▪
Textlinguistik
▪
Text und Stil
▪
Überblick
▪ Textstilistische
Handlungsmuster
▪
Stilregister
▪
Stilzüge und Ausdruckswerte
▪ Stiltypen
▪ Stilmittel
des Wortschatzes
▪ Satzbaustile
▪
Rhetorik
▪ Geschichte
▪
Begriff und Theorie
▪
Rhetorische Mittel
▪
Überblick
▪
Figuren und Tropen
▪
Änderungsoperationen
▪
Wirkungsbereiche
▪
Wirkungsakzente
▪
Einzelne rhetorische
Mittel
▪
Auswahlliste
Stil und
Kommunikation über Stile im Alltag
Dass wir in
unserer Alltagskommunikation ohne Weiteres in zahlreichen
Zusammenhängen von Stil sprechen und uns über Stile verständigen
können, ist nicht so selbstverständlich, wie dies in der Praxis
aussieht.
Wir sagen: "Das
ist nicht mein Stil" und meinen damit: "Das ist nicht
meine Art etwas zu tun". Wir sind bemüht, unseren eigenen
Stil zu finden. In unserer von »Singularisierung
geprägten Gesellschaft, deren Institutionen ebenso wie ihre
Mitglieder nicht mehr nach dem Allgemeinen, dem Standardisierten
und Regulierten streben, sondern an das Besondere, das
Einzigartige, das Singuläre ihre Hoffnungen heften und daran
ihre Interessen und Anstrengungen ausrichten, erhalten
Stilfragen immer mehr Gewicht. (vgl.
Reckwitz 2019, S.7) Die Ausbildung eines das ganze
persönliche Leben kennzeichnenden individuellen Stils wird damit
zum Zielpunkt eines nur dann angeblich glückenden Lebens.
Es geht, wie
auf einer einschlägigen, zufällig ausgewählten Internetseite
eines »Lifestyle-Magazins,
zu lesen ist, darum "seine eigene Persönlichkeit und Kreativität
in den Vordergrund zu bringen. Mut zum eigenen Stil heißt
mit Selbstbewusstsein durch den Tag zu laufen und stolz zu
sagen: *Hey, das bin ich!'" (Hervorh. d. Verf.)
Wir sprechen
von Kleidungsstil, Kommunikationsstil, Diskussionsstil,
Führungsstil, schlechtem und gutem Stil, altmodischem und
modernem Stil, Musikstil, Telegrammstil oder machen Geschäfte in
großem Stil und - das ist das eigentlich Bemerkenswerte! -
können uns damit miteinander verständigen. Das Stilverstehen,
wie wir es aus unserer Alttagskommunikation kennen, stellt sich
nämlich gewöhnlich intuitiv
und zwanglos ein.
Wir halten uns
dabei gewöhnlich an stereotypisierte, meistens auf
gesellschaftlichen Konventionen beruhende Beschreibungen oder
Bewertungen, mit denen wir ein bestimmtes Kommunikationsziel
möglichst gut erreichen wollen. (Sandig
22006, S.2ff.) Neben den sprachlichen Stilen (z.
B. Schreibstil, Argumentationsstil, Amtsstil, eingängiger
Stil, guter Stil etc.) werden in der deutschen Sprache auch
"eine Vielzahl sozial relevanter Handlungsweisen mit Stil
benannt: Stil sich zu kleiden, Führungsstil, Schwimmstil,
politischer Stil, Lebensstil, Fahrstil ..." (ebd.,
S.9). Bei diesen Begriffen geht es immer - wie auch bei
vielen Stilen, die mit sprachlichem Handeln in Verbindung
stehen, "um eine unter mehreren Arten, etwas zu tun, wobei diese
unterschiedlichen Arten in der Gemeinschaft bedeutsam sind." (ebd.)
