Die allermeisten von
uns haben ihre ganz eigene Geschichte des Lesens und daher fällt
das, was man gemeinhin unter dem Begriff der Lesebiographie verseht
wohl bei jedem etwas anders aus, auch wenn unter den Bedingungen der
heutigen Produktion von Lesestoffen sehr viele Menschen auch
dasselbe lesen.
Viele Leserinnen und
Leser haben in ihrer Kindheit und Jugend gerne gelesen und erinnern
sich ihr Leben lang an Bücher, die eine besonders große Bedeutung
für sie gehabt haben. Kinder- und Jugendbücher wurden verschlungen,
auch wenn sie schon mächtig Konkurrenz durch Tonkassetten fanden,
die ähnlich wie die Bücher auch individuell und an verschiedenen
Orten gehört werden konnten. Das intime Lesen der Kindheit, das
einem ermöglichte, sich in Vorstellungswelten zu vertiefen, manchmal
auch zu verkriechen, war genau das, was zu unseren Bedürfnissen
passte und den ▪
Entwicklungsaufgaben, die in der Kindheit zu bewältigen waren, entsprach.
Als Kind identifizierten wir uns mit einer fiktiven Figur, wünschten
so zu sein wie diese und wollten über alles können, was diese
konnten (z. B. zaubern, fliegen und uns unsichtbar machen) (=
Wunschidentifikation).
Was wir an den
Kinder- und Jugendbücher liebten, war, dass sie gut verständlich
waren, unsere Fantasie anregten, während sie eine Welt vor uns
ausmalten, in der wir uns, weil wir es gelernt hatten, auch wenn es
oft eine reine Fantasiewelt war, gut auskannten und uns orientieren
konnten. Die Bücher gaben uns das, was wir suchten, sie zu lesen
oder, noch früher, sie vorgelesen zu bekommen, bereitete vielen von
uns einfach Spaß. Und im besten Fall gaben sie uns Unterstützung in
allen Fragen, die mit der Bewältigung der vielfältigen
Entwicklungsaufgaben dieser Zeit zusammenhängen.
Dabei gab es
natürlich schon immer Unterschiede. In machen Familien wurde so gut
wie gar nichts gelesen und das Fernsehen und andere Medien waren aus
unterschiedlichen Gründen die einzigen Tore zur Welt. Wer unter
solchen Umständen heranwächst, entwickelt wahrscheinlich
auch aller schulischen Leseförderung zum Trotz wohl nie oder nur
unter erschwerten Bedingungen ein positives Verhältnis zum Lesen,
wie wir es hier verstehen, als das Lesen von Büchern. Natürlich ist
Lesen heute keineswegs mehr an dieses Medium gebunden.
Die ▪
Adoleszenz, das
Jugendalter zwischen 12 und 18 Jahren (vgl. auch ▪
Thematisches Projekt Jugend)
entfaltet auf vielen Gebieten eine ▪
Psychodynamik,
weil das Entwicklungsprogramm groß und mit seinen ▪
persönlichen
Aufgaben,
▪
Beziehungsaufgaben,
▪
sozioinstitutionellen Aufgaben sehr komplex ist.
"Die meisten
Jugendlichen empfinden sich hin- und hergerissen zwischen
verschiedenen Gefühlen, Höhen und Tiefen, himmelhoch jauchzend und
zu Tode betrübt. Euphorie und Depression gehen Hand in Hand. Sie
können sich in keine Rolle richtig hineinfinden. Sie verweigern sich
den Angeboten und Forderungen der Erwachsenen und suchen doch nach
(erwachsenen) Vorbildern, Männer wie Frauen. In allen
Selbstbeschreibungen wird die Unsicherheit und die Suche nach dem
Selbst greifbar." (Charlton/Käppler/Wetzel
2003, S.162)
Was während der
Adoleszenz passiert, wirkt sich auch auf das Lesen und seine
Bedeutung bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben aus. Dabei
ändert sich auch im Vergleich zur Kindheitdie Art, wie wir uns mit
den fiktionalen und fiktiven Helden identifizieren. An die Stelle
der Wunschidentifikation der
Kindheit tritt nun die "Ähnlichkeitsidentifikation",
bei der "die lesende Person thematische Übereinstimmungen zwischen
sich und ihrer realen Welt mit der Figur und deren fiktiver Welt
feststellt." (Philipp
2015a, S.460)
Dabei ist es
keineswegs so, dass Lesen und Lesestoffe im Jugendalter eine geringe
Bedeutung besitzen. Wer sich z. B. die riesigen Fangemeinden von »Harry
Potter-, Bis(s)- oder Twilight-Romanen (z. B. von »Stephenie
Meyer (geb. 1973) »Biss
zum Morgengrauen, »Biss
zur Mittagsstunde, »Biss
zum Ende der Nacht, »Biss
zum Abendrot etc.) ansieht und die vielfältigen
"Anschlusskommunikationen" in der realen und digitalen Welt darüber
mit einbezieht, kann pauschal und meistens abwertend, nicht
behaupten, dass sich das Lesen unter Jugendlichen auf dem Rückzug
befindet. (vgl.
