▪
arbeitstechnik lesen
▪ Lesekompetenz
▪
Konzepte der Schreibkompetenz
▪
Von der Tontafel zum E-Book-Reader
Das ▪ Lesen als Kulturtechnik
hat eine lange Geschichte hinter sich. Die ▪
Geschichte des Lesens ist so facettenreich wie das ganze Lesen
selbst.
So, wie wir jedenfalls
heute lesen, meistens still und vergleichsweise schnell bis hin zum
▪ Scannen eines Texts hat man es früher nicht getan und auch das
Lesepublikum und seine Einstellungen zum Lesen sind heute andere.
Was an Lesestoff in einem Haushalt verfügbar war bis weit ins ▪
18. Jahrhundert hinein, überschaubar.
Der ▪ Weg von den Tontafeln der frühen
antiken Hochkulturen bis zum modernen E-Reader war dabei zwar eine
technologisch gesehen eine lange Wegstrecke, über viele Jahrhunderte
hinweg aber blieb die Medien, auf denen schriftliche Texte
niedergeschrieben wurden, unverändert.
Mal waren es ▪Tontafeln
in Mesopotamien, dann die ▪
Hieroglyphen auf den Papyrus-Rollen in Ägypten und der ▪
antiken griechischen und ▪ römischen
Welt, danach die gehefteten Bücher aus Pergament (Kodex), dann zu ▪
Beginn der Neuzeit nach der Erfindung »Buchdrucks
mit beweglichen Lettern
im Jahre 1440 durch
»Johannes Gutenberg
(1400-1468) die ersten Bücher, die so etwas wie eine frühe
Massenproduktion gedruckter Worte ermöglichten und schließlich die
modernen ▪ digitalen Formate: Alle
prägten, jede auf ihre Weise, nicht nur die Produktion, sondern auch die
Rezeption des geschriebenen bzw. gedruckten Wortes und beeinflussten mit
ihren Lesestoffen und den sozialen Praktiken ihrer Aneignung im Lesen
die gesellschaftliche, die politische und soziale Entwicklung.
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Tontafeln als erstes
Träger- und Speichermedium geschriebener Texte
Aus den frühen Hochkulturen »Mesopotamiens
(z. B. »Sumerer,
»Akkader,
»Babyloninier
und
»Assyrer)
stammen die wohl ersten Zeugnisse, die wir mit Schrift, wie wir sie
heute gemeinhin verstehen, in Zusammenhang bringen können.
Es sind Zeugnisse, die ca. um 3.200 vor Chr. mit einem stumpfen »Schreibgriffel auf quadratische, manchmal auch längliche
»Tontafeln
geritzt wurden. Nach ihrer Bearbeitung trocknete der Ton aus oder wurde
durch einen Brennvorgang haltbar gemacht. Dabei waren sie durchaus auch
mehrfach verwendbar. Wenn der Text nicht mehr benötigt wurde, konnte die
obere Schicht abgekratzt und wieder geglättet werden, was insbesondere
bei Schreibübungen an die Verwendungsform von
Schiefertafeln im elementaren Schreibunterricht viele Jahrtausende
später erinnert. Im Laufe der vielen Jahrhunderte, in denen Tontafeln als
Schriftträger und Speichermedium in Gebrauch waren, änderten sich auch ihre
äußeren Formate. Tontafeln waren dazu nicht nur in Mesopotamien als
Schriftträger in Gebrauch. Sie waren auch auf Kreta (Linear
A,
Linear-B-Schrift) und auf Zypern auf Kreta (kyprische
Silbenschrift) im Einsatz.
Anfangs zumindest handelte es sich bei diesem als
»Keilschrift
bezeichneten Schriftsystem um eine
logographische »Bilderschrift,
die etwa 900 »Piktogramme
und »Ideogramme
umfasste. Später entwickelte sie sich zu einer
phonographischen
Silbenschrift
(»Konsonantenschrift)
weiter (»ugaritische
Schrift).
Ihre Bezeichnung hat die Schrift von den auf den Schriftträgern
aufgebrachten waagrechten, senkrechten und schrägen Keilen. Die
Keilschrift blieb noch mehrere hundert Jahre, in denen sich ab 800 v.
Chr. schon die
phonographische
Lautschrift (Buchstabenschrift,
alphabetische Schrift)
der Phönizier in der griechischen Welt ausgebreitet hat, bis ins 1.