Der Stilbegriff im Wandel
Im Deutschen
geht der Begriff des Stils auf das lateinische Wort stilus
zurück, das Schreibgerät bzw. »Griffel
bedeutet. Mit dem Schreibgriffel ritzten die Schreiber der
Antike und zum Teil noch des Mittelalters, ihre Zeichen in
Schreibplättchen, die mit Wachs überzogen waren. Im übertragenen
Sinn wird der Begriff seit dem 15. Jahrhundert in der Bedeutung
Schreibart verwendet.
In der Antike
drehte es sich bei der Beschäftigung mit Stilistischem stets um
die Angemessenheit eines sprachlichen Ausdrucks im rhetorischen
Sprachgebrauch.
Dabei
werden bei der sprachlichen Gestaltung (elocutio),
die als Ausformulieren von Gedanken verstanden wird,
▪
vier
Sprach- oder Stilqualitäten (virtutes elocutiones)
unterschieden.
Ab dem 18.
Jahrhundert verliert die antike rhetorische Tradition bei der
Beschäftigung mit Stilfragen zusehends an Bedeutung. Stilistik
verliert als allgemeine Theorie der Beredsamkeit an Bedeutung
und wird mehr und mehr zu einer "Anleitung zum angemessenen
Gebrauch der Schriftsprache" (Czapla
2007, S.516)
Im Zusammenhang
"mit dem nun aufkommenden Interesse sowohl am Individuellen als
auch am historisch Charakteristischen bei der Beschäftigung mit
Kunst und Literatur" (Anderegg
22006, S.375) wurde "unter dem Einfluss des
Geniekultes und der durch ihn beförderten Individualisierung des
Werkbegriffs (Originalität) die präskriptive Stilistik abgelöst
von einer persönlichkeitsgebundenen, nach heutigem Verständnis
'deskriptiven' Auffassung der Stilistik." (Czapla
2007, S.516) Der Stilbegriff löste sich damit "vom
rhetorisch reglementierten Sprachdekor zu einem Verständnis von
Stil als subjektivem Persönlichkeitsausdruck." (Becker/Hummel/Sander
22018, S.47)
Stil als Abweichung von einer Norm, als Ausdruck von
Individualität oder Wahl
Was einen Stil
ausmacht, wird oft als
Abweichung von einer
Norm
beschrieben. Wer den Stil eines Autors bzw. einer
Autorin als Individualstil beschreiben will, kann dies also
unter vergleichender Bezugnahme auf einen Kollektiv-,
Epochen- oder
Zeitstil tun, wer einen bestimmten Epochenstil
identifizieren will, muss diesen von anderen Epochenstilen
abgrenzen. Allerdings sind die in der Literaturwissenschaft oft
verwendeten Kategorien wie
▪
Epochenstil
und ▪
Gattungsstil problematisch und im
Allgemeinen eine "kollektive Generalisierung" (Spillner
1996, S.241), die vom konkreten individuellen Stil in einem
Text abstrahiert. Zugleich ist es auch mehr als fraglich, "ob es
einen homogenen Epochenstil oder Gattungsstil überhaupt gibt." (ebd.)
Aus diesem Grund plädiert
Spillner (1996) dafür, in solchen Fällen "von Stiltendenzen,
zeitgenössischen Konventionen, literarischen Moden zu sprechen
und nicht von einem »Stil«." (ebd.)
Ob es also so etwas wie einen "gemeinsamen Nenner einer Vielzahl
von Individualstilen" (Rommel
32004, S.628) gibt, der als Grundlage für einen
National- oder Epochenstil dienen kann, ist zumindest
umstritten.
Das
Abweichungsparadigma hat allerdings einen Haken. Auf diese Weise
lassen sich die Texte, die nach den vorherrschenden Normen
verfasst worden sind, eigentlich nicht mehr als Stil
beschreiben. (vgl.
Anderegg
22006, S.375) Und streng genommen "müssten nach
dieser Auffassung alle Fehler »Stil« sein und dürften normale
Texte keinen Stil haben." (Spillner
1996, S.241) Wenn also die
Abweichungsstilistik
widerlegt ist und als Stiltheorie nicht taugt, kann das
Abweichungsparadigma durchaus dazu dienen, in einem ersten
Schritt auffällige Textmerkmale zu identifizieren.
