Das die Alphabetisierung und das Lesenlernen von den Herrschenden,
solange die Mehrheit der Menschen weder schreiben noch lesen konnt, als Gefahr für ihre
eigene Herrschaft ansahen, zeigen Erfahrungen in den amerikanischen
Kolonien und in den späteren Sklavenhalterstaaten in den USA, von denen
Manguel (Eine Geschichte des Lesens,1999, S.325ff.) berichtet.
Danach
hat Karl II. von England im Jahr 1660 ein Dekret erlassen, "dem zufolge
die Eingeborenen, Diener und Sklaven der britischen Kolonien im
Christentum unterwiesen werden sollten." Dies stieß bei den britischen
Sklavenhaltern in den Kolonien aber auf heftigen Widerstand: "Schon der Gedanke an eine »gebildete schwarze Bevölkerung« weckte
in ihnen die Furcht, dass ihre Untertanen auf umstürzlerische Ideen kommen
konnten. Auch dem Argument, dass die Lektüre der Bibel den sozialen
Zusammenhalt stärken würde, misstrauten sie, denn wenn die Sklaven die Bibel
lesen konnten, waren sie auch fähig, Pamphlete gegen die Sklaverei zu lesen, und
sogar die Heilige Schrift selbst konnte das Verlangen nach Aufruhr und Befreiung
schüren." (ebd.)
Und dieser Widerstand der Sklavenhalter gegen das Lesen blieb in den
Südstaaten offenbar weitgehend ungebrochen, sodass in South Carolina
noch hundert Jahre später "strenge Gesetze erlassen wurden, die allen
Schwarzen, ob versklavt oder frei, das Lesenlernen untersagten." (ebd.)
Diese Praxis, Lesen zu verbieten, hielt sich über Jahrhunderte: In
diesen Staaten "riskierten die afroamerikanischen Sklaven
ihr Leben, wenn sie trotz aller Verbote und Schwierigkeiten die Kunst des Lesens
erlernen wollten - in aller Heimlichkeit und manchmal in heroischer Anstrengung,
wie man vielen Berichten aus dieser Zeit entnehmen kann." (ebd.)
Ein Beispiel wie es Einzelne doch schafften, lesen zu lernen, zeigt das
Beispiel von Belle Myers Carothers,
die neunzigjährig in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts
erklärte, " dass sie lesen lernte, indem sie das mit Buchstabenklötzchen spielende
Kind des Plantagenbesitzers beaufsichtigte. Als ihr Herr sie dabei ertappte,
trat er sie mit Stiefeln. Doch Belle Myers gab nicht auf. Heimlich lernte sie
weiter die Buchstaben auf dem Spielzeug des Kindes entziffern und dann auch die
Wörter in einer alten Fibel, die sie irgendwo aufgetrieben hatte. Eines Tages,
so berichtete sie, »fand ich ein Gesangbuch und entzifferte die Worte: >When I
Can Read My Title Clear< .»Ich war so glücklich, als ich merkte, dass ich lesen
konnte, dass ich gleich losrannte und es allen anderen Sklaven erzählte.«"(ebd.)
Und der Sklave Leonard Black, den man beim verbotenen Lesen erwischte, wurde von seinem Herrn so
brutal ausgepeitscht, dass er seinen "Wissensdurst fürs erste zum Erliegen
brachte" und er bis zu seiner Flucht keine weiteren Versuche mehr unternahm.

Wer in dieser Sklavenhaltergesellschaft als afroamerikanischer Sklave
das Lesen erlernen wollte, konnte das vielleicht bei bei Mitsklaven oder
menschenfreundlichen Weißen tun, in jedem Falle musste es heimlich
sein, um keine Repressalien zu erleiden.
Die Sklavenhalter wussten wohl, warum sie ihren Sklaven das Lesen
verboten: "Führte das Lesenlernen die Sklaven auch nicht direkt in die
Freiheit, so eröffnete es ihnen doch den Zugang zu einem wichtigen
Machtinstrument ihrer Unterdrücker - dem Buch. Die Sklavenhalter fürchteten (wie
alle Potentaten, Diktatoren, Tyrannen, absolute Monarchen und andere Usurpatoren
der Macht) in hohem Maße die Macht des geschriebenen Wortes. Sie wussten, weit
besser als manche Leser: Lesen ist eine Kraft, wer nur ein paar Worte
lesen lernt, der kann bald alle Worte lesen und, schlimmer noch, über diese
Worte nachdenken und schließlich seine Gedanken in die Tat umsetzen. [...]
Die Diktatoren aller Epochen wussten und wissen, dass eine
analphabetische Masse am leichtesten zu lenken ist. Da die Fähigkeit des Lesens,
einmal erlernt, nicht rückgängig gemacht werden kann, bleibt ihnen als
zweitbeste Lösung die Eindämmung des Lesestoffs, Bücher werden von Diktatoren
gefürchtet wie keine andere menschliche Erfindung. Die absolute Macht duldet nur
eine offizielle Lesart; statt ganzer Bibliotheken widerstreitender Meinungen
soll nur das Wort des Herrschers gelten. [...] Der Macht folgt daher, in welcher
Gestalt auch immer, die Zensur auf dem Fuße, und die Geschichte des Lesens wird
begleitet von der schier endlosen Geschichte der Bücherverbrennungen, von den
ersten Papierrollen bis zu den Büchern unserer Zeit. [...] Die Bücherverbrenner
erliegen der Illusion, dass sie mit ihrem Tun die Geschichte abschaffen und die
Vergangenheit auslöschen können. [...]
Autoritäre Leser, die anderen das Lesenlernen verbieten;
fanatisierte Leser, die darüber befinden, was man lesen darf und was
nicht; stoische Leser, die sich die Lesefreude versagen und nur
Tatsachendarstellungen dulden, die sie selbst für wahr halten - sie alle
versuchen, die vielfältigen Potenzen, die das Lesen verleiht,
einzudämmen und zu ersticken. Aber Zensoren können auch anders gegen die
Literatur vorgehen, ohne Scheiterhaufen und ohne Gerichtsurteile. Sie
können Bücher uminterpretieren und sie damit ihren eigenen Zwecken
dienstbar machen." (ebd.)
Abb.: Lesende Sklavin 1856 in Aiken, South Carolina, Ausschnitt
aus "Aunt Betsy's cabin in Aiken, South Carolina, wahrscheinlich fotografiert
von J.A.Palmer 1876, Collection of the New York Historical Society