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arbeitstechnik lesen
▪ Lesekompetenz
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Konzepte der Schreibkompetenz
Am 13.02.2003 wurde von den Vereinten Nationen die
Weltalphabetisierungsdekade ausgerufen. Binnen 10 Jahren, so das
anspruchsvolle Ziel, soll der Analphabetismus auf der Welt um die Hälfte reduziert werden. Darüber hinaus will man im Interesse der Chancengleichheit
den "digital divide", d. h. die Spaltung der Gesellschaft in "Onliner" und "Offliner",
verhindern.
Analphabetismus ist heute, weltweit gesehen, in erster Linie ein
Problem der so genannten Entwicklungsländer. Die UNESCO schätzt, dass
weltweit 862 Millionen Menschen ein Leben ohne Schrift führen. Von diesen
leben allein 600 Millionen, also mehr als zwei Drittel aller Analphabeten,
in den E-9 Ländern, den neun ärmsten Staaten der Erde. Bei einer
Weltbevölkerung von 6,2 Milliarden Menschen beträgt der Anteil von
Analphabeten 13,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Davon lebt der größte
Anteil mit 641 Millionen in Asien, 182 Millionen in Afrika und etwa 42
Millionen in Lateinamerika. Insgesamt zwei Drittel aller Analphabeten sind
Frauen. In den Entwicklungsländern haben ca. 113 Millionen Kinder nicht die
Möglichkeit eine Schule zu besuchen.
Wer Analphabetismus allerdings ausschließlich für ein Problem der Dritten
Welt hält, der irrt und wird durch die harten Fakten und durch Studien
schnell eines Besseren belehrt. So hat eine OECD-Studie aus den 90-er Jahren
(International Adult Literacy Survey- IALS) nachgewiesen, dass in 14 von 20
OECD-Ländern mehr als 15% der Bevölkerung nur eine mangelnde Lesekompetenz
besitzen. Und auch Deutschland ist beim Thema Analphabetismus überhaupt
nicht außen vor: Auch wenn die Zahl von Total-Analphabeten gering ist, so
wird die Zahl so genannter funktionaler Analphabeten auf ca. 4 Millionen
geschätzt, das sind etwa 6,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. Und auch die
PISA-Studie hat unlängst belegt, dass ein Viertel der 15-Jährigen in
Deutschland wegen ihrer Leseschwäche zu einer Risikogruppe gezählt werden
muss, die von gesellschaftlichem Ausschluss bedroht ist. Wichtig darauf
hinzuweisen, dass dabei nicht einmal die weit anspruchsvollere
Schreibkompetenz getestet worden ist. Und auch der Kampf gegen den
Analphabetismus, den jährlich 20.000 Teilnehmer in den
Alphabetisierungskursen der Volkshochschulen führen, spricht Bände.
Das Verständnis davon, was Alphabetisierung bedeutet und umgekehrt
Analphabetismus darstellt, hat sich im Laufe der Zeit beträchtlich
gewandelt.
Derjenige gilt heutzutage als alphabetisiert, der sich an allen
Aktivitäten und Ereignissen seiner Umwelt beteiligen kann, bei denen Lesen,
Schreiben und Rechnen erforderlich sind, und darüber hinaus diese
Kulturtechniken für seine eigene Entwicklung und die seiner Gemeinschaft
nutzen kann. (UNESCO: Statement of the International Commitee of Experts on
Literacy, 1962) Wer alphabetisiert ist, kann demzufolge z. B. Texte lesen
und verstehen, die von allgemeinem Interesse sind, versteht mit
Bedienungsanleitungen und schriftlichen Arbeitsanweisungen umzugehen, kann
Formulare ausfüllen, Automaten bedienen und vieles mehr.
Auch wenn die schon seit nahezu 300 Jahren geltende Schulpflicht – sie wurde
erstmals 1717 in Preußen eingeführt – alle Kinder zum Schulbesuch
verpflichtet, ist damit aber keineswegs garantiert, dass alle Schülerinnen
und Schüler elementare Grundkenntnisse, zu den denen auch das Lesen und
Schreiben gehört, erlernen. Allein im Jahr 2002 verließen 88.000 Jugendliche
die Schule ohne Hauptschulanschluss. Aber: ein Schulabschluss allein
garantiert noch lange nicht, dass man ein Leben lang ausreichend lesen und
schreiben kann. Man kann das Lesen und Schreiben nämlich wieder verlernen,
wenn man des nicht ständig übt. Dies ist für die meisten Menschen kein
Problem. Von ihnen wird allerorten schriftsprachliches Handeln verlangt, sei
es im Beruf oder auch im Privatleben. Wo Bücher und Zeitungen zum Alltag
gehören, wo in Familien durch Vorlesen früh eine enge Bindung und positive
Erwartung an Schriftlichkeit aufgebaut wird, ist die Gefahr für die
Entstehung von funktionalem Analphabetismus vergleichsweise gering. Aber
natürlich gibt es auch andere Fälle. „Wer nur selten liest,“ so ist kann man
der Webseite von APOLL, einem Kooperationsprojekt des Deutschen
Volkshochschul-Verbandes und des Bundesverbands Alphabetisierung e.V.,
entnehmen, „kann in der Folge immer schlechter lesen. Dasselbe gilt für das
Schreiben und hier vor allem für die Handschrift. So ist es zu erklären,
dass in der Schule alphabetisierte Menschen im Laufe ihres Lebens zu
funktionalen Analphabeten wurden.“ (http://www.apoll-online.de, 10.03.04)
Ob und wie gut jemand lesen kann, hängt neben seinen individuellen
Fähigkeiten vor allem von der sozialen Umwelt ab, in der man aufwächst. So
gibt es Menschen, die in einer Umwelt heranwachsen, die von literaler
Abstinenz gekennzeichnet ist. Wer in einer so gearteten sozialen Umwelt
aufwächst, kann häufig grundlegende Kompetenzen zur Lebensbewältigung in
einer schriftsprachlichen Kultur nicht erwerben. Auffällig für die deutsche
Problematik ist freilich, dass „Scheitern im Bildungsprozess und soziale
Herkunft […] noch auffallend eng miteinander verbunden“ sind. Das bestätigen
auch die Biografien von Erwachsenen, die in Volkshochschulen das Lesen und
Schreiben in einem zweiten Anlauf erlernen wollen.“ (ebd.)