Jahrhundert n. Chr. oder länger im »Vorderen
Orient beim Schreiben verschiedener Sprachen in Gebrauch, ehe
sie von dieser abgelöst wurde und in Vergessenheit geriet. Auch die
Zeiten der Tontafel waren damit gezählt, die in etwa dem gleichen
Zeitraum immer mehr vom weitaus brauchbareren
Papyrus, dem
hauptsächlichen Schriftträger und Speichermedium der mehr als tausend
folgenden Jahre, verdrängt und ersetzt wurde.
Tontafeln rationalisierten vor allem die Verwaltung der Großreiche
in den frühen antiken Hochkulturen in »Mesopotamien
(z. B. »Sumerer,
»Akkader,
»Babyloninier
und
»Assyrer).
Was darauf festgehalten wurde waren vornehmlich
Verwaltungsakte (z. B. Steuerlisten u.
ä.), später kamen aber weitere schriftliche Aufzeichnungen hinzu und auf
der ca. 7 x 7 cm großen »Tontafel
von Nuzi aus dem 23. Jahrhundert v. Chr. finden sich sogar
Zeichnungen von die Berge, Flüsse und Städte auf einer Karte fixieren.
Das
Lesen der Tontafeln und das Schreiben darauf beherrschte fast
ausschließlich ein
kleiner Kreis dafür
ausgebildeter Spezialisten, darüber hinaus gab es keine nennenswerte
Schreib- und Lesekultur. (vgl. Hartmann
2015, S.704) Kein Wunder daher, dass die Bedeutung des Schreibers in den mesopotamischen
Hochkulturen, aber auch darüber hinaus,
außerordentlich war:
"Man brauchte ihn, um Botschaften zu übermitteln,
um Nachrichten zu verbreiten, um die Befehle des Königs
niederzulegen, um Gesetze aufzuzeichnen, um die astronomischen
Daten festzuhalten, dank denen ein Kalender geführt werden konnte;
man brauchte ihn, um den Bedarf an Soldaten zu ermitteln, an
Arbeitern, an Vorräten, an Zuchttieren; man brauchte ihn, um
Geschäfte und wirtschaftliche Unternehmungen zu protokollieren; er
musst die medizinischen Diagnosen und Rezepturen verzeichnen, die
Feldzüge begleiten, Meldungen versenden, die Soldatenchronik
verfassen, er musste Steuern festsetzen, Verträge entwerfen, die
heiligen Texte bewahren und seine Mitmenschen durch Vorlesungen aus
dem »Gilgamesch-Epos
bei Laune halten. Nichts ging mehr ohne den Schreiber." (Manguel
1998, S.210)
Wer im »Babylonischen Reich
(1894/1830-1595/1531 v. Chr.) Schreiber wurde, stieg
in die aristokratische Elite auf, nachdem er sein "Handwerk" schon
von früher Kindheit an in einer Privatschule gelernt hatte. (vgl.
ebd. S.211)
Schreiber waren in diesen patriarchalischen Gesellschaften mit ganz
wenigen Ausnahmen Männer. Eine
dieser Ausnahmen war »Prinzessin Enheduanna (um 2300 v. Chr.), die als Hohepriesterin
des Mondgottes einige Lieder, mit denen sie die Liebes- und
Kriegsgöttin »Inanna
verherrlichte, verfasst hat.
Bücher, wie wir sie heute kennen, gab es in der Zeit als Tontafeln
das Medium war, auf denen geschrieben wurde, nicht. Wohl aber gab es
Formate, die dem Verwendungszweck eines modernen Buches ähnlich
sind.
Da die Tontafeln oft durchaus handlich und auch transportierbar waren,
konnte man damit sogar eine Art Buch gestalten. Dazu wurden mehrere
Tontafeln "möglicherweise in einer Ledertasche oder einem Kasten
aufbewahrt, so dass der Leser die Tafeln in der richtigen Reihenfolge
herausnehmen und zurückstecken konnte. (vgl. Manguel
1998, S.151) Aber trotzdem war das Material dem später in
Ägypten und in der griechisch-römischen Antike gebräuchlichen Papyrus
mit seinem Rollenformat deutlich im Nachteil.
Die Papyrusrolle in der
ägyptischen, griechischen und römischen Welt
Die heute vielen von Abbildungen bekannte, überaus komplexe »Hieroglyphenschrift
der Ägypter mit ihren mindestens 600 Zeichen wurde auf ein
das Trägermedium geschrieben, das man aus dem Mark der »Papyrus-Staude
gewann, an den Rändern des Nils wuchs. Aber auch in Ägypten
war das, was in dieser "Kunst- Zeremonialschrift" (Hartmann
2015, S.706) niedergeschrieben wurde, auch wenn es sich um
Dichtung oder Prosaliteratur handelte, nicht zur Unterhaltung eines
breiteren Publikums da, sondern landete in Archiven und
Bibliotheken von Tempeln und Palästen, wo sich vor allem
professionell ausgebildete Schreiber darum kümmerten.
