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Fremdheitserfahrungen thematisieren

Erfahrungen kognitiver Dissonanz aushalten und überwinden

Moderne Parabeln kommen vielen Leserinnen und Lesern zunächst einmal unverständlich und fremd vor. Und die negative Weltsicht, die meist aus ihnen spricht, wirkt oft verstörend. Dahinter steht dabei oft die von solchen Texten ausgelöste »kognitive Dissonanz, d. h. die Erfahrung, dass das, was man gelesen hat, einfach nicht so kognitiv zu verarbeiten ist, wie man das gewohnt ist. Vereinfacht ausgedrückt: Die Muster, mit denen wir etwas Gelesenem Bedeutung bzw. Sinn zuschreiben, funktionieren einfach nicht.

Wenn wundert's, dass eine solche Erfahrung emotionale Auswirkungen hat, die "schlechte" Gefühle macht über eigenes Unvermögen bis hin zur Abwertung des Gelesenen und seines Autors bzw. seiner Autorin in Bausch und Bogen. Wer die Spannung vordergründig aushalten kann, den dieser unangenehme motivationale Zustand hervorruft, lässt sich von allem, was einem einen solchen Text unverständlich, fremd, unsinnig oder sinnlos erscheinen lässt, aber nicht nicht beirren, sondern biegt sich das Ganze so hin, dass es eben zur eigenen Sicht der Dinge passt:  Was sich dieser nicht fügt, wird kurzerhand ignoriert.

Auf der anderen Seite ist kognitive Dissonanz aber auch eine Chance, wenn die mit ihr verbundenen Unlustgefühle überwunden werden können ( volitionale und metakognitive Aspekt des Lesens). Dann kann sie Ausgangspunkt einer Spurensuche werden, die nach den Ursachen ihrer Entstehung bei einem selbst und in Bezug auf den Text fragt. Diese Spurensuche kann "von einer erwarteten oder logischen, geradlinigen Stimmigkeit wegführen und damit sowohl Denkrichtungen auslösen als auch dazu anregen, das Denken selbst zu hinterfragen." (Andringa 2008, S.330). Sich selbstbewusst auf die Reflexion des eigenen Textverstehens und den Text, der seinen Sinn so gar nicht preisgeben will, einzulassen, das ist ein spannendes wie auch äußerst lohnenswertes "Abenteuer", das einem am Ende viel über sich selbst und über den Text, an dem man sich "gerieben" hat, sagen kann.

Inhalt und Strukturen der Fremdheit des Textes thematisieren

Die Spurensuche kann damit beginnen, sich damit zu befassen, was und warum etwas den Text, mit dem man es zu tun hat, so fremd erscheinen lässt. Dazu gilt es Inhalte und Strukturen der Fremdheit zu thematisieren, die vom Text evoziert werden. (vgl. Waldenfels 1998, vgl. Leskovec 2010. S.240)

Nicht jede Fremdheitserfahrung, die man beim Lesen von Texten macht, ist gleich. Deshalb macht es Sinn, drei Dimensionen des Fremdheitsbegriffs voneinander zu unterscheiden, die im Umgang mit literarischen Texten eine Rolle spielen: alltägliche, strukturelle und radikale Fremdheit. (vgl. ebd., S.240)


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Alltägliche Fremdheit beim Lesen eines Textes

Alltägliche Fremdheit erlebt man beim Lesen eines Textes, wenn man spürt, dass man Wissenslücken hat, von denen man aber zugleich weiß, wie man sie z.B. durch den Einsatz von Lexika oder mit Hilfe des Internets schließen kann.

  • In einem literarischen Text kann es dabei um Dinge gehen wie die Bedeutung und Lokalisierung geografischer Angaben, um historische Bezüge und Fakten und um die Namen von Figuren u. ä. m., die allesamt der innertextlichen, fiktionalen Welt angehören.

  • Zugleich werden durch den Lernzuwachs über die dargebotene fiktionale Wirklichkeit auch neue Bezüge möglich, die zu einer möglichen Rekontextualisierung des Textes in seinen "ursprünglichen" Zeitbezügen bzw. Kontexten beitragen kann. (vgl. Leskovec 2010, S. 240)

Strukturelle Fremdheit beim Lesen eines Textes

Strukturelle Fremdheit gründet, so Leskovec (2010, S.241) im Anschluss an Waldenfels (1999, S.91), "auf der Scheidung in 'Heimwelt' und 'Fremdwelt'. Was einem fremd erscheint, steht dabei "außerhalb der eigenen Ordnung" (ebd. S.241).
Und genau darin unterscheidet sie sich von der alltäglichen Fremdheit, die "innerhalb der eigenen Wirklichkeitsordnung (verbleibt)" und deren "Lücken" so geschlossen werden können, dass das Fremde in die eigenen Schemata des Denkens und Fühlens integriert werden können.

Was einem hingegen strukturell fremd ist, kann man sich nicht mit dem Rückgriff auf gespeicherte "Wahrnehmungsgestalten und Handlungssituationen" (Waldenfels (1999, S.91, zit. n. ebd.), auf Schemata aller Art, anverwandeln und damit ohne weiteres in seine vorhandenen Schemata einpassen.

Entsteht dieses Gefühl im Umgang mit Literatur, so resultiert dort genauso wie in anderen Zusammenhängen, Unsicherheit, weil die Sinnfindung erschwert ist.

