der Fachdidaktik, einerseits Wissenschaft und andererseits Unterrichtsentwicklung" versteht.

Die daraus resultierenden Brückenprinzipien sind indessen keine Rezepte für den Umgang mit Texten. Sie wollen nicht als allseits und unmittelbar umsetzbare Handlungsempfehlungen verstanden werden, mit denen Erkenntnisse der Fachdidaktik mundgerecht und häppchenweise umzusetzen sind. Und auf der anderen Seite darf dabei aber auch nicht der Eindruck entstehen, "dass die im Deutschunterricht gegebene Komplexität so reduziert wird, als könnte man ihr allein durch den Import wissenschaftlicher Befunde beikommen." (Winkler 2016, S.173)


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▪ Kohärenzbildung über mentale Modelle, kognitive Schemata und literarische Konventionen (Gattungen)

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 15.09.2024

     
 

 
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