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arbeitstechnik lesen
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Lesekompetenz
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Konzepte der Schreibkompetenz
Lesen ist für uns heutige Leserinnen und
Leser meist stilles, stummes oder eben leises Lesen. Dies ist für uns so
selbstverständlich und auch zur Norm geworden, dass wir, abgesehen von
sozialen Kontexten in denen das laute Lesen ausgesprochen erwünscht oder
es erst
eine bestimmte kommunikative Situation konstituiert (z. B.
Dichterlesungen), uns kaum mehr vorstellen können, dass auch
das stille Lesen Ergebnis historischer Entwicklungen war. Wer heute beim
Lesen laut mitlesen "muss", dem bescheinigen wir schnell eine
Leseschwäche, die ihn in die Nähe von Analphabeten rückt.
Früher,
in der Antike und im Mittelalter, war nämlich das laute Lesen
weit stärker verbreitet als das stumme Lesen
(auch: stilles Lesen oder
leises Lesen). In der Antike war
lautes lesen, Lesen als Vortrag, das Übliche, auch wenn stilles Lesen
nicht grundsätzlich ausgeschlossen war. (vgl.
Hartmann 2015,
S.704) Lesen war in dieser
Zeit wohl "beides Denken und Sprechen, und es war vor allem ein Akt, der
sich nicht getrennt von der Außenwelt, sondern mitten in ihr, innerhalb
der sozialen Gruppe und kontrolliert durch sie abspielte." (Bollmann
62007, S. 26)
Erstmals kam stilles Lesen, so genau weiß man das aber nicht, wohl in klösterlichen
"Expertenkulturen"
des Lesens (Bickenbach
2015, S.401) um 1150 auf, als man das stille Lesen von dem bis dahin
üblichen halblauten, murmelnden Lesen der Mönche (ruminatio = wört.
wiederkäuen) unterschieden hat. Bis dahin jedenfalls, so scheint es, war
stilles Lesen eher die Ausnahme.
Dabei hatte das stille Lesen wohl auch eine typographische
Voraussetzung. Bis weit ins Mittelalter hinein waren nämlich die
geschriebenen Texte in »Scripta
continua« gestaltet, d. h. in einer Art unendlicher Wörterschlange
Wort für Wort hintereinander ohne jegliche Zwischenräume. Erst ab dem 8.
Jahrhundert wurde durch die dann eingefügte Trennung der Wörter
voneinander, leises Lesen und eine erheblich schnellere
Bedeutungserschließung möglich gemacht. (vgl.
Rautenberg/Schneider 2015, S.100) Die veränderte Textgestalt hatte
dabei großen Anteil daran, dass sich die individuelle und kollektive
Lesepraxis durch den Wechsel vom lauten zum stillen Lesen quantitativ
oder qualitativ so "massiv" veränderte, dass man in der historischen
Leseforschung sogar von einer ersten Leserevolution (Chartier) im 12.
und 13. Jahrhundert spricht. (vgl.
Schneider 2015,
S.760) Allerdings hat der Philosoph »Augustinus
von Hippo (353-430 n. Chr.), der zugleich einer der bedeutendsten »lateinischen
»Kirchenväter
der »Spätantike
gewesen ist, schon viele Jahre zuvor seine Verwunderung über das stille
Lesen zum Ausdruck gebracht, bei dem er den Mailänder Bischof »Ambrosius
(339-397) bei seinen Besuchen beobachtete. "Wie
fremd Augustinus dem stummen Lesen gegenübersteht"
(Lück
2011, reprint S.14), zeigt sich auch daran, dass er diesen Eindruck
und seine Überlegungen dazu schriftlich festgehalten hat. Im sechsten
Buch seiner autobiografischen »Confessiones
berichtet er nämlich, dass Ambrosius wunderlicherweise leise liest. In
dieser vielzitierten Stelle, der
"kanonischen Stelle der Oralitäts- bzw. Literalitäts-Forschung"
(ebd.)
heißt es: "Wenn er aber las, so glitten die Augen über die Blätter, und das
Herz spürte nach dem Sinn, Stimme und Zunge aber ruhten. [...] Oft, wenn
ich zugegen war – denn niemand war der Zutritt verwehrt, noch war es
üblich, ihm Besuche anzumelden –, sah ich ihn so still ins Lesen
versunken, und anders nie. Und war ich dann geraume Zeit schweigend
dagesessen – wie hätte man es auch gewagt, ihm lästig zu fallen in
solcher Sammlung –, so entfernte ich mich wieder und machte meine
Gedanken: gewiss, er will in dieser knappen Zeit, die er sich zur
Erholung seines Geistes abgewann, wenn der Tumult der Geschäfte für
andere einmal aussetzte, nicht abgelenkt werden; wenn er liest, so tut
er es vielleicht darum nicht laut, weil er sich nicht gern gezwungen
sähe, einem aufmerksam hinhorchenden Zuhörer bei dunklen Stellen des
Textes Aufklärung zu geben oder mit ihm in die Erörterung schwieriger
Fragen einzutreten, wobei er dann wegen dieses Zeitaufwands in seinem
Buch nicht nach Wunsch vorankäme; aber auch die Schonung der Stimme, die
bei ihm sehr leicht in Heiserkeit übergeht, kann recht wohl der Grund
sein, warum er das stille Lesen vorzieht. Nun, was immer seine Absicht
dabei ist, sicherlich kann sie bei einem solchen Mann nur gut sein."
