Auch wenn unser Wissen mithin alles, was mit dem
▪
Gedächtnis zu tun hat, unser Handeln bestimmt, befassen
wir uns vergleichweise selten mit grundsätzlichen Fragen über unser
Wissen. Tun wir es, hängt es oft mit Erfahrungen zusammen, die wir
beim Lernen und Erinnern machen: Die Vokabeln wollen einfach nicht
in den Kopf, der Name der neuen oder sogar schon seit längerem
bekannten Mitarbeiterin ist schon wieder "weg".
Nicht dass wir, um solche Alltagsprobleme zu bewältigen, stets
darangingen, uns Gedanken über das Denken zu machen. Was wir über
das Denken denken, tragen wir mit uns und brauchen es uns auch nicht
jedes Mal wieder in Erinnerung rufen. Dazu sind solche Erfahrungen,
wie sie gerade beschrieben wurden, zu alltäglich. Allenfalls im
höheren Alter, wenn man beginnt, sich bei solchen Dingen Gedanken
darüber zu machen, ob das Ganze mit einem alters- oder
krankheitsbedingten Verlust des eigenen "Verstandes" bzw.
Gedächtnisses zu tun haben könnte, kann man den Fragen darüber nicht
mehr ausweichen.
Was wissen wir und woher haben wir unser Wissen? Warum vergessen wir
manchmal etwas, was wir einmal ganz genau gewusst haben? – Viele
solcher Fragen, die sich leicht zu einer Kaskade weiterer Fragen
entwickeln ließe, kommen
einem in den Sinn, wenn
man sich mit Fragen
unseres Denkens, Vorstellungsvermögens, unserer Erinnerung und
Wahrnehmung befasst.
Und im Alltag haben wir verschiedene Antworten
darauf, mit denen wir im Allgemeinen ganz gut zurechtkommen, auch
wenn unsere Alltagstheorien auch vieles
nicht beantworten können.
Was wir im Allgemeinen über unser Wissen
sagen, sind "Theorien", die wir uns aufgrund unserer Erfahrungen
zurechtlegen. Meistens hängen diese Alltagstheorien unmittelbar mit
Lernerfahrungen zusammen und korrespondieren damit stets auch mit
den ▪ Alltagstheorien,
die wir über unser Gedächtnis haben.
Dass dabei im Übrigen ehemals mit wissenschaftlichen Ansprüchen
vorgetragene Theorien heute nicht einmal mehr als Alltagstheorien
taugen, zeigt die nebenstehende Darstellung der Schädellehre, die
von dem Arzt und Anatomen
Franz
Joseph Gall (1758-1828) begründet wurde, und von der Annahme
ausging, dass sich geistige Zustände und und Eigenschaften klar
abgegrenzten Hirnarealen zuordnen lassen. Und doch steckt selbst
hinter dieser Theorie, wenngleich unter ganz anderen Voraussetzungen
und mit ganz anderen Zielsetzungen, ein Fünkchen Wahrheit: Denn
gerade die modernen Neurowissenschaften gäben alles dafür, könnten
sie schon mit allen Techniken, die ihnen heute zur Verfügung stehen,
die Cortexareale des Gehirns in einer im weitesten Sinne ähnlichen
Art und Weise "kartieren".
Im Allgemeinen kommen wir also mit unseren Alltagstheorien ganz
gut zurecht und die Menschheit hat in ihrer wechselvollen Geschichte
schon vor dem naturwissenschaftlichen Zeitalter, lange bevor die
Neurowissenschaften und die Hirnforschung sowie die empirische ▪
Kognitionspsychologie in aller Munde waren,
ihr individuelles, gesellschaftliches und kulturelles Handeln von dem
leiten lassen, was sie über die Welt "gedacht" hat.
Dass uns, was in
unserem "Kopf" vorgeht, manchmal in Verwunderung versetzt, wenn uns
unser Gedächtnis wieder einmal ein Schnippchen schlägt, ist eine
Erfahrung, die wir alle immer wieder machen. Aus solchen Erfahrungen
ziehen wir gewöhnlich unsere Schlüsse, darüber, wie (unser) Denken
unserer Erfahrung nach funktioniert. Da reicht es schon, wenn wir
uns einfach nicht
erklären können, warum wir, wie schon eingangs erwähnt, den Namen einer bestimmten Person, die wir
schon lange kennen, immer wieder vergessen. Das kann in einer bestimmten
sozialen Situation sehr unangenehm sein, hat im Allgemeinen aber wohl
keine großen Auswirkungen auf unser Handeln. Das kann man natürlich
nicht bei allem sagen, was wir vergessen.