Wird Stil über
seinen Ausdruck des
Individuellen definiert oder als
Resultat eines
Auswahlprozesses, der das Ziel hat, als "Spezialfall
schöpferischen Handelns" (Antos
1982, S,42) dem konzipierten Textrahmen bei der
Textformulierung "jene sprachliche Form zu geben, die die
erfolgreiche Realisierung der vom Schreiber verfolgten
Grundintention am wahrscheinlichsten macht" und dessen Prozesse
"nicht in jedem Fall bewusst ablaufen" (Heinemann/Viehweger
1991, S.255), dann tun sich ebenfalls Probleme auf. In
diesem Fall könnte nämlich ignoriert werden, "dass die
Sprachgestalt von Texten oder Sprachhandlungen nicht nur durch
individuelle Intentionen, sondern ebenso durch individuell nicht
steuerbare Faktoren der Kommunikation und der jeweiligen
Textsorte bestimmt wird." (Anderegg
22006, S.375) Zudem wird im Rahmen der
Auswahlstilistik, so wichtig sie auch als Baustein für
eine kohärente Stilkonzeption ist, die Rolle des Lesers bei der
literarischen Kommunikation nicht berücksichtigt. (Spillner
1996, S.245)
Dieser Einwände
zum Trotz ist die Annahme der Auswahlstilistik, "dass der Autor
eines Textes prinzipiell mehrere sprachliche Möglichkeiten hat,
einen Sachverhalt auszudrücken" (ebd.,
S.244) und dabei seine Auswahlentscheidung bewusst oder auch
unbewusst gemäß seiner "Ausdrucksabsichten (Stilintentionen)"
(ebd.,
Hervorh. d. Verf.) gestaltet, eine wichtige Komponente der
Stiltheorie. Dass die Auswahl, die ein Autor vornimmt, nicht
rundherum frei ist, "sondern bis zu einem gewissen Grade durch
gesellschaftliche Normen, sprachliche Regeln, stilistische
Konventionen determiniert (ist)"
ebd.,
S.245),
Textmuster und Textsortenstile diese freie Auswahl
einschränken wird, dabei durchaus gesehen.
Literarische Stilistik
Im Allgemeinen
versteht man unter Stil in der Literaturwissenschaft ebenso wie
in der Kunstwissenschaft "besondere, in hohem Grade
unverwechselbare Grundmuster, die das Kunstschaffen von Völkern
(National- oder Regional-St.), historischen
Zeitabschnitten (Epochen-St.), einzelnen Künstlern (Personal-,
Persönlichkeits- oder Individualstil) und die
Ausprägungsformen bestimmter Werktypen (Gattungs-St.)
oder einzelner Kunstprodukte (Werk-St.)" (Metzler
Literatur Lexikon 21990, S.443)
Stilistik ist
dabei ein Begriff, der auf sehr verschiedene Gebiete angewendet
wird und sich, abgesehen von der Verwendung des Begriffs Stil im
Alltag oder im Zusammenhang mit anderen Künsten, im Kontext der
Literaturwissenschaft als Lehre von den Formen der sprachlichen,
besonders der literarischen Rede und ihrer Anwendung definiert
werden kann. (vgl.
Czapla 2007, S.515)
Grundsätzlich
beziehen sich Fragen nach dem Stil in der Alltagssprache ebenso
wie in den verschiedenen Wissenschaften "auf die Art und Weise,
in der etwas vollzogen, von etwas Gebrauch gemacht, mit etwas
umgegangen wird." (Anderegg
22006, S.375) In der Regel handelt es beim Stil
"um Manifestationen von rekurrenten Formen menschlichen
Verhaltens in den verschiedenen Materialien und Medien
insbesondere den Künsten." (Gumbrecht
2007, S.509)
Man kann Stil
auch als eine Art "Epiphänomen
an gesprochenen oder geschrieben Texten" (Spillner
1996, S.234) auffassen, "das von einem Sprecher oder
Schreiber bewusst oder unbewusst hervorgebracht und das in der
Rezeption von einem Leser oder Hörer konstituiert oder
aktualisiert wird." (ebd.)