Zur Herstellung des neuartigen Schriftträgers wurden zunächst die
Stängel der bis zu drei Meter hohen schilfartigen Papyruspflanzen
geschält, im Anschluss daran trennte man die unmittelbar unter der
Schale liegende fasrige Schicht sorgfältig ab. Die dabei
entstehenden fasrigen Streifen sind das eigentliche Baumaterial des
Papyrus. Danach presste man zwei
einander im rechten Winkel überlagernde Schichten senkrechter und
waagrechter Streifen zusammen und klopfte mit einem schweren und
flachen Gegenstand auf das Ganze ein, um die
Schichten ohne Hinzufügung eines anderen Klebstoffes mit Hilfe ihres
eigenen »stärkehaltigen
Pflanzensafts zusammenzukleben. Dann wurde das
Vorprodukt getrocknet und mit einem Bimsstein glattpoliert. Am Ende
kam dabei ein Produkt heraus, das nicht nur mit Tinte beschreibbar
war, sondern auch eine beige Farbe hatte, glatt und geschmeidig war
und dazu noch durchaus reißfest. Allerdings reagierte es äußerst
empfindlich auf Feuchtigkeit und Wasserschäden, was aber unter den
besonderen klimatischen Bedingungen Ägyptens keine große Rolle
gespielt hat. Jedenfalls überstanden viele im trockenen Wüstensand
Ägyptens konservierte Papyri viele Jahrhunderte, ehe sie von
Archäologen entdeckt wurden, während Papyri, die von Ägypten aus den
Weg in die ganze damals bekannte Welt fanden, wenn sie einem
feuchten Klima ausgesetzt waren, vergleichsweise schnell zerstört
wurden. (vgl. Luz
2015, S.261f.)
Der entscheidende
Unterschied zu den Tontafeln in
Mesopotamien war, dass man die Papyri zu einer
Papyrusrolle
zusammenkleben konnte, die, da sie eigentlich in beliebiger Länge,
in unterschiedlichen Qualitäten und Formaten produziert werden
konnte, im Vergleich zu jenen eine geradezu unbegrenzt erscheinende
Menge an Schriftzeichen aufnehmen konnte, die dazu noch leicht
mit Tinte und Pinsel auf das
Material aufgebracht werden konnten.
Gewöhnlich beschriftete man die Papyrusrollen
nur einseitig und zwar
in Form von Text, der in Spalten nebeneinander stehender
Kolumnen,
wie man sie schon in Mesopotamien kannte, senkrecht zur Laufrichtung
der Rolle angeordnet war. (vgl. »Spaltensatz)
Auf diese Weise konnte ein Leser eine größere Menge Text auf einmal
übersehen, was unter Umständen einer der Gründe für den
"Konservatismus der gebildeten Oberschicht" (vgl.
Luz 2015,
S.274) war, die auch nach der Einführung der Kodexbindung noch
vergleichsweise lange an der Papyrusrolle festhielt.
Auch
wenn der Papyrus in
der Regel im Gegensatz zum Jahrhunderte
später gebräuchlichen Pergament aus Tierhaut nur einseitig
beschrieben wurde, kam es aber auch oft vor, dass Papyrusrollen aus wirtschaftlichen
Gründen wiederverwendet wurden. Dann wurde auch die
ursprünglich leere Rückseite der Rolle wieder beschrieben oder
man zerschnitt kurzerhand einen Papyrus, den man im Rollenformat
nicht mehr gebrauchen konnte, um dann die Rückseite der einzelnen
Blätter zu nutzen.
(vgl. Luz 2015,
S.262)
Typographisch waren die Papyrusrollen in der für die ganze Antike
kennzeichnenden scriptio continua
ohne Zwischenräume zwischen den Wörtern geschrieben, die dem Leser
ähnlich wie die sich typografisch vollkommen gleichenden, nicht
durchnummerierten Kolumnen keine von Layout und Schriftgestaltung
herrührende Hilfen beim Lesen gab. Irgendwie scheint die scriptio
continua mit ihrem Blockgestalt dem ästhetischen Geschmack und der
Lesepraxis der Zeit entsprochen zu haben, auch wenn damit nur ein
sehr langsames Lesen möglich war. (vgl.
