Naturmagie und Bibel als Antwort auf
Antisemitismus?
Gert Egle (2014)
Elisabeth
Langgässers Kurzgeschichte "Saisonbeginn"
gehörte lange Zeit zu den Vertretern der Textsorte, die Eingang in die
Lese- und Schulbücher gefunden haben. Heute hat die Geschichte meistens
anderen Platz gemacht. »Elisabeth
Langgässer (1899-1950), die, kurz vor der Jahrhundertwende geboren,
noch im Kaiserreich aufwuchs, wurde katholisch erzogen. Ihr Vater
Edouard war Architekt und Jude, ihre Mutter Eugenie, Katholikin. Aus
ihrer Beziehung mit dem jüdischen Staatsrechtler »Hermann
Heller (1891-1933) geht im Jahre 1929 ihre Tochter »Cordelia
(Edvardson) (1929-2012) hervor. Bis zur
Machtübernahme
durch die Nationalsozialisten in Deutschland arbeitete
Langgässer als Volksschullehrerin und freie Schriftstellerin und wurde
für ihre Arbeit mit dem Literaturpreis des deutschen
Staatsbürgerinnenverbandes geehrt. Seit 1929 in Berlin zu Hause macht
ihr die drohende "Machtergreifung", wie auch so manchen oft voll
assimilierten Juden offenbar wenig Sorgen, dass sie offenbar bei den
unter NS-Terror stehenden Märzwahlen des Jahres 1933 sogar für Hitler
und seine NSDAP votiert. (vgl.
Klee 2007, S.
353, zit. bei
Wikipedia, 24.2.2014)
Bis die Rassegesetze, die »Nürnberger
Gesetze, 1935 in Kraft traten, konnte Langgässer, die im Juli des
gleichen Jahres den Redakteur Wilhelm Hoffmann heiratete,
vergleichsweise unbehelligt als Schriftstellerin arbeiten. Ihr Mann
freilich wurde, da er sich mit Elisabeth Langgässer, einer nun zur »"Halbjüdin"
diskriminierten Frau verheiratet hatte, entlassen. (vgl.
ebd.) Im Mai
des darauffolgenden Jahres wird Elisabeth Langgässer als "Halbjüdin" aus
der »Reichsschrifttumskammer
ausgeschlossen. Fortan sind ihr damit weitere Veröffentlichungen
verboten. Trotzdem veröffentlicht sie, gerade noch bevor 1938 die Nazis
»Österreich
dem Deutschen Reich einverleibten, dort weitere Schriften.
Insbesondere auch ihr an den Reichspropagandaminister Goebbels
gerichtetes Bittschreiben, das sie "mit deutschem Gruß" unterzeichnet
hat (vgl. Wassermann
1997), bringt ihr später heftige Kritik ein. Der von ihr danach
vollzogene, sehr "kontrovers diskutierte" Rückzug in "Innere Emigration"
(ebd.),
in der sie heimlich an ihrem wohl bedeutendsten Roman "Das
unauslöschliche Siegel" arbeitete, hat, so sehen es ihre schärfsten
Kritiker, "aus einem Opfer des nationalsozialistischen Regimes [...]
eine Unterlassungstäterin" gemacht.(ebd.)