Und Stil basiert darauf, dass die Sprache unterschiedliche
Möglichkeiten besitzt, etwas auszudrücken. Denn: wenn "es nur
eine einzige Möglichkeit (gäbe), einen Gedanken oder eine
Information zu übermitteln, dann könnte es in der Tat keinen
Stil geben. Jeder weiß aber, dass man ganz verschiedenen
formulieren kann, ohne die Bedeutung der Aussage prinzipiell zu
verändern. Und in der Literatur wird besonders variabel und
kreativ von solchen konkurrierenden Ausdrucksmöglichkeiten
Gebrauch gemacht." (ebd.)
Die
literarische Stilistik, die als Bindglied zwischen Sprach- und
Literaturwissenschaft fungiert, besitzt "kein einheitliches
Kategoriensystem" (Czapla
2007, S.515).
Literarischer Stil ist nur interdisziplinär
beschreibbar, die auf mindestens drei verschiedenen und
ineinander greifenden Komponenten beruht: einer linguistischen,
einer kommunikationswissenschaftlich-pragmatischen und einer
literaturwissenschaftlich-ästhetischen Komponenten. (vgl.
Spillner 1996, S.235) Da es
keine einheitliche
Stilbeschreibungssprache gibt, werden Termini aus so
unterschiedlichen Bereichen wie der ▪
Rhetorik, der ▪
Grammatik, der ▪
(Text-)Linguistik
oder der Semiotik
verwendet.
Die
literarische Stilanalyse ist dabei heutzutage darum bemüht,
dichterische Qualitäten im Rahmen eines
deskriptiven Ansatzes zu
erfassen. um den Stil eines literarischen Textes, Autors,
einer ▪ literarischen
Gattung oder ▪ Literaturepoche
usw. zu beschreiben. Dabei kommen auch Termini der
literaturwissenschaftlichen ▪
Erzähl-,
▪ Dramen- oder ▪
Lyrikanalyse zum
Zuge.
Stil in der hermeneutisch orientierten Werkinterpretation
In der älteren
Literaturwissenschaft glaubte man bis zu den 1970er Jahren vor
allem im Rahmen der ▪
hermeneutisch orientierten Werkinterpretation im Stil "nicht
nur das Eigen- und Einzigartige eines Werkes fassen zu können,
sondern auch das, was das Werk zum Kunstwerk macht." (Anderegg
22006, S.374)
Dabei ließ sie
sich von der auf die ▪ klassische
Rhetorik zurückgehende Auffassung leiten, "dass im Prozess
der Textproduktion zunächst eine neutrale, unmarkierte
Textfassung entsteht, die dann in der Produktionsstufe der
elocutio einer
besonderen Bearbeitung unterzogen wird" (Spillner
1996, S.242) Um einen Text stilistisch zu
▪
"schmücken" (ornatus)
kann bei dieser Bearbeitung auf ein großes Repertoire von
Stilfiguren und ▪
Tropen (ornatus in
verbis singulis) zurückgegriffen werden.
Die
hermeneutisch orientierte textimmanente Interpretation sieht,
abgesehen vom Text selbst, von jeder Berücksichtigung
historischer Komponenten und den weiteren Komponenten der
literarischen Kommunikation ab und glaubt, "Stil im Werk und nur
im Werk (...) dingfest machen und analysieren zu können." (ebd.)
Diese Vorstellung von einem "»Stil an sich«"
(ebd.) ist indessen
überholt.