Luz 2015,
S.264) Wer die so schrift- und kolumnegestalteten Texte lesen
wollte, musste als "Leser selbst die Buchstaben zu Wörtern
verbinden", musste durch "Abtrennen und Gruppieren von
kontinuierlich aufeinanderfolgenden Lautträgern" (ebd.,
S.265) Bedeutungen (re-)konstruieren und damit einen für ihn
sinnvollen Textzusammenhang herstellen. Auf diese Weise wird das
Lesen zu einem Gliederungsprozess, der sich "nicht nur auf einer
gedanklich-kognitiven, sondern auch auf einer formal-strukturellen
Ebene" (ebd.)
vollzieht.
Das äußere Format der Papyrusrollen, die im antiken Griechenland und in Rom im
Gebrauch waren, betrug in der Höhe im
Durchschnitt ca. 30 Zentimeter, konnte aber auch größer oder
kleinformatiger sein. Das "Handling" der Rollen und die
brüchige Struktur des Materials begrenzte dabei auch die Länge der
Rollen, die im Allgemeinen, aus 20 Einzelblättern zusammengesetzt,
bei einer Durchschnittshöhe zwischen 20 und 20 cm 3 bis 4 umfasste. (vgl.
Luz 2015, S.262)
Dieses Format, für das es aber keine Norm gab,
beeinflusste dabei sowohl die Rezeption der darauf
niedergeschriebenen Texte als auch auch die Produktion literarischer
Texte, die sich normalerweise auf einen Umfang zwischen 1000 und
2000 Versen beschränkten. Hinzukam, dass auch die Auswahl und bewusste
Gestaltung der Reihenfolge der Gedichte gliedernd Einfluss auf den
Lesevorgang nahmen.
Solche
Binnenstrukturen ermöglichten, dass, wenn z. B. zwei bestimmte
Gedichte in nebeneinander stehenden Kolumnen präsentiert wurden,
diese leicht miteinander verglichen werden konnten. Diese und andere
Faktoren führten dazu, dass das literarische Lesen "nicht mehr ein
lineares Voranschreiten im Text, sondern ein dynamischer Prozess des
Vor und Zurück, des Springens, Innehaltens, nochmal Beginnens und
Weiterfahrens" (ebd, S.269)
wurde. Vom Komfort des einfachen
Herumblätterns in einem Buch wie beim späteren Kodexformat war
diese Praxis aber sicher weit entfernt.
Die zusammengeklebten Papyrus-Rollen, deren gebräuchlichste Formate
zwischen 19 und 25 cm waren und bei literarischen Texten ca. 5-6, aber
durchaus auch einmal bis zu 10 m lang waren (Schön
2001,
S.7), musste beim Lesen von rechts nach links abgewickelt werden.
Dazu brauchte man
immer beide Hände, wehe, wenn die Rolle sich beim
Lesen auf den Knien dabei aus Versehen gänzlich entrollte, an den
Rändern ausfranste oder sonst wie beschädigt wurde!
Wie man sich das
Ganze Handling auf den Knien vorstellen kann, hat ▪
Charles
Degeorge (1827-188) mit seiner Statue des jungen Aristoteles
(1875) dargestellt. Allerdings hat er dabei eine vergleichsweise
kurze, in sich stabil zusammengerolltes Exemplar dargestellt, das der
junge Mann offenbar, entgegen aller sonstigen Gepflogenheiten im Umgang
mit der Papyrusrolle freihändig auf den Knien liegen lassen kann.
Allerdings waren
vor allem kurze, meist literarische Texte, die auch auf sehr
kleinformatigen Papyrusröllchen geschrieben waren, oftmals sogar
viel leichter zu handhaben als das bei der Pergamentnutzung übliche
vergleichsweise große Buchformat. So konnte, wie
Schön (2001,
S.8) anschaulich beschreibt, "ein Pergamentröllchen, vielleicht mit
einem Ovid-Text, (...) auch die elegante römische Dame leicht im
weiten Ärmel verschwinden lassen, wenn das nicht jeder sehen
sollte."
Ehe es zu dem Medienwechsel von der Papyrusrolle zum Pergamentkodex
in der Spätantike kam,
blieben aber auch im antiken Griechenland und in Rom die Rollen der
dominierende Schriftträger.