So habe sie "mit einem 'Schutz-Arier'" drei weitere Töchter bekommen,
habe aber beim Schutz ihrer jetzt als "Dreivierteljüdin" eingestuften
Tochter Cordelia versagt. So verpasste sie offenbar, ihre Tochter, die
ab 1941 mit dem Judenstern stigmatisiert wurde, rechtzeitig zu Freunden
ins Ausland zu bringen. Vielleicht auch geschwächt vom Ausbruch der
Multiplen Sklerose, die Elisabeth Langgässer im Januar 1942 erleiden
musste, aber wohl auch, weil "Cordelia ihrerseits akzeptierte als
liebende, sich opfernde (?) Tochter, das Behandeltwerden nach den Kriterien der
'Nürnberger
Rassegesetzen'" erduldete, "um ihre Mutter vor der Anklage wegen
Hochverrats zu schützen" (ebd.),
stand die Mutter den Entwicklungen weitgehend gelähmt gegenüber. Zwar
hatte sie noch bewirkt, dass Cordelia im Januar von einem spanischen
Ehepaar adoptiert wurde und damit die spanische Staatsangehörigkeit
erhielt, aber schon im Juli musste Cordelia (jetzt: Cordelia
Garcia-Scouvart), weil die »Gestapo
drohte, gegen ihre Mutter wegen Hochverrats vorzugehen, die doppelte
Staatsbürgerschaft annehmen. Damit war sie erneut den Rassegesetzen der
Nazis unterworfen. Mit vierzehn Jahren wurde Cordelia im März 1944 erst
in das »Konzentrationslager
deportiert, erst nach »Theresienstadt
und später nach »Auschwitz
deportiert. Cordelia überlebt Auschwitz und wird nach der Befreiung mit
einem »"Weißen
Bus" nach Schweden gebracht. Ihre Mutter sieht sie erst im vier
Jahre danach, im Jahr 1949, kurz bevor diese ihrer Krankheit erliegt
wieder. Elisabeth Langgässer hat, nachdem sie erst nach Kriegsende 1945
vom Überleben ihrer Tochter Cordelia erfahren hat, ihre Tochter, die
nicht mehr nach Deutschland zurückkehrte, offenbar "zur Märtyrerin
stilisiert" (ebd.).
Und, was Wassermann
(1997) geradezu empört, ist die Tatsache, dass sie "das Schicksal
ihrer Tochter zu vermarkten, um sich als Schriftstellerin zu
rehabilitieren." Ihre Tochter Cordelia Edvardson jedenfalls hat später
mit dem Verhalten ihrer Mutter auch literarisch abgerechnet. In ihrem
Roman "Gebranntes Kind sucht das Feuer" (1986) hat sie ihre Geschichte
und ihre Erfahrungen in den KZ's ebenso wie die "Konflikte mit ihrer
herrschsüchtigen Mutter" (Flasch
1999) beschrieben und aufgearbeitet. In diesem Roman zeichnet sie
"das Bild der Mutter mit unterkühltem Blick; sie beschuldigt die Mutter
des schlimmsten Vergehens, dessen man Langgässer beschuldigen konnte, nämlich der
Schönfärberei angesichts der Deportation der Tochter. Cordelia Edvardson
erzählt aus der Perspektive des Mädchens, das sich von der Mutter
verlassen sah; ihr Buch wurde alles andere als eine Sympathiewerbung für
die Dichterin."
Richtet man den Blick, hier vorläufig abschließend, auf Elisabeth
Langgässer, dann wird man, insbesondere als Nachgeborener, zu besonderer
Sorgfalt und Umsicht verpflichtet sein. So bleibt sicherlich zu
konstatieren, was
Wassermann
(1997) betont, dass das Schicksal der Dichterin "von einer äußeren
und inneren Lähmung" gekennzeichnet gewesen ist: "Die äußere wurde durch
ihre mit zunehmenden Alter fortschreitende Krankheit bedingt, die innere
vor allem durch den übersteigerten Katholizismus der 'Halbjüdin'". Und
natürlich stand sie, da ist ihm weiter beizupflichten, mit ihrer
Leugnung von Schuld nach dem Krieg in Deutschland keineswegs allein.
Und: "Das Schicksal der Elisabeth Langgässer zeigt außerdem, wie problematisch
eindeutige Schuldzuweisungen sein können, wenn aus Opfern Täter werden."
(ebd.)
Aber selbst wenn man einräumt, dass Elisabeth Langgässer eben auch ein
"Opfer realer Gewalt (war)" (Flasch
1999) und "in einer moralisch-psychologischen
Extremsituation" (ebd.)
gelebt hat, war sie, wie ihre Tochter Cordelia einmal bemerkt hat, eben
auch "Schöpferin und Opfer ihrer Mythen". (zit. n.
ebd.)