  • Dazu kommt noch, dass man  das Gefühl struktureller Fremdheit oft gar nicht so leicht artikulieren und dann darüber kommunizieren kann.

  • Statt diese Fremdheitserfahrung also zu thematisieren, geht man den daraus resultierenden Irritationen und Blockaden lieber dadurch aus dem Weg, dass man eine Abwehrhaltung einnimmt, die von der totalen Ablehnung so "doofer" "schräger", ja "sinnloser" Texte bis hin zu der vehementen Abwehr so "negativer" und "irgendwie bedrückender" Geschichten reicht. Alles letztlich nichts anderes als eine "kognitive Distanzierung",  weil wir Fremdheit dem zuschreiben, "was die Erwartungen auf einen vertrauten Verlauf der Dinge enttäuscht." ( Waldenfels 1999, S.91, zit. n. ebd.)

Die gute Nachricht: Wer im Umgang mit literarischen Texten häufiger Erfahrungen mit struktureller Fremdheit macht, kann dies, sofern die nötige Bereitschaft dafür vorhanden ist, dies durch Lernen und Umgewöhnung ändern. (vgl. Waldenfels (1999, S.92, zit. n. ebd.)

Dazu gehört aber in jedem Fall, dass man die Tatsache, dass ein fiktionaler Text strukturelle Fremdheit erzeugen kann (vgl. Jahraus 2004, S.21) zunächst einmal akzeptiert, ohne die davon ausgelösten Irritationen prinzipiell abzuwehren. Wer bereit ist, sich intensiver mit dem Text selbst auseinanderzusetzen und ggf. zusätzliche Informationen zum Text recherchiert und heranzieht, kann seine Spurensuche am Ende vielleicht mit neuen, vertiefteren Erkenntnissen über den Text und seine Bedeutung und positiven Gefühlen beenden. Aber auch die Spurensuche braucht Frustrationstoleranz: Gerade ▪ moderne Parabeln verweigern sich häufig allen Formen von Sinngebung und sorgen damit dafür, dass "sich strukturell Fremdes" aller möglichen Kontextualisierungsbemühungen zum Trotz "nur bedingt auflösen lässt." (Šlibar 2005, S.82, zit. n. Leskovec (2010)

Radikale Fremdheit beim Lesen eines Textes

Radikale Fremdheit geht im Grunde genommen nicht nur über die eigene, sondern über jegliche Ordnung hinaus.

Ihre Eigenart besteht, so Leskovec (2010, S. 242) darin, dass man sie bzw. den Umgang mit ihr nicht erlernen und sich auch nicht daran gewöhnen kann: "sie verstört und verunsichert auch dadurch, dass sie sich den bewährten Formen der Aneignung (auch dem 'normalen' Sprechen) entzieht."

Das Gefühl radikaler Fremdheit kann sich dabei in literarischen Texten auf unterschiedliche Art und Weise bemerkbar machen.

  • So kann es vorkommen, dass ein Text ein Thema behandelt oder in einem Text ein Motiv auftaucht, dass Grenzerfahrungen in den Bereichen Sexualität, Halluzinationen jeder Art und jeden Ursprungs, Tod oder sonstige über die eigene Vorstellungskraft oder das eigene Erleben hinausgehende Inhalte und Stoffe in den Handlungen der Figuren versinnbildlicht, die einem in einer Weise fremd sind, dass man sie als radikale Fremdheit bezeichnen kann. Dieses radikal Fremde ist für einen Leser nicht fassbar, es bleibt letztendlich sogar nicht interpretierbar. Es ist gewissermaßen "das Überschießende", wie es auch in "individuellen wie kollektiven traumatischen Ereignissen, ekstatischen oder spirituellen Erfahrungen, Krankheit, Wahnsinn, Zufälligem, Phantastischem, Unheimlichem, Gewalt, Ereignissen also, 'die uns mit dem Fremden als einem Außer-ordentlichen konfrontieren.' (Waldenfels 1999, S.82)"  (ebd.) Gestalt annehmen kann.

  • Wenn man im radikal Fremden, das auch ein Strukturelement bestimmter literarischer Texte sein kann, das sieht, "was sich nicht paraphrasieren lässt, sich nicht mit den zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln ausdrücken lässt" (ebd.), dann stellt es eine Art "Überschuss" (ebd.) dar, der mit seiner "Bedeutungswucherung"  oder "Bedeutungsverknappung" (Waldenfels 2006, S.30, zit. n. ebd.) die Sinnhorizonte seiner Leser durchaus sprengen kann.

Literarische Texte, die mit dem Konzept radikaler Fremdheit arbeiten, etablieren mit ihrer Selbstbezüglichkeit ein in gewisser Hinsicht autonomes Ordnungssystem, "in denen das Unsagbare zur Sprache kommt". Geschaffen wird dadurch eine "Möglichkeitswelt", deren "schräger Blick auf die Welt" (Leskovec (2010, S. 242.) Ausdruck und Motor der Mehr- und Vieldeutigkeit solcher Texte ist, die sich damit einer vereindeutigenden Sinnzuweisung entziehen können.

Fremdheitserfahrungen thematisieren

Gert Egle, zuletzt bearbeitet am: 29.03.2024

       
 

 
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