Im antiken Griechenland war dabei die phönizische Konsonantenschrift
wohl von phönizischen Händlern entlang ihrer Handelsrouten seit dem
800 Jahrhundert v. Chr. bekannt geworden und dann durch die
Einfügung von Vokalen zur alphabetischen Schrift weiterentwickelt
worden. Hinter dieser Schriftentwicklung stand aber kein staatlicher
oder theokratischer "Masterplan" wie z. B. in Ägypten, wo man die
Entstehung der Schrift als Geschenk der Götter verstand, sondern
eine historische Entwicklung, die mit der mehr oder weniger starken
mechanischen Übernahme der phönizischen Schrift durch die Griechen
ihren Ausgang genommen hat. Die Griechen wussten dies (vgl.
Murray/Davies/Walbank 2006, S.118) und griffen daher nicht auf
solche Mythen zurück. Zudem gab es in der griechischen Mythologie
keine "heiligen Schriften" wie bei den Juden und später im
Christentum, "wo Schriftlichkeit und Heiligkeit nahe
zusammenrückten." (Schön
2001, S.3) und so entstanden überall dort, wo die Schrift
hinkam, zunächst einmal eine Vielfalt
nicht "von oben" standardisierter Lokalschriften und Lokalalphabeten,
die nicht von eigens dafür zuständigen "Schriftgelehrten"
weiterentwickelt und "überwacht" worden sind. So könnte "die These
von der Aufnahme und Verbreitung der Schrift durch eine
Händlergemeinde" (Murray/Davies/Walbank
2006,
S.123) auch erklären, "warum die Kunst des Schreibens und Lesens
in der Gesellschaft Griechenlands nie auf eine spezielle Gruppe
beschränkt blieb." (ebd.,
S.124). Das stützt auch die Erkenntnis, dass es in Griechenland
während dieser Zeit "kein
Anzeichen für eine Gruppe professioneller Schreiber, die
ihren Lebensunterhalt mit dieser Kunst verdienten" (ebd.,
S.124, Hervorh. d. Verf.) gegeben hat.
Dabei muss man die besonderen Umstände, unter denen die Schrift in
Griechenland entstanden ist und sich verbreitet hat, wohl eher als
einen Ausnahme im Vergleich zur Einführung der Schrift in anderen
Kulturen verstehen. Denn sonst entwickelte sie sich "in enger
Verbindung mit vorhandenen sozialen Formen, insbesondere im
Zusammenhang mit Religion und Politik" (ebd.,
S.128 ),wo sie zur Kodifizierung und Fixierung religiöser Lehren und
zum Aufbau und zur Verstärkung zentralisierter Überwachung durch
eine wachsende Bürokratie diente. Die
einzigartige Sonderstellung der Schrifteinführung im antiken
Griechenland begründet sich auf ihrer nichtreligiösen,
weltlichen Entwicklungsumgebung und dem pragmatischen Zugang (vgl. Schön
2001, S.3) der Griechen zur Schrift, die sie "von Anfang an
vorwiegend für weltliche Angelegenheiten" (Murray/Davies/Walbank
2006,
S.128) verwendet haben. Die
profane Schriftkultur
der Griechen beruhte dabei auch darauf, dass es
keine etablierte
Priesterkaste gab und die Regierungsformen in Griechenland im
Vergleich zu früheren antiken Kulturen in vielerlei Hinsicht viel
offener waren. (vgl.ebd.)
Ohne die Einführung der Schriftlichkeit wären in Griechenland,
dessen Kultur trotzdem vor allem in der Alltagskommunikation noch
lange eine überwiegend mündliche, orale Kultur blieb, viele
politische und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse, so wie sie
stattfanden, nicht möglich gewesen. In gewisser Hinsicht kann man in
Griechenland nach der Einführung der Schrift auch "eine schriftliche
Gesellschaft im modernen Sinne" (ebd.,
S.125) verstehen, je nachdem, wie man den insgesamt doch
ziemlich vagen
Begriff von Schriftlichkeit (literacy) versteht, der sich in
Kompetenzstufen "von bloßer Kenntnis des Alphabets und der
Möglichkeit, zu lesen und (s)einen Namen oder einfache Notizen
aufzuschreiben bis hin zum flüssigen Lesen und Verstehen langer
literarischer Texte oder komplizierter Argumentationen" spannen
kann. (ebd.)
Der Materialwechsel vom Papyrus zum
Pergament und damit auch der Medienwechsel von der Rolle zum
Kodexformat zog sich ohnehin sehr lange hin, nichtzuletzt wohl auch
deshalb, weil die Papyrusindustrie und der Papyrushandel ein
einträgliches und bestens organisiertes Geschäft waren und Pergament dazu
viel aufwändiger herzustellen war. (vgl.