Als Folge bleiben die Betroffenen einen Leben lang auf Hilfe angewiesen,
wenn es darum geht, Bedienungsanleitungen zu lesen, Fahrpläne zu studieren
oder Bankautomaten zu nutzen, vom Zeitungslesen oder Internetsurfen ganz zu
schweigen.
Der Begriff des Analphabetismus bezieht sich nicht mehr nur auf individuelle Lese- und Schreibfähigkeiten, sondern auch
auf die sich wandelnden
gesellschaftlichen Anforderungen. Aus diesem Grunde werden drei verschiedene
Formen von Analphabetismus unterschieden:
-
Primärer Analphabetismus
Eine Person verfügt über keinerlei Lese- und Schreibfähigkeit und hat
diese auch niemals erworben.
-
Sekundärer Analphabetismus
Eine Person hat die ehemals erworbenen Lese- und Schreibfähigkeit wieder
verlernt.
-
Funktionaler Analphabetismus
Eine Person verfügt nicht über ein Mindestmaß an Lese- und
Schreibkenntnissen, die zur Lebensbewältigung in beruflicher und privater
Hinsicht in einer Gesellschaft verlangt bzw. benötigt werden.
Total-Analphabeten im Sinne des
primären Analphabetismus gibt es heute in Deutschland nur eine geringe
Anzahl.
Die Anzahl derer, die als
sekundäre oder funktionale
Analphabeten bezeichnet werden, beläuft sich nach Schätzungen auf
ca. 4 Millionen. Erst in den siebziger Jahren hat man für diese Formen des
Analphabetismus eine Wahrnehmung entwickelt und versucht, ihnen mit
bildungspolitischen Maßnahmen entgegenzuwirken. Dabei gestaltet sich der
Kampf gerade gegen den funktionalen Analphabetismus als sehr schwierig. Denn
in einer sich ständig wandelnden Industrie-, Wissens- und
Informationsgesellschaft verändern sich auch die Mindestanforderungen
ständig, nehmen tendenziell zu und schaffen damit eine besondere Dynamik.
Wenn es früher einmal gereicht haben mag, seinen Namen schreiben zu können
und einfache Verträge zu lesen, so reicht das heutzutage eben längst nicht
mehr aus, um am Arbeitsplatz oder im privaten Leben bestehen und erfolgreich
handeln zu können.
Grundsätzlich will man mit dem Begriff des funktionalen Analphabetismus, der
naturgemäß schwierig zu definieren ist, also der Bedeutung gerecht werden,
die der Schriftkultur in der jeweiligen, sich ständig wandelnden
Gesellschaft zukommt. So beziffert die OECD-Studie (IALS -International
Adult Literacy Survey, 1994-1998), an der einige europäische Länder
teilgenommen haben, z. B. für Italien einen Anteil von 32% der
Bevölkerung, der nur auf dem niedrigsten Niveau lesen und schreiben kann.
Für Deutschland sind es 14 Prozent.
Das Leben, das funktionale Analphabeten führen, ist ein Leben in Angst vor
der Blamage. Daher neigen sie auch dazu, ihre Defizite mit allen Mitteln zu
kaschieren. (vgl. Hoffmann u. a. 1992, S.60) Sie stehen unter einem enormen
psychischen Druck und investieren einen Großteil ihrer Lebensenergie in die
Inszenierung von Überlebensstrategien.