Präskriptive Stilistik in der modernen Literaturwissenschaft
Die moderne
Literaturwissenschaft verfolgt im Allgemeinen keinen normativen
Ansatz, bei dem es darum geht, "eine gegebene Form so zu
modifizieren, dass sie einem vorgegebenen Form-Ideal näherkommt"
(Gumbrecht
2007, S.509). Ihr Ziel ist es nicht, bestimmte stilistische
Vorgaben für die Literatursprache zu machen. Ein normatives
Verständnis von Stilistik findet sich allerdings immer noch in
zahlreichen Schreibratgebern und -anleitungen für
Sachtexte (pragmatische Texte,
Gebrauchstexte,
expositorische Texte,
nichtfiktionale Texte).
Und auch im Deutschunterricht werden für bestimmte
schulische Schreibformen (z. B. ▪
Textwiedergabe, ▪
Formen des schriftlichen Erörterns, ▪
private Geschäftsbriefe, ▪
Formen des schriftlichen
Erzählens oder ▪
Berichtens etc.) bestimmte Regeln für das
textmusterkonforme Schreiben,die gleichzeitig als Kriterien
zur Leistungsmessung herangezogen werden.
Diese Aufgabe
aufzuzeigen, wie Texte stilistisch produziert werden sollen,
verfolgt die in der Regel didaktisch orientierte,
präskriptive Stilistik.
Mit ihren Regeln und Regelwerken und Zusammenstellungen der
sprachlichen Möglichkeiten, mit denen sich, so die Annahme, bestimmte Stilwirkungen erzielen lassen, orientiert sie sich an der
klassischen Rhetorik und folgt deren
Grundprinzipien (z. B.
grammatische
Korrektheit, Verständlichkeit/Klarheit, Angemessenheit, Schmuck)
Die
Literaturwissenschaft beschäftigt sich vor allem in
literaturgeschichtlicher Perspektive mit der präskriptiven
Stilistik. Dazu zieht sie z. B. Dokumente heran, die mit denen
analysiert und beurteilt werden kann, an welche zeitgenössischen
Regeln und Regelwerke sich Autoren gehalten, angelehnt oder von
denen sie sich bei ihrer sprachlichen Gestaltung abgegrenzt
haben.
Der typologische Stilbegriff der modernen Literaturwissenschaft
Statt eines
normativen Stilbegriffs geht die Literaturwissenschaft von einem
typologischen Stilbegriff, einem "Beobachtungsbegriff" (Gumbrecht
2007, S.509) aus, der zur "Analyse und Beschreibung
synchron wie diachron beobachtbarer Stile" (Czapla
2007, S.515) verwendet wird. Er erlaubt, "aus einer
thematisierten Form Rückschlüsse auf ihren Produzenten oder auf
die soziale Gruppe (die Epoche, die Kultur, die Nation), der er
oder sie angehört (haben), zu ziehen (vgl.
Gumbrecht 2007, S.509).
In der modernen
Literaturwissenschaft ist der Begriff des Stils, nachdem man
sich eine Weile lang ziemlich erfolglos bemühte, zu einer
einheitlichen Definition zu gelangen, heute vor allem im Kontext
fächerübergreifender vergleichender kulturell orientierter
Ansätze von Bedeutung.
Wer sich z. B.
"vor dem Vergleichshintergrund der strengen, hierarchischen und
statischen Gliederung des Barock" mit der "Architektur und
Stukkatur des Rokoko" beschäftigt, wird vielleicht beim Rokoko
"ein ähnliches Bemühen um Leichtigkeit und Bewegtheit erkennen
wie in der Rokokolyrik." (Anderegg
22006, S.376)
Dennoch ist die
Stil-Frage auch in der Literaturwissenschaft keineswegs vom
Tisch. Schließlich können Wissenschaftler*innen aber auch
Leser*innen "Texte aufgrund ihres S(tils) mit großer Sicherheit
einem Autor, einer Gattung, einer literarischen Strömung oder
einer Epoche" (ebd.,
S.375) zuordnen. Sie tun dies, weil sie aus Erfahrung wissen,
"dass die Bedeutung oder der Sinn von Texten nicht nur durch das
Vorhandensein bestimmter sprachlicher Zeichen entsteht, sondern
auch, gewissermaßen auf zweiter Ebene, durch die spezifische Art
und Weise, in der mit den sprachlichen Zeichen bzw. mit den
sprachlichen Möglichkeiten umgegangen wird." (ebd.)