Sehen wir einfach mal ganz weit zurück:
Hätte sich ein
früher »Homo sapiens
nicht daran erinnern können, dass ein »Säbelzahntiger
ein sehr gefährliches Tier gewesen ist, dann hätte er das wohl mit dem
Leben bezahlen müssen. Für diese Jäger und Sammler war es von
existenzieller Bedeutung, "sich an die Formen, Eigenschaften und
Verhaltensweisen von Tausenden Tier- und Pflanzenarten zu erinnern.
Sie mussten zum Beispiel wissen, dass ein runzliger, gelber Pilz,
der im Frühherbst unter einer Ulme wächst, mit ziemlicher
Wahrscheinlichkeit giftig ist, während ein ganz ähnlicher Pilz, der
im Spätherbst unter einer Eiche wächst, vermutlich genießbar ist." (Harari
352015, S.154) Dazu musste er sich unter dem enormen
Selektionsdruck, unter dem sein Leben gestanden hat. auch viele
weitere topographische und soziale Einzelheiten merken, um sein
eigenes und das Überleben seiner jeweiligen Gruppe zu sichern.
Vielleicht waren es jedenfalls die Anforderungen, die aus dem
steigenden Datenaufkommen der landwirtschaftlichen Revolution im
Verhältnis zu den bis dahin entwickelten Fähigkeiten des kognitiven
Systems der Spezies, die "irgendwann ein unbekanntes Genie" in der
Hochkultur der »Sumerer
vor ca. 3500 Jahren in den Flusstälern »Mesopotamiens auf die Idee brachte, "ein System zur Speicherung und Verarbeitung
von Information, das vom Gehirn unabhängig war", zu entwickeln: Die
▪ Schrift. Mit
ihr nämlich "sprengten die Sumerer die physischen Fesseln des
Gehirns und machten den Weg frei für die Entstehung von Städten,
Königreichen und Imperien"
(ebd.,
S.156), wie jedenfalls der israelische Historiker »Yuval
Noah Harari (geb. 1976) in Form seiner typischen,
oft auch etwas "steilen" »universalgeschichtlichen
Thesen meint.
Nicht dass es wir heutigen Homo sapiens grundsätzlich leichter
haben. In unserer »Wissensgesellschaft
zurechtzukommen, verlangt andere, nicht minder wichtige Kompetenzen.
Der uralte Streit über
das Verhältnis von Köper und Geist in den Alltagstheorien über das
Denken
In
der Kulturgeschichte der Menschheit haben Fragen, die damit
zusammenhängen, wie sich das Verhältnis von Körper und Geist oder »Leib
und Seele gestaltet, immer wieder kontroverse Ansichten
hervorgebracht, die sich durch die »Geistesgeschichte
bzw. Ideengeschichte im Allgemeinen und besonders durch die
Geschichte der »Philosophie
und Theologie ziehen. Sie hier nachzeichnen zu wollen, sprengte
natürlich den Rahmen und ist auch nicht das, was im Vordergrund
stehen sollen, wenn wir hier von Alltagstheorien über das Denken
sprechen. Und dementsprechend soll hier auch nicht der Versuch
unternommen werden, den sozialgeschichtlichen und
mentalitätsgeschichtlichen Niederschlag dieser Theorien im
Bewusstsein und im Handeln von Menschen zu untersuchen.
Stattdessen kommen
hier nur einzelne Facetten zur Sprache, die heutige Alltagstheorien
zum Denken und dem Gedächtnis in unterschiedlichem Maße prägen.
Eines ist dabei allerdings sicher: Auch diese Alltagstheorien sind
einem steten Wandel unterworfen, an jeder von ihnen, nagt in
irgendeiner Weise der Zahn der Zeit. Diese grundsätzliche
Historizität solcher "Theorien", ergänzt um ihre kulturelle Prägung,
teilen die Alltagstheorien auch mit den komplexen Theoriegebilden
der Ideengeschichte.
Ganzheitliches Denken
im Alltag
Ganzheitlichkeit ist ein Schlagwort, dem man heute in vielen
Zusammenhängen immer wieder hört. Dahinter steht auch eine immer
Vorstellungen über das Verhältnis von Körper und Geist bzw. Seele.