„Sie ergreifen zumeist eine Arbeit, für die keine weitreichenden Lese- und
Schreibkenntnisse vonnöten sind. Ihren Alltag bewältigen sie meist nur mit
Hilfe des Partners und vollführen wahre Eiertänze, um Situationen zu
vermeiden, die ihre Schwäche offenbaren könnten. Denn als Erwachsene nicht
lesen und schreiben zu können, gilt immer noch als Tabu. So benutzte ein
Betroffener immer den gleichen Zug, weil ihm sowohl die Informationen des
Zugfahrplans als auch die Anzeigetafel verschlossen blieben. Oft wissen
nicht einmal die Angehörigen von der ständigen Angst vor Entdeckung und
Blamage“. (Hilbert, Michaela: Ständig in Angst vor der Blamage, in: Badische
Zeitung 19.4.2000)
Die Überlebensstrategie der Analphabeten heißt zunächst einmal Vermeiden von
„schriftsprachlichen Anforderungssituationen“ (vgl. Döbert/Hubertus 2000, S.
70f.), was sich in verschiedenem Verhalten niederschlägt:
- Anstehende soziale Situationen werden auf ihre möglichen (schriftsprachlichen)
Anforderungen hin sorgfältig überprüft.
- Lese- und Schreibaufgaben werden an vertraute Personen delegiert.
- Plötzlich auftretende (schriftsprachliche) Anforderungssituationen
werden durch ausweichendes Reagieren oder durch Täuschung der Beteiligten
bestanden (Man bestellt z. B. in einem Restaurant das von einem anderen
auf der Speisekarte bestellte Gericht mit.)
Ändern lässt sich der Zustand, in dem sich ein funktionaler Analphabet
befindet, nicht einfach. Denn nicht selten haben sich negative Erfahrungen
mit dem Lesen tief in die Psyche der Betroffenen eingegraben. „Die meisten
schleppen das Trauma ihrer Schulzeit ein Leben lang mit“ berichtet Dieter
Engelbrecht, der im Jahr 2000 einen VHS-Kurs mit dem Titel „Lesen und
Schreiben für Erwachsene“ in Freiburg leitet. (ebd.). Wer also mit seinen
mehr oder weniger gescheiterten Leseversuchen biographisch noch persönliche
Abwertungen erfahren, Strafen erleiden und soziale Ausgrenzung erdulden
musste, ist nicht gerade motiviert neu anzufangen. Denn: „Das Erlernen von
Schrift hat sich dann als negativ konditioniertes Bildungserlebnis ins
Gedächtnis eingeschrieben. Daher eignet sich eine bloße Wiederholung
schulischer Lernstrategien in der Alphabetisierung von Erwachsenen nicht zur
Herstellung positiver Lernerlebnisse.“ (http://www.apoll-online.de,
10.03.04)
Auch wenn niemand heute ernsthaft bestreiten wird, dass Lesen und
Schreiben zu den Grundkompetenzen und elementaren Kulturtechniken gehören, die man zu einer menschenwürdigen
Lebensbewältigung in unserer Gesellschaft benötigt, zeigen manche
Entwicklungstendenzen unserer visuellen Kultur auch in eine andere Richtung.
„Durch die zunehmende Nutzung illiteraler Medien wie Rundfunk, Fernsehen,
Video, Telefon, Handy und Multi-Message-Service wird es immer einfacher,
informiert zu sein, ohne die Last der Lektüre auf sich nehmen zu müssen. Der
Preis für die Dominanz unserer durch Bilder geprägten Welt ist der drohende
Verlust der Schriftkompetenz.“ (ebd.)
Analphabetismus ist auch, oder gerade in unserer modernen
Wissensgesellschaft zum Tabu geworden. Zwar glaubte man noch 1912 bei der
letzten vollständigen amtlichen Erhebung, dass mit einem Anteil von
lediglich 0,01- 0,02 Prozent der deutschen Bevölkerung, der weder lesen noch
schreiben konnte, der Analphabetismus überwunden sei. Dabei ging diese
Erhebung allerdings von Total-Analphabeten aus, die trotz Schulpflicht nicht
in der Lage waren Schriftzeichen zu dekodieren bzw. selbst zu produzieren.
Die geschätzte Zahl von derzeit 4 Millionen funktionaler Analphabeten in
Deutschland heutzutage belehrt indes eines Besseren. So darf man wohl
getrost darüber nachdenken, ob unter dem Diktat heutiger Bilderwelten, die
sich beispielsweise in der Fernsehrezeption von Kindern mit durchschnittlich
17,5 Wochenstunden manifestiert, die Zahl eher zu- als abnehmen wird.
Gert Egle, www.teachsam.de,
10.03.2004
Quellen:
-
Döbert, Marion u. Peter Hubertus (2000): Ihr Kreuz ist die Schrift.
Analphabetismus und Alphabetisierung in Deutschland, hrsgg. V.
Bundesverband Alphabetisierung e. V., Münster, Klett, 2000
-
Hilbert, Michaela: Ständig in
Angst vor der Blamage, in: Badische Zeitung 19.4.2000
-
Hoffmann, Wolfgang u. a. (Hrsg.) (1992): Analphabetismus. Das Recht
auf Lesen und Schreiben für Erwachsene, Frankfurt/M.: Interkulturelle
Kommunikation, 1992
-
http://www.apoll-online.de, 10.03.04
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
12.08.2020