Dabei ist die
Rolle, die der Stil unter ▪
kognitionspsychologischer Perspektive beim Textverstehen für
die ▪
Inferenzbildung bei der Konstruktion der ▪
Makrostruktur und des ▪
Situationsmodells spielt, noch keineswegs hinreichend
erforscht.
Integrative Stiltheorie und deskriptive Stilistik in der
modernen Literaturwissenschaft
Wenn in der
Literaturwissenschaft heute von Stil die Rede ist, dann geht es
um "die Art und Weise des Sprachgebrauchs" (ebd.),
was sehr weit gefasst bedeutet, dass damit alle gestalterischen
Möglichkeiten in Texten eingeschlossen sind.
Dieser ▪
weite Stilbegriff, der "die gesamte Textgestaltung in ihren
kommunikativen Verwendungs-Relationen" (Sandig
22006, S.150) umfasst, stellt die Basis der "integrativen
Stiltheorie", wie sie von »Bernd
Spillner (*1941)
(1996, S.246) konzipiert wird.
Sie versteht
Stil "als das Resultat aus der Auswahl des Autors aus den
konkurrierenden Möglichkeiten des Sprachsystems und der
Rekonstituierung durch den textrezipierenden Leser/Hörer. »Stileffekte«
ergeben sich erst im dialektischen Wechselspiel zwischen den im
Text kodierten Folgen der durch den Autor getroffenen Auswahl
und der Reaktion durch den Leser. Stil ist eine Erscheinung an
Texten, die im Kommunikationsprozess konstituiert wird – also
keine statische Eigenschaft eines Textes, sondern eine
virtuelle Qualität, die im Rezeptionsvorgang rekonstruiert
werden muss. Am Text erkennbar sind nur die Folgen der einmal
erfolgten Auswahl und die Voraussetzungen für die durch die
Rezipientenerwartung determinierte Reaktion des Lesers/Hörers."
(Spillner
1996, S.246f., Hervorh. d. Verf.)
Diese
grundlegenden Annahmen der integrativen Stiltheorie dienen zur
Beschreibung jener durch die sprachliche Form eines
literarischen Textes der lexikalischen Wort- und Satzbedeutung
hinzugefügten zusätzlichen Bedeutungselemente.
Alle
Textelemente, die dies leisten, gelten als stilistisch relevant.
Sie werden in einem Text auf verschiedene Art und Weise
markiert. Dazu wird eine "spezifische Auswahl und Anordnung
graphischer und phonischer sprachlicher Zeichen" vorgenommen,
"wobei das Mittel der
Rekurrenz
(Wiederkehr, Wiederholung eines sprachlichen Zeichens im Text)
die wichtigste Rolle spielt."
(ebd.,
S.249)
In diesem Sinne
richtet sich das Interesse "auf das, was im Vielfältigen eines
Textkorpus in charakteristischer Weise gleich bleibt oder
wiederkehrt." (Anderegg
22006., S.375) und dabei vor allem auf die
Wahlmöglichkeiten des Autors im Bereich des Wortschatzes und des
Satzbaus (besonders der Satzstellung)". (Spillner
1996, S.249) So betrachtet manifestiert sich im Stil eine
Zusammengehörigkeit von Textteilen oder Texten, die "sich in der
Art von wiederkehrenden Mustern" (Anderegg
22006., S.375) zeigt.
Stil kann dabei
stets als eine durch Abstraktion zustande gekommene
Zusammenfassung aufgefasst werden, die sich auf Prinzipielles
ausrichtet. Dies wird z. B. deutlich, wenn vom
spielerisch-bewegten und leichten Rokokostil gesprochen wird.
