Lessings Drama im Blickfeld der normativen Gattungspoetik
Die Gattungsfrage, die Frage danach, welcher Dramengattung ▪
Lessings
Drama
▪ Nathan
der Weise zuzuordnen ist, hat die Interpreten des Stückes immer wieder
beschäftigt.
Lessing selbst hat das Stück in Anlehnung an »Voltaires (1694-1778) »poème dramatique« »Les Guébres« (Die Gheber,
1768) "dramatisches Gedicht" genannt, einen Begriff, der offenbar das,
was Lessing unter einer Komödie und
Tragödie mischenden, lebensnahen und
wahren Komödie verstand, ausdrückte. (vgl.
Demetz 1984, S.172)
Dass eine ernste Komödie dieser Art auch Rührung
hervorrufen konnte und sollte, war sicher dem einen oder anderen
Verteidiger der rigorosen Trennung von
Tragödie und Komödie ein Dorn im
Auge, war aber für Lessing selbstverständlich.
Dementsprechend knüpfte
er auch mit seinem "Nathan" an die Tradition rührender Familienstücke
an, die von Pierre Claude Nivelle de »La
Chaussée (1692-1754), dem Begründer der so genannten »comédie
larmoyante, von Christian Fürchtegott »Gellert
(1715-1769) und Denis
Diderot (1713-1784) herrührte.
-
Daher entsprechen auch wichtige Figuren
des "Nathan" gängigen Rollenfächern, wie Demetz (vgl.
ebd.)
zeigt: der greise Vater (Nathan; die Mütter sind immer tot), der
Beschützer (Saladin), der feurige Jüngling (Tempelherr), die empfindsame
Naive, die aber im Falle Rechas gerade nicht naiv bleibt).
-
Das Komische
findet sich dabei, ganz wie bei der »comédie
larmoyante üblich, eher bei den Nebenfiguren, im Falle des Nathan
bei den beiden Nebenfiguren
▪ Al-Hafi und
▪
Klosterbruder, welche die
Funktion von ▪ "Episodenfiguren" im Sinne
Denis
»Diderots (1713-1784) erfüllen.
Dass sich Lessings "Nathan" zwischen Tragödie und Komödie bewegt, hat
schon ▪ Friedrich Schiller (1759-1805)
in einer ▪
Anmerkung zu seiner Abhandlung
▪ "Über naive und
sentimentalische Dichtung" (1795) dargelegt, wenn er seinen Finger
auf "die frostige Natur des Stoffs" legt, die "das ganze Werk erkältet"
und betont, dass Lessing wohl selbst genau gewusst habe, dass er kein
Trauerspiel verfasst habe. Aber dabei habe er vergessen, "in seiner
eigenen Angelegenheit die in der Dramaturgie aufgestellte Lehre, dass
der Dichter nicht befugt ist, die tragische Form zu einem andern als dem
tragischen Zweck anzuwenden." Aber, so fährt er fort, könne man das
Stück ohne erhebliche Änderungen vorzunehmen, eben auch nicht mehr zu
einer regulären Tragödie umgestalten. Weitaus leichter sei es dagegen
und "mit bloß zufälligen Veränderungen" eine vergleichsweise gute
Komödie daraus zu machen.
Ob Lessings "genialer Kunstgriff", die Familiengeschichte ins
Metaphysische zu projizieren und im
Schlusstableau auf
"die Utopie einer Menschheitsfamilie, ohne Zwist und Hader"
vorauszuweisen (vgl.
ebd.,
S.175), die Zuschauer des Stückes vor einer rührseligen
Rezeption des "Nathan" als Ganzes bewahrt, das Konzept der
wahren und ernsten Komödie also wirklich aufgeht, wird in der
Forschung immer wieder kontrovers beurteilt. (▪
Begossene Pudel im Rührstück oder
geschichtsphilosophischer Entwurf?-
Interpretationsaspekte zur Schlussszene des
Nathan)
Legt die Ringparabel die Gattung des Stückes fest?
Bei der Diskussion der Gattungsfrage spielte auch stets das Verhältnis der im Zentrum des
Stückes stehenden ▪
Ringparabel
zum übrigen Stück eine maßgebende Rolle.
So betont
Stuart Atkins (1951/1984, S.156), dass die lange Zeit übliche Betrachtung,
die das "dramatische Gedicht" Lessings als Ganzes lediglich als äußeren
Rahmen, eine Art Fassung der Ringparabel, einer "undramatischen Rede
von etwa 150 Zeilen Länge", ansehe, ebenso an der Konstruktion der
dramatischen Fabel vorbeigegangen sei wie die "Tendenz, das
Ringgleichnis als einen unabhängigen Text anzusehen, geeignet für den
separaten Abdruck in Anthologien deutscher Dichtung."
Dem ist
zuzustimmen, zumal damit, wie Atkins weiter ausführt, "zwei
unbestreitbare Tatsachen" ignoriert würden, "nämlich (1) dass die
Ringparabel in Wirklichkeit ein unabgeschlossener Text innerhalb eines
größeren dramatischen Kontextes ist; (2) dass die Ringparabel innerhalb
eines solchen Zusammenhangs als dramatische Aussage gelesen werden muss
- beispielsweise als Charakterzeichnung handelnder Personen." Ein
angemessenes Verständnis der Ringparabel müsse daher sowohl ihrem
Erzählanlass als auch ihrer Stellung und Funktion im Aufbau der
Dramenhandlung gerecht werden. (vgl.
ebd.,
S.156)
Die Ringparabel als Teil der dramatischen Handlung
Im Literaturunterricht geschieht es indessen wohl nicht
selten, dass bei der Interpretation des Stückes die parabolische
Ringerzählung in den Mittelpunkt gerückt wird. Und in der Regel
kommt dann eben ihre Funktion für den weiteren Fortgang der
dramatischen Handlung zu kurz.
Auf diese Weise wird die Ringparabel dann zu
einer Art Abziehbildlichen, das ohne weiteres von seinem (klebenden)
Hintergrund entfernt werden kann, über den, da von Lessing ohnehin nur
etwas unklar als "dramatisches Gedicht" bezeichneten Drama, sich wenig
mehr sagen lässt, als dass es sich um eine "Gedankendichtung" (Leisegang (1931/1984,
S.117) handelt, an der vieles heute auf uns komisch wirke und auch "auf
den tiefer Blickenden" schon immer komisch gewirkt habe.
Für
Leisegang (1931/1984, S.126) stellt der Verlauf der dramatischen
Handlung, die "aus einer menschlichem Erkennen undurchsichtigen
Verwirrung, aus lauter Zufällen und Tücken des Schicksals" ein
"wunderbar zweckmäßige(s) Geschehen vor den staunenden Augen des Lesers"
(S.126) macht, letzten Endes eine Rechtfertigung Gottes, dar, eine
Theodizee, die die Menschen scheinbar in sinnlose Zufälle stürze, ihnen
unsägliches Leid zufüge und doch am Ende alles herrlich hinausführe, so
dass selbst das Böse und die Bösen seinen Absichten dienen müssten.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
05.12.2020
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