Luz 2015, S.275) Auch wenn der Übergang vom einen zum anderen
also mehrere Jahrhunderte dauerte, spricht man doch auch von einer
damit sich vollziehenden "»Medienrevolution«", die "sicher ähnlich gravierend wie
dann Jahrhunderte später die Erfindung des »Buchdrucks"
(Schön
2001,
S.8) durch
»Johannes Gutenberg
(1400-1468) gewesen sein soll.
Vom Papyrus zum
Pergamentkodex: Der spätantike Medienwandel
In der »Spätantike,
die mit der Herrschaft »Diokletians
(zwischen 236 und 245 bis 312) begann und die nach den Wirren der
sogenannten »Völkerwanderung
(375 bis 568), der »Teilung
des Reiches (395), dem »Untergang
des weströmischen Reiches (476/480) und der Transformation des
oströmischen Reiches in das
Byzantinische Reich (7. Jahrhundert). letztendlich fließend ins
»Frühmittelalter
übergegangen ist, erhielt die römische Buch- und Lesekultur neue
Impulse, den man als den "spätantiken
Medienwandel" (Hartmann
2015, S.715, Hervorh. d. Verf.) bezeichnet hat.
Dieser hat
technologische und soziale Aspekte und stand darüber hinaus in einem
Zusammenhang mit der Entwicklung und Ausbreitung des »Christentums,
das nach einer Zeit langer »Verfolgungen
(zuletzt auch noch unter »Diokletian
und Galerius (303–311) unter »Konstantin
dem Großen (zwischen 270 und 288 - 337) nicht nur von der an ab
313 n. Chr. gewährten Religionsfreiheit im Römischen Reich (»Mailänder
Vereinbarung) profitierte, sondern von ihm auch gegenüber den
anderen Religionen privilegiert wurde (»konstantinische
Wende). Konstantin selbst bekannte sich etwa ein Jahrzehnt später klar
und deutlich zum Christentum und ließ sich 337 noch auf seinem
Sterbebett taufen.
Die Gründe dafür, dass Konstantin das
Christentum
zu einer Art Staatsreligion machte, waren vielfältig. Zwei davon
waren, dass ihm die kirchlichen Organisationsstrukturen bei der
Verwaltung seines Riesenreiches nützten und die führenden Vertreter
des Christentums hochgebildet waren und dem Kaiser zur Sicherung
seiner Macht auch geeignete philosophisch-politische und rhetorische
Legitimationsstrategien anbieten konnten, wie z. B. die Idee eines
sakralen Kaisertums, das seine Nachfolger zum Konzept des »Gottesgnadentums
weiterentwickelt haben.
Der technologische
Wandel, der sich in der Spätantike im Bereich der Buch- und
Lesekultur vollzog, war gekennzeichnet durch den seit dem 2. Jahrhundert n.
Chr. sich schon ganz allmählich abzeichnende Verdrängung des
Schriftträgers Papyros hin zu dem aus Tierhaut gefertigten
Pergament. Im 4. und 5. Jahrhundert hat sich das neue Trägermedium,
das nicht nur robuster, platzsparender (es war von Anfang an
beidseitig beschreibbar) und so auch billiger, sondern auch
handlicher und bedeutend leichter zu transportieren war, gegenüber
dem Papyrus weitgehend durchgesetzt.
Das neue Material
setzte auch mit einem neuen Format der Vorherrschaft der
Papyrusrolle in der Lesepraxis ein Ende. Mit dem Pergament entstand
nämlich ein dem heutigen Buch bis auf die Bindung sehr
vergleichbares Buch, dessen Pergamentseiten zusammengeheftet waren.
Die neue Buchform wird als Kodex
bezeichnet. Zwar war Pergament als Trägermedium nicht wirklich neu,
man experimentierte damit schon seit Jahrhunderten (Schön 2001,
S.8), aber eigentlich wurde es erst durch die Christen regelrecht
populär gemacht.
Sie
brachten das Pergament auch aus ideologischen Gründen gegen das
Papyrus in Stellung, das noch immer "Medium der Leitkultur" (Hartmann
2015, S.715) war. Der von den Christen von Anfang an bevorzugte
Kodex wurde somit auch zu einem Symbol für ihre eigene elitäre Lese-
und Buchkultur, die sich auch damit von der heidnischen Kultur mit
ihrer Papyrusrolle abzugrenzen verstand. Ihre »"heiligen
Schriften" wurden so von an Anfang an in Kodexform verbreitet,
während
"die Rolle (...) mit der 'alten', der heidnischen Kultur
assoziiert (wurde).