Stil kann aus
verschiedenen sprachlichen Phänomenen abstrahiert werden. Das
können Besonderheiten im Satzbau, bei der Wortwahl, beim
Tempusgebrauch, bei Argumentation, Beschreibung, oder anderen
Formen der Darstellung sein.
In jedem Fall
aber ist Stil als "eine dynamische Kategorie" zu
verstehen, "die historischen Veränderungen unterworfen ist und
bei der Lektüre jeweils bis zu einem gewissen Grad
unterschiedlich aktualisiert werden kann." (Spillner
1996, S.247, Hervorh. d. Verf.)
Makrostilistische und mikrostilistische Ebene
Im Rahmen der
deskriptiven Stilanalyse lassen sich eine makro- und eine
mikrostilistische Ebene unterscheiden.
Da es, wie
schon erwähnt, keine einheitliche Stilbeschreibungssprache gibt,
werden Termini aus so unterschiedlichen Bereichen wie der ▪
Rhetorik, der ▪
Grammatik, der ▪
(Text-)Linguistik
oder der Semiotik,
aber auch Termini der literaturwissenschaftlichen ▪
Erzähl-,
▪ Dramen- oder ▪
Lyrikanalyse
herangezogen, um den Stil eines Textes zu beschreiben.
Stilfiguren in der Rhetorik
Der Terminus
der
Stilfiguren ist als eine Kategorie der Rhetorik immer
noch üblich und hat für die
mikrostilistische Analyse eine wichtige Bedeutung. Er umfasst aber, wenn er
nicht in der Unterscheidung von ▪
(Stil-)Figuren und Tropen für eine große Zahl ▪
rhetorischer
Mittel, mit unterschiedlichen ▪
Änderungsoperationen, ▪
Wirkungsbereichen,
▪
Wirkungsakzenten und ▪
weiteren
Mitteln zur Stilbildung verwendet wird, im engeren, rein
textstilistischen Sinne
diejenigen, welche auf Repetitionen (Rekurrenz) beruhen.
Ziel ist es dabei die Zusammengehörigkeit von Textteilen oder
Texten aufzuzeigen, die "sich in der Art von wiederkehrenden
Mustern" (Anderegg
22006., S.37) manifestiert.
Rhetorische Stilmittel, die dies vor allem leisten, sind z. B.
die
Anapher
(Wiederholung derselben Ausdrücke am Anfang mehrerer Sätze
oder Absätze), die
Epipher (Wiederholung derselben Ausdrücke an Ende mehrerer
Sätze oder Absätze) und der
(grammatische) Parallelismus (Wiederholung einer bestimmten
syntaktischen Struktur). Sie müssen aber im Hinblick auf
ihre Funktion im Kontext und im Vergleich zu anderen
Möglichkeiten sowie im Blick auf den Leser betrachtet werden.
(vgl. Spillner
1996,
S.253) Der
grammatische Parallelismus kann (stilistisch gesehen) "für
Klarheit und logische Gliederung sorgen, er kann Aufzählungen
strukturieren, er kann die leichte Einspeicherung ins Gedächtnis
und Merkfähigkeit sichern, er kann – vor allem in politischen
und religiösen Texten – dem Zweck intensiver Überredung dienen."
(ebd.)
▪
Textlinguistik
▪
Text und Stil
▪
Überblick
▪ Textstilistische
Handlungsmuster
▪
Stilregister
▪
Stilzüge und Ausdruckswerte
▪ Stiltypen
▪ Stilmittel
des Wortschatzes
▪ Satzbaustile
▪
Rhetorik
▪ Geschichte
▪
Begriff und Theorie
▪
Rhetorische Mittel
▪
Überblick
▪
Figuren und Tropen
▪
Änderungsoperationen
▪
Wirkungsbereiche
▪
Wirkungsakzente
▪
Einzelne rhetorische
Mittel
▪
Auswahlliste
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
28.12.2022
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