(zit. n. Lück 2011,
reprint S.14) Augustinus selbst praktizíert das stille, leise oder auch stumm
genannte Lesen, das Lesen in silentio, um mit der Rhetorik zu
brechen, "die ein Kult des Wortes ist" (Lück
2011, reprint S.13). Der Weg zu seinem Gottesverständnis führt nicht
mehr über das gesprochene Wort bzw. den Laut, sondern über das innere
Gefühl und darin besteht das eigentliche Neuland, welches zu betreten,
das stille Lesen möglich machte. Und: "Medientheoretisch ließe sich von
einem Switch der Kanäle sprechen: von Lunge/Zunge/Ohr zu dem, was die
christliche Welt »Herz« nennt." (ebd.)
Dabei hat das stumme Lesen, wie es Augustinus verstanden hat, "eher
keinen systematischen Status. Vielmehr markiert es das Außergewöhnliche
und Wunderbare – dies auch als physiognomisches Zeichen, denn es hat ja
»Teil an der Gnade«. [...] die äußeren Sinne, die beim Lesen beteiligt
sind, dienen nach Augustinus der Wahrnehmung lediglich von Dingen; die
»fleischlichen Augen« können nur irdisches Licht, nicht aber die
Sakramente oder das »ewige Licht Gottes« sehen." (ebd.,
S15) Diese Überzeugungen von Augustinus haben in der christlichen
Lehrmeinung lange nachgewirkt, in der seit Augustinus
»fleischliche Augen« von »Augen des Herzens« unterschieden (werden), um
die Begrenztheit körperlichen Sehens dem geistigen Sehen
gegenüberzustellen." (ebd.)
Wenn das stille Lesen auch bei Augustinus keinen systematischen
Charakter besaß und auch sonst sich wohl lange nicht gegen das laute
Lesen durchsetzen konnte, änderte sich dies wohl erst als bestimmte
"Expertenkulturen" des Lesens
(Bickenbach 2015,
S.401) entstanden und sich ausdehnten. So wurde das stumme Lesen in den
größeren Skriptorien ebenso zur Pflicht wie in den neu entstehenden
Universitäten. Seit dem Humanismus, dessen Ideal das stille Lesen war, wurde nur noch in besonderen Kontexten, z. B. bei einer
Vorlesung an der Universität, laut gelesen,
auch Gedichte wurden
weiterhin laut vorgetragen und bei verschiedenen öffentlichen
Aufführungen. (ebd.,
S.403)
Stilles Lesen in der
neu entstehenden privaten Lesepraxis des 18. Jahrhunderts
Bis sich das stille
Lesen, wie wir es heute als kennzeichnend für unsere private Lesepraxis
verstehen, gesellschaftlich durchsetzen konnte, dauerte es sehr lange.
Lange blieb es noch eine Variante des gelehrten Lesens.
Eigentlich wird es erst im ▪ 18. Jahrhundert
durch die wachsende Leserzahl und spezifisch für diese neuen
Leserschichten erschlossenen und über den Buchhandel vertriebenen Texte
zu der bis heute üblichen privaten Lesepraxis.
Der gesellschaftlichen Anerkennung der neuen Lesepraxis stand einiges
entgegen. Wenn Lesen in der privaten Lektüre damit zu einem intimen Akt
wurde, bei dem man sich u. U. an einen von anderen gänzlich ungestörten
Ort zurückzog oder bei der Wahl des Orts bestimmten Modeerscheinungen
folgte (z. B. Lesen in der freien Natur), dann hatte dies auch Folgen:
Die stille private Lektüre war nämlich so etwas wie eine "Flucht aus dem
paternalen und autoritativen »Gefängnis« des Familienverbandes und des
Dorfs." (Messerli
2010, S.469) Das
individuelle und stille private Lesepraxis "entzog sich auf diese Weise
der sozialen Kontrolle" (Schneider 2015,
S.754) und so war es kein Wunder, dass die neue Lesepraxis, die neuen
Lesestoffe, ja sogar die ganze Kulturtechnik des Lesens im 18.