Der Kodex war das 'sozial Niedrigere', mit dem sich das Christentum
als Gegenkultur identifizierte." (Schön
2001,
S.8) Soziale Träger dieser Gegenkultur zur gebildeten Oberschichten
der spätantiken Kaiserzeit waren sozial niedergestelltere schreib- und
lesekundige Bevölkerungsschichten wie etwa Handwerker, aus denen sich
die Anhängerschaft des frühen Christentums überwiegend rekrutiert hat.
(vgl.
Luz 2015, S.275)
Der Wechsel von der
Rolle zum Kodex revolutionierte auch die Lesepraxis. Statt mühseligem und
höchst konzentriertem Hin- und Herrollen mit dem Papyrus war mit dem
Pergamentkodex jetzt vergleichsweise leichtes
Blättern im Buch
angesagt. Trotzdem war auch in der Spätantike noch immer die
scirptio contínua, bei der Wörter und Sätze nicht durch Abstände
zwischen ihnen segmentiert wurden, die gängige Schreibpraxis und die
Bedeutungserschließung solcher Texte erfolgte im Allgemeinen über seine
"Reoralisierung", also
lautes Lesen. (vgl.
Rautenberg 2015,
S.301)
Andere bis dahin schon übliche Lesepraktiken, wie z. B.
das individuelle Lesen und das Vorlesen in der Gemeinde, änderten
sich aber in der christlichen Lese- und Buchkultur zunächst nicht.
Allerdings waren die großformatigen, umfangreichen und deshalb sehr
schweren christlichen Pergamentkodizes, in denen die Christen ihre "Heiligen
Schriften" aufbewahrten und in den Grenzen handschriftlicher Kopien
vervielfältigen, kaum mobil. Sie hatten z. B. als »Evangeliare,
Messbücher (»Missale)
oder als Bibeln in den Kirchen des frühen Mittelalters ihren festen
Platz auf dem Altar, der gewöhnlich aus liturgischen Gründen räumlich
deutlich von den Gläubigen entfernt war. Diese bekamen wohl deren
Prachteinbände, die mit Edelmetallen, Edelsteinen, Email, Elfenbein u.
a. versetzt waren, oft nur aus der Nähe zu sehen, wenn sie in einem
bestimmten liturgisch-religiösen Kontext, während des gewöhnlichen
Gottesdienstes oder bei besonderen Anlässen wie z. B. Prozessionen, auf
denen sie ebenso wie Reliquien und andere sakrale Gegenstände
(Monstranzen) "herumgetragen, geküsst und den Gläubigen zur Schau
gestellt" wurden. (Rautenberg
2015, S.288, vgl.
Schön 2001,
S.8)
Missale secundum ritum
ecclesiae Bremense (1511)
(Bremer
Dom-Museum)
Jürgen Howaldt / CC BY-SA 2.0 DE (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en)
Dabei stand der prachtvoll gestaltete Bucheinband mit dem auch
die besonders üppig ornamentale Buchgestaltung im Innern
korrespondierte, auch für den
absoluten Wahrheitsanspruch der "Heiligen
Schriften" und der entsprechende Besitz oder die Verfügung über die
Schriften signalisierte den Gläubigen den uneingeschränkten
Autoritätsanspruch und die Deutungshoheit der Kirche in sämtlichen
Fragen menschlichen Lebens. (vgl.
Rautenberg 2015,
S.288) Die Kirche und ihre Würdenträger hüteten das in Latein gefasste
"Schriftgeheimnis", lüfteten es per "Verkündigung", vermittelten
seine Lehren in einem engen Korridor zulässiger Deutungen unter den
Gläubigen und erhöhten damit systematisch die
kultische Bedeutung der "Heiligen Schriften".
Diese kultische Bedeutung steht dabei in einer gewissen Kontinuität
zu dem rituellen "Schwören auf die
Bibel", das lange unerlässlich war, um einen Schwur überhaupt
leisten zu können.
Mit dem
technologischen Wandel veränderten sich im nach und nach gänzlich
christianisierten spätantiken römischen Reich im 4. Jahrhundert n.
Chr. aber auch die Lesestoffe, die fortan überwiegend christlich
geprägt waren und in dessen Gefolge auch das Leseverhalten.
