Die Denkfigur des schreibenden Experten erlebt eine gewisse
Renaissance
Lange Zeit ist die
Denkfigur des
schreibenden Experten in der
Schreibdidaktik vorherrschend gewesen. Und dementsprechend hat
diese Auffassung auch die Schreibpraxis bzw. die Arbeit am Text in
Schule und Unterricht nachhaltig beeinflusst.
Im Zusammenhang mit der Forderung nach
Bildungsstandards und der
Kompetenzmodelle des
Schreibens ist diese Denkfigur wieder verstärkt ins Spiel gebracht
worden.
Ein pädagogischer Imperativ
Die Denkfigur des schreibenden Experten mündete
ursprünglich in einem allgemeinen
pädagogischen Imperativ, der inzwischen auch
kompetenztheoretisch fundiert wird. Dieser soll helfen "die Distanz
der Lernenden zu den Experten zu verringern und ihnen den Zugang zu
'reifen' Formen des Schreibens zu eröffnen" (Portmann
1966, S.158).
Als Konsequenz daraus wird unter pädagogischer wie
kompetenztheoretischer Sicht gefordert, "dass sich die schulische
Arbeit am Verhalten von Experten orientiert: an ihrer Fähigkeit zum
Planen und zum Überarbeiten, an ihrem Engagement für den Text. Die
Wege, die zum Text führen, sollen nach diesem Vorbild gestaltet
werden." (ebd.,
S.159)
"Fernziel ist," so pointiert
Portmann (1966,
S.159) seine diesbezüglichen Aussagen, "dass die Schülerinnen und
Schüler so schreiben können wie die Experten."
Im
Integrationsmodell zur Schreibentwicklung, wie es Carl
Bereiter (1980)
vorgelegt hat, wäre dies dann erreicht, wenn ein Lernender das
Stadium des
epistemischen bzw.
epistemisch-heuristischen Schreíbens erreicht hat.
Was die Denkfigur des Experten ausmacht, hat
Portmann (1966,
S.158f.) so treffend dargestellt, dass wir es hier in einem etwas
längeren Auszug zitieren:
"Einen Text schreiben können heisst fähig sein,
selbständig Gedanken aufzurufen, zu strukturieren und ihnen
einen angemessen sprachlichen Ausdruck zu geben. Schreiben
erfolgt unter spezifischen Bedingungen; zu ihnen gehören die
Abwesenheit des Adressaten, die relative Langsamkeit des
Produktionsprozesses, die Sichtbarkeit der Ergebnisse, die
Kontrollierbarkeit inhaltlicher und sprachlicher Aspekte am
Produkt, die Möglichkeit der Veränderung des Geschriebenen. Ein
Experte (Hervorh. d. Verf.) auf dem Gebiet des
Schreibens ist eine Person, die es versteht, diese Bedingungen
optimal zu nutzen. Sie kennt ihre Absichten, weiss Bescheid über
eine Sache, beherrscht Text- und Sprachnormen. Aufgrund dessen
kann sie den Prozess der Textproduktion effizient anlegen:
Planungs-, Formulierungs- und Überarbeitungsprozesse werden
zielgerichtet eingesetzt, verschiedene Aspekte des Textes werden
notfalls nacheinander abgearbeitet (etwa Inhaltsplanung,
Formulierung, stilistische Feinarbeit), Details des Textes
werden vor dem Hintergrund des präsumptiven Ganzen behandelt,
für auftretende sachliche, textuelle oder sprachliche Probleme
stehen Lösungsstrategien bereit. Experten sind des weiteren in
der Lage, ihre eigenen Produkte mit einer gewissen Distanz
wahrzunehmen und das, was sie auszudrücken versuchen, zu
vergleichen mit dem, was sie als Leser ihren Texten entnehmen.
Dies setzt eine gewisse metakognitive Reife voraus, das heisst
die Fähigkeit, die eigenen geistigen Tätigkeiten und
Einstellungen zu erkennen, zu objektivieren und bewusst damit
umzugehen."
In der Schule ist die Zielvorstellung nicht
unumstritten
Gegen dieses Expertentum als Zielvorstellung schulischen
Schreiblernens gibt es allerdings auch gewichtige Einwände. Sie
hinterfragen den Stellenwert des Experten-Modells für
die Vermittlung von
Schreibkompetenz und problematisieren ihn.
Auch das kreative Schreiben und andere
Schreibstrategien entwickeln und fördern Schreibkompetenz
Es ist
keineswegs ausgemacht, dass sich
Schreibkompetenz nur über das "Oberflächenverhalten"
von Schreibexperten vermitteln lässt, die, wie in der Darstellung
zur besagten Denkfigur verdeutlicht, ihren Schreibprozess kontrollieren und
organisieren können.
Eine weitaus größere Rolle könnten auch "tieferliegende
Kompetenzen" haben, die sich auf kein festgelegtes Verhaltensmuster
zurückführen lassen, sondern in hohem Maße vom Kontext abhängig
sind, in dem das Schreiben stattfindet.
Und wenn dies der Fall ist,
dann könnten u. U. auch andere Arten der Arbeit mit Texten ebenso
oder zumindest in bestimmten Teilbereichen ebenso zur Entwicklung
und Förderung von Schreibkompetenz beitragen. (vgl.
Portmann (1966,
S.162)
Das kompetenzfördernde Potential von verschiedenen Formen des
kreativen Schreibens, unterschiedlichen Formen
produktiver Textarbeit (z. B.
Texttransformationen etc.) oder auch von Schreibhandlungen mit
anderen
Schreibstrategien wie z. B. bei
dem nicht-zerlegenden Schreiben in einem Zug
(pensée parlée, écriture automatique,
automatisches Schreiben) rückt in dieser Betrachtung auf jeden
Fall wieder in den Blick.
Nötige Beurteilungskompetenzen können in weitaus vielfältigerer
Weise erworben werden
Beurteilungskompetenzen,
die,
wie Portmann
(ebd.) weiter meint, "zu den
unabdingbaren Momenten der Prozesssteuerung" gehören, können
auch anders erworben werden. So können z. B. "Entscheidungen darüber,
was gesagt wird, wie es gesagt wird und ob es schliesslich gut genug gesagt ist", auch in einem für andere
Formen des Schreibens und andere Auseinandersetzungen mit
Schreibprodukten "offeneren, vielfältigeren Schreibunterricht"
angestrebt werden.
Das
emotional-expressive Schreiben kommt in der Schule zu kurz
Zuguterletzt kann es nach Portmann auch nicht alleiniges Ziel schulischen Schreibunterrichts
sein, eine am Experten-Modell ausgerichtete Schreibkompetenz zu
vermitteln, denn "die Bewusstmachung und der Ausdruck von
Erfahrungen" die ebenso zu seinen Zielen gehörten, ließen sich eben kaum mit der Denkfigur des
Schreibexperten in einen förderlichen Zusammenhang bringen. (vgl.
ebd.)
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
08.07.2024
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