Unser Verstand soll danach nicht isoliert vom Köper bzw. seelischen
und emotionalen Prozessen gesehen werden. Statt eines rigiden
Dualismus von Rationalität und Emotionalität tritt eine Vorstellung,
die beide Bereiche als Ganzes und mit vielfältigen Wechselwirkungen
aufeinander betrachtet. Im Alltagshandeln dürfte dies in der Regel
eher eine Einstellung, als eine "Theorie" über das Denken als
solches sein. Allerdings wird es auch oft mit dem der Vorstellung
von alternativem Denken konnotiert, wobei dieses eine Vielzahl von
Bedeutungsvarianten zulässt. So bleibt der Begriff von
Ganzheitlichkeit im Alltag also mehr als vage und bewegt sich oft
zwischen romantischen Zurück-zur-Natur-Vorstellungen bis hin zu
esoterischen Konzepten. Was davon für das Alltagshandeln als
Desiderat aus all den verschiedenen Konzepten von Ganzheitlichkeit
übrigbleibt, kann und soll hier jedenfalls nicht erörtert werden.
Die Muskeltheorie des
Denkens und Lernens
Wer sich heute das große Angebot von Selbsthilfeprogrammen oder
Kursen ansieht, das unter bunten Überschriften wie z. B.
Gehirnjogging, Braingymnastik um Marktanteile ringt, wer
im Rahmen seiner Rezeption von Quizzformaten vor seinem
Fernsehgerät immer wieder mitmacht, im Internet sich Quizzduellen
aller Art stellt und dazu noch Präparate mit zweifelhafter Wirkung
als Brainenergizer zu sich nimmt, der hat in der Regel auch
Vorstellungen darüber, wie das
Gehirntraining bei dieser oder jener Form von »Denksport
funktioniert.
Das Gehirn, das dazu gebraucht wird, wird dabei so etwas wie ein
Gehirnmuskel. Diesen kann man mit bestimmten Übungen und auch
mit "Denk-Anabolika" so zum "Wachsen" bringen, auch wenn man weiß,
dass der Muskel dabei natürlich nicht an Volumen gewinnt, der Kopf
also nicht davon größer wird. Das Gehirn wächst, bei einem
erwachsenen Menschen nicht mehr, sondern besitzt lebenslang nur über
Plastizität, also die Fähigkeit zum weiteren Ausbau neuronaler
Strukturen. Trotzdem: Hinter der Vorstellung vom "Super-Hirn" steht
zumindest die Vorstellung, das das Feuerwerk von Neuronenentladungen
durch entsprechendes Muskel-, sprich Gehirntraining beträchtlich
gesteigert werden kann.
Die Vorstellung vom trainierbaren Gehirnmuskel hat natürlich eine
lange historische und auch kulturelle Tradition und man kann ihr
auch, jedenfalls unter bestimmten Bedingungen, durchaus eine gewisse
Plausibilität zubilligen, ohne damit das Gesicht zu verlieren.
Was uns die Werbung für Brainprodukte allerdings ständig einredet
und Quizzformate in den Medien immer wieder bestätigen, ist zunächst
vielleicht nicht mehr als die zur Ware gewordene Vorstellung, die in
der Redensart
"Übung macht den Meister" zum Ausdruck kommt.
Dass sich die Muskeltheorie aber trotz zahlreicher neuer und auf
vielen Kanälen kommunizierten Erkenntnissen über das Denken so
halten kann, hat aber nicht nur mit unserem kulturellen Gedächtnis
zu tun, sondern hat vor allem eine soziale Komponente. Ein
"Superhirn" hat, so lautet die Verheißung, alle Chancen, es besitzt
ein größeres soziales Kapital als die anderen "Kleingeister", auch
wenn dies zunächst nur einmal die vage Aussicht ist, sich mit einem
Dutzend wild durcheinander Fragen zum Millionär krönen zu lassen.
Gehirntraining als Mittel zur sozial wirksamen Selbstoptimierung ist
heute wohl die dem gesunden Menschenverstand am ehesten
einleuchtende Komponente der Muskeltheorie des Denkens und Lernens,
seitdem Drill und Unterwerfung in den Konzepten der repressiven ▪
Schwarzen Pädagogik
und die ▪
Trichtertheorien des Lernens an Boden verloren haben.