Philipp 2015c, S.202)
Natürlich hat sich
das Lesen im digitalen Zeitalter insgesamt verändert und befindet
sich bis heute in einem fortwährenden Wandel, der besondere
Nutzungspraktiken generiert, auch wenn dies keineswegs so radikal
geschieht, wie es oft im eigentlich wenig förderlichen Vergleich mit
den traditionellen Printmedien erlebt und beurteilt wird. Dabei
stehen immer wieder "Veränderungen der Aufmerksamkeitsspannen, der
Informationsselektion, des Tiefenverstehens und der Konzentration
beim Lesen" (Kuhn/Hagenhoff
2015, S.377) im Fokus einer Debatte, welche die "neuen"
Lesemedien nicht in ihrer Eigenständigkeit und ihren eigentümlichen
Kommunikationsfunktionen betrachten will. (vgl.
ebd.)
Wenn unter den
modernen Bedingungen sich also das Lesen der Jugendlichen unter dem
Einfluss neuer Medien verändert hat und weiter verändern wird, ist
dies nichts Außergewöhnliches und auch kein Prozess, der sich allein
auf das Lesen von Jugendlichen auswirkt.

Wenn es bei einem
größeren Teil von Jugendlichen in der Adoleszenz zu größeren
"Lesepausen" bis hin zum "Abbruch der Lesekarriere" (Graf
2015, S.190) kommt, dann hat dies gewiss viele unterschiedliche
Gründe. Sie können unter ▪
entwicklungspsychologischem Aspekt in einen Zusammenhang mit
Schwierigkeiten bei der Bewältigung der besonderen ▪
Entwicklungsaufgaben im Jugendalter unterschiedlicher Art
gebracht werden, denen mit gängigen ▪
Coping-Strategien
nicht so ohne weiteres entgegengewirkt werden kann. Woran das im
Einzelnen liegt, kann hier nicht beantwortet werden.
Feststeht nur, dass
Jugendliche oft große Schwierigkeiten haben, insbesondere wenn sie
mit anspruchsvoller
"Erwachsenenliteratur" im schulischen Literaturunterricht
konfrontiert werden, "eine erwachsene Leserrolle zu erwerben, die
die kompetente Lektüre
komplexer
Sachtexte und
ästhetischer Texte in einer befriedigend wahrgenommenen Weise
ermöglicht." (ebd.,
S.190)
Wenn die von ihnen
erworbenen Formen automatisierten, unmittelbar auf Gratifikation
durch das Leseerlebnis orientierten Lesegewohnheiten nicht mehr
greifen und stattdessen elaborierte Prozesse des ▪
Textverstehens verlangt
sind, die zudem eine hohe
motivationale
und volitionale
Bereitschaft voraussetzen, mit einer entsprechenden ▪
Lesetechnik oder ▪ -strategie,
der Einnahme einer adäquaten Leserrolle und ▪
Lesehaltung an die
Textarbeit im Zuge " einer genauen, oft auch anstrengenden Lektüre"
(ebd., S.189)
heranzugehen, scheitern viele Schülerinnen und Schüler regelmäßig.
Die Debatte in der
Deutsch- und Literaturdidaktik, wie man dem begegnen kann, ist
vielleicht so alt wie das Lesen selbst. Mal soll dem dem Lesefrust
durch den Erwerb und den flexiblen Einsatz von ▪
Lesetechniken oder ▪
Lese- und
Rezeptionsstrategien entgegenwirkt werden, mal geht es um
normative Beschränkung der Lesestoffe auf einen bestimmten
Lektürekanon, mal um eine an den Bedürfnissen oder ▪
Entwicklungsaufgaben von Jugendlichen orientierte andere
Textauswahl, ein ander Mal um stärker handlungs- und
problemorientierte Zugänge oder um den Peer-Bezug, der in Formen
kooperativen Lesens für neue Lesemotivation und eine neue "Leselust"
sorgen soll. Was auch immer: Stets geht es aber, insbesondere in der
Jugend auch um den "Erwerb einer differenzierten literarischen
Rezeptionskompetenz, deren Beschreibung [auch] die Anforderungen (hoch-)komplexer
Texte reflektiert." (ebd.,
S.190)