Jahrhundert sehr kontrovers diskutiert worden ist. Dabei monierte man
das schnelle Lesen ebenso wie die sich mehr und mehr verbreitenden
populären und "nur" unterhaltenden Lesestoffe in Romanen, Lustspielen,
Räuber- und Schauergeschichten und in dieser öffentlich geführten
Debatte meldeten sich mehr oder weniger berufene Kritiker der "Vielleserei"
zu Wort, denen "der vermeintlich unreflektierte Umgang mit dem
Unterhaltungsmedium Buch, die zweckfreie Lektüre, die nicht auf Bildung,
Wissenserwerb und die Vermittlung bürgerlicher Tugenden" (ebd.,
S.758)zielten, ein Dorn im Auge war.
Sie sahen, dass dieses Lesen, weil es "eine intime, heimliche Beziehung
zwischen Buch und Leser" ermöglichte, im Geheimen auch
einen Weg in eine sozial nicht kontrollierbare Innenwelt zuließ,
Entwicklungen zuließ, die
"der
Kontrolle durch die Gesellschaft und ebenfalls durch die nächste
Gemeinschaft, etwa die Familien-, Haus- oder Religionsgemeinschaft"
entzogen waren (Bollmann
62007, S. 26) Zugleich verstanden, insbesondere auch die
Aufklärer, die besonders gern gegen die "Leswut" und "Lesesucht" der
weiblichen Romanleserinnen wetterten, dass das Ganze auf den Verlust
ihrer öffentlichen Deutungshoheit einerseits und auf einen
Bedeutungsverlust der von ihnen dominierten kommunikativen Strukturen
und Kanäle hinauslaufen konnte. (vgl.
Schneider 2015,
S.758)
Dass es oft die
lesenden Frauen waren, die dabei ins Visier genommen wurden, weil die "neuartige(n)
Verhaltensmuster(n) persönlicher Intimität, welche die Legitimität
sowohl der kirchlichen als auch auch der weltlichen Obrigkeit auf Dauer
bedrohen sollten" (Bollmann
62007, S.27), machte aus dem Blickwinkel der
patriarchalisch orientierten Männergesellschaft als Sinn. Es verhinderte
aber nicht, dass sich die lesenden Frauen, selbst wenn ihr ▪
(weibliches) Lesen oft ▪
heftig
kritisiert wurde, sich sich nicht nur diesen Freiraum
eroberten, "zu dem nur sie selbst und und sonst niemand Zutritt"
hatte. Zugleich verhalf es ihnen zu einem "unabhängigen Selbstwertgefühl"
und verschaffte ihnen damit die
Möglichkeit, "sich ihr eigenes Bild von der Welt, das mit dem
von Herkunft und Tradition vermittelten und dem des Mannes nicht
übereinstimmen" (ebd.)
musste, zu machen. Die
drei wichtigsten, vielfach vorgebrachten und kolportierten Kritikpunkte
an den neuen Formen des Lesens und den als eskapistisch betrachteten
Lesestoffen richteten sich aber nicht nur gegen die lesenden Frauen.
Man befürchtete (vgl.
Schneider 2015,
S.758f.)
-
negative soziale
Folgen, die bei den lesenden Frauen vor allem zu einer
Vernachlässigung ihrer Alltagspflichten führen
-
negative politische
Folgen, die revolutionäres, umstürzlerisches Gedankengut verbreiten
und zum Verfall der sittlichen Ordnung beitragen
-
negative medizinische
Folgen wie z. B. individuelle Erkrankungen aufgrund des Lesens, aber
man warnte sogar auch vor Seuchen und Epidemien, die deshalb
ausbrechen konnten
Der Trend hin zum stillen
Lesen bedeutet allerdings nicht, dass das laute Lesen in geselliger
Runde (geselliges Lesen), wie es schon in der Renaissance von
stadtbürgerlichen Kreisen nach höfischem Vorbild praktiziert worden ist,
ganz aus der Mode gekommen ist. Auch im ganzen 18. und 19. Jahrhundert
wurde das "gesellige gemeinsame Lesen" (Schön
2001, S.31) in allen sozialen Milieus der Gesellschaft oft und gerne
praktiziert und inszeniert (vgl.
ebd, S.37), um das
individuelle Lesererlebnis bei der kollektiven Rezeption zu
intensivieren.
Allerdings geschah dies
auch immer noch oft in Rahmen
autoritativer Lesesituationen, die stark von der Autorität des
Vorlesers (z. B. Hausvater, Schulmeister oder Pfarrer) geprägt waren.
Sie entschieden dabei auch darüber, ob sich solche Vorlesesituationen
beim geselligen gemeinsamen Lesen mit der Auswahl "moderner" Lesestoffe
und einer am Leseerlebnis selbst orientierten Lesehaltung weiter
entwickelten oder in alten Mustern des moralisierenden "exemplarischen
Lesens" (ebd.,
S.24) stecken blieben. (vgl.
ebd., S.31).
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
07.04.2022
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