Zumindest zum Teil dürfte sich auch aus der populären Muskeltheorie
des Denkens erklären, weshalb Menschen mit außergewöhnlich guten
Gedächtnisleistungen in einem Bereich, unanhängig davon, ob dies auf
bestimmte körperliche bzw. kognitive Einschränkungen zurückzuführen
ist oder auf Hochbegabungen in einem bestimmten Gebiet, bei beidem
spricht man auch von ▪
Inselbegabungen, für uns so faszinierend sind, dass viele von
ihnen als Gedächtniskünstler
in Varietees und Shows auf der ganzen Welt ihr Publikum mit ihren
außergewöhnlichen Begabungen begeistert haben und immer noch
begeistern. Nur, was sie können, lässt sich eben nicht in Form eines
"Hirnmuskel-Sixpacks" vor sich hertragen oder mit einem einfachen
Maßband wie einen Bizeps nach dem Bodybuilding messen.
Wohlgemerkt: Dass die Übung bestimmter Gedächtnisinhalte die
Gedächtnisspuren, die alles Lernen in unserem kognitiven System
hinterlässt, die Stärke und Abrufbarkeit für das Wissen erhöht (vgl. Anderson
72013, S.127) soll damit allerdings in keiner Weise
in Frage gestellt werden.
Die Computer- bzw.
Festplattentheorie des Denkens, Lernens und Handelns
Neben der Muskeltheorie spielt im Rahmen der Alltagsvorstellungen,
die Menschen über das Denken, über das Lernen und das Vergessen
entwickeln, vor allem Vorstellungen eine Rolle, die auf Analogien
beruhen, die zwischen Computer und Gehirn bzw. den kognitiven
Prozessen, die darin stattfinden, gezogen werden. Als Metapher dient
sie im Gegensatz zu den auf Handeln ausgerichteten Konsequenzen der
Muskeltheorie vor allem dazu, die Funktionsweisen unseres kognitiven
Apparates, die wir ja selbst nicht selbst beobachten können (keine
Introspektion ist dafür möglich), im Vergleich mit etwas, das wir
auch als Laien bis zu einem gewissen Grad beobachten und verstehen
können, mit hard- und softwarebestimmten Prozessen zu vergleichen.
Das Gehirn als Computer ist dabei kein Muskelprotz, sondern viel
eher eine Maschine, die vieles kann und manches sogar besser kann,
als unser Gehirn, auch wenn sie diesem im Ganzen betrachtet
hoffnungslos unterlegen ist. Das bedeutet indessen aber nicht, dass
sie nicht vieles gemeinsam haben. Allerdings hat die
alltagssprachliche Verwendung der Computer-Metapher zur Erklärung
unseres Denkens in unserem Alltag nicht viel mit dem
wissenschaftlichen Konzept des sogenannten
computational-repräsentativen Verständnis des Geistes zu tun. Dieser
Forschungsansatz der Kognitionswissenschaft, hat über die "Analogie
zwischen Denken und Computation (...) eine komplexe
Darstellung des Geistes hervorgebracht" (Thagard
1999, S.231): "Als die Forscher den Geist als eine Art Computer
begriffen und Überlegungen angestellt haben wie er programmiert
werden könnte, versetzten sie sich in die Lage, weit präzisere und
detailliertere Darstellungen mentaler Operationen zu erstellen, als
es mit jedem anderen theoretischen Ansatz bislang möglich war." (ebd.)
Und außerdem konnten computationale Hypothesen auch so präzise
formuliert werden, dass sie programmierbar waren, und getestet
werden konnten, "indem man Simulationen laufen lässt, deren
Leistungsvermögen mit dem von Menschen verglichen werden kann."
(ebd., S.232)
Soweit an dieser Stelle zu den durchaus interessanten
informationstheoretischen und mathematischen Ansätzen.
Wenn wir im Alltag mit der Computer-Metapher umgehen, hat das also
mit diesen hoch formalisierten Ansätzen wenig zu tun. Uns reicht
gewöhnlich, wenn wir damit elementare Vorgänge beim Denken, Erinnern
und Vergessen beschreiben können. So kommt ein Kind mit einer
gänzlich unbeschriebenen Festplatte zur Welt, der Arbeitsspeicher
(RAM), der immer begrenzt ist, gibt uns eine Vorstellung von unserem
Kurzeit- bzw. Arbeitsgedächtnis, die Festplatte und die Art, wie sie
Dateien in verschiedenen freien Clustern einer Harddisk getrennt
voneinander ablegt und sie beim Abruf wieder zusammensetzt und
vieles mehr, bieten sich als Analogien zu unserem Denken gerade zu
an, wenngleich diese eben doch sehr mechanistisch bleiben und deren
Grenzen immer dann sichtbar werden, wenn man mit solchen Vergleichen
kompliziertere Denkvorgänge oder auch die Bedeutung von Emotionen
erklären will.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
14.03.2023
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