Die Erfindung des »Buchdrucks
im Jahre 1440 durch
»Johannes Gutenberg
(1400-1468) und die dadurch mögliche, nach damaligen Verhältnissen »große
Verbreitung der zwischen 1452 und 1454 entstandenen »Lutherbibel,
dem ersten mit beweglichen Lettern gedruckte Buch in der westlichen
Welt, war nicht nur eines der wesentlichen Elemente für den Erfolg von »Martin Luthers
(1483-1546) »Reformation
im 16. Jahrhundert, sondern brachte auch das Lesen als Kulturtechnik
breiterer Schichten der Bevölkerung langsam aber sicher voran. Die
prachtvoll gestalteten Bibeln waren allerdings nicht für den
Hausgebrauch einfacher Leute gedacht, die noch lange ▪
Analphabeten
blieben.
Dennoch war damit, insbesondere auch durch Luthers Übersetzung des »Alten
Testaments aus der »althebräischen
und der »aramäischen
Sprache und des »Neuen
Testaments aus der »altgriechischen
Sprache in die »frühneuhochdeutsche
Sprache wohl der Bann gebrochen und so gingen auch achtzehn
verschiedene, vorlutherische deutsche Bibeln zwischen 1466 und 1522 in
Druck, die wie z. B. die »Mentelin-Bibel
(1466), welche die Bibel in Volkssprache so präsentierten, dass die »biblischen
Geschichten auch von einfachen Klerikern, die der lateinischen
Sprache nicht so mächtig waren und von lesekundigen Bürgern gelesen und
verstanden werden konnten.
Die gängigen
Lesesituationen, die für das
Mittelalter und auch darüber hinaus typisch waren, waren stets auch
eine Frage des Formats und des Gewichts der Bücher.
Bücher waren im Mittelalter im Allgemeinen nämlich sehr dick und
sehr schwer.
Leichte und
schlanke Bücher im Hoch- und Schmalformat waren eher die Ausnahme
und kamen erst im Spätmittelalter auf, als sich religiöse
Gebrauchsliteratur (Stunden- und Gebetesbücher) allmählich
verbreitete, die vor allem Frauen, welche die kleinformatigen Bücher
auf den Schoß legen konnten, zur Erbauung in einem privaten
Leseprozess möglich machten. So ist es auch angesichts der heutigen
allseitigen Verfügbarkeit digitalisierter Texte auf allerlei
Endgeräten auch nur vordergründig ein Kuriosum, wenn man solche
kleinformatigen Bücher sogar so gestaltete, dass man sie sich an der
Kleidung oder am Gürtel befestigen konnte und diese so genannten
Beutelbücher, ohne sie abnehmen zu müssen, überall, wo es die
Lichtverhältnisse und die sonstige Situation es zuließ, lesen
konnte.
Das große Gewicht
und Format der meisten Bücher ließ hingegen eine so einfaches
Handling ohne weitere Hilfsmittel, wie dies noch mit der
Papyrusrolle bei allen ihren sonstigen Nachteilen auf den Knien
möglich war, natürlich nicht mehr zu und sie allein von A nach B zu
bewegen, war oft gewiss eine schweißtreibende Angelegenheit. Aus
diesem Grunde konstruierte man z. B. Stehpulte (im 18. Jahrhundert
wurden sie erneut "modern"!), spezielle Kastenpulte, an denen
geschrieben und abgeschrieben wurde oder später auch mobile,
teilweise zusammenklappbare Pulte für die Buchablage auf dem
Arbeitstisch. Im 16. Jahrhundert kamen schräg gestellte Pulte auf,
die sogenannten Leseräder, auf denen eine
gewisse Anzahl aufgeschlagener Bücher untergebracht werden konnten,
die man durch Drehen des Rades quasi nebeneinander lesen konnte.
Eine Erfindung im Übrigen, die sogar bis ins 18. Jahrhundert hinein
Verwendung fand. (vgl.
Rautenberg 2015,
S.292) und manchen heute als eine Art von analogem Hypertextsystem
vorkommt.
Angaben zum Copyright der Darstellung "Development of writing":
Creation of the drawing:पाटलिपुत्र (talk)Chinese
pictographs: BabelStoneIndus script: PHGCOMProto-Elamite pictographs:
VIGNERONElamite Cuneiform: RamaProto-Cuneiform:José-Manuel
BenitoCuneiform:Adam JonesProto-Canaaite alphabet: KwamikagamiEgyptian
hieroglyph: Udimu Egyptian hieroglyph: Jon BodsworthCrete hieroglyph:
Ingo PiniLinear A image: Ursus / CC BY (
https://creativecommons.org/licenses/by/3.0 )
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Konzepte der Schreibkompetenz
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Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
17.12.2023
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