Zu diesen Mythen im engeren Sinne gehören wohl auch die
antiaufklärerisch-mystischen Vorstellungen zwischen "Naturkult" (Flick
1998) und ihrem "übersteigerten Katholizismus" (Wassermann
1997), die
sie wohl das Leben als reines Schicksal aufzufassen veranlasst hat.
Dabei entsprang wohl gerade letzterer auch aus der gleichen
problematischen Quelle, nämlich ihrem "unbedingten Assimilationswillen"
(ebd.),
der "zu folgenschweren Entscheidungen für die eigene Biographie und das
Leben ihrer Tochter" (ebd.)
geführt hätten. Der Naturkult, der für Elisabeth Langgässer offenbar
"Quelle des Schreckens und der Faszination" (Flick
1998) gewesen ist, mag hinter allem einer der maßgeblichen
Triebkräfte gewesen sein, der, indem er sich "mit solcher Vehemenz gegen
die Aufklärung sperrte" (ebd.),
auch ihre eigenen psychischen Kontrollinstanzen schwächte, mit deren
Hilfe sie besser hätte verhindern können, "ihre mythische Phantasie mit
der Wirklichkeit zu verwechseln." (ebd.)
Ohne diesen Gedanken hier weiter ausführen zu können, in ihren Werken
verknüpfte sie, so Kurt
Flasch (1999)
"Sakramenten- und Naturmagie" und "webte (...)
religiös-liturgische Motive" in die in ihren Werken zum Ausdruck
kommende Naturerfahrung ein. Dass daraus, wie Flasch weiter meint,
Schwierigkeiten für den Leser ihrer Werke entstehen, denen der nötige
Hintergrund zur (Re-)Kontextualisierung fehlt, ist insbesondere bei den
Schwierigkeiten im Umgang mit "biblischen Anklänge und die liturgischen
Muster(n) [...] als Teil ihrer Naturerfahrung"
(ebd.) in den
Werken der Dichterin zu bemerken. Hier scheint der für ein
kontextualisiertes Verstehen nötige "kulturelle Hintergrund" heutzutage
wirklich "weggebrochen" zu sein.
(ebd.) Und
dazu gehört sicher auch die Tatsache, dass auch heutige Leser für ein
Werk noch viel weniger Verständnis aufbringen können, "das »als Gericht,
als Bußpredigt und als Läuterung« konzipiert war." (Bahr
1977)
Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Literaturdidaktik sich der
Aufgabe verschließen kann, auch z. B. die Kurzgeschichte "Saisonbeginn"
so zu rekontextualisieren, dass ein vertieftes Verständnis des Textes
möglich wird. Insofern geht auch Bernd
Seilers (1982,
S. 25f.) Kritik im Grundsätzlichen fehl, wenn er festhält, dass ein Text
wie "Saisonbeginn" häufig nur noch im Lektürekanon mitgeschleppt werde,
obwohl er seine appellative Kraft längst eingebüßt habe. Denn: ""Alles, was sie in der Konfrontierung der
normal-christlichen Alltagswirklichkeit mit dem untergründig Bösen, der
Erklärung, Juden seien hier unerwünscht, an Betroffenheit bei den
ursprünglich Betroffenen einmal ausgelöst haben mag - auf Jugendliche
von heute, denen die Judenverfolgung insgesamt eine historisch
'gesicherte' Tatsache von ähnlicher Bedeutung ist wie die
Christenverfolgung im alten Rom oder die Hugenottenverfolgung in
Frankreich, macht die symbolisch vermittelte Anklage dieses Textes kaum
mehr einen Eindruck." Dies lasse sich leicht an Schüleraufsätzen zeigen,
die deutlich machten, dass Schülerinnen und Schüler "mitunter nicht
einmal mehr die Pointe - also die Aufstellung eines Schildes gegen Juden
unmittelbar neben einem Kruzifix" verstünden. Stattdessen würden sie den
Sinn des Textes darin suchen, "dass unsere schönen Landschaften heute
(!) immer mehr mit Verbotsschildern verunstaltet werden." Die Abweisung
der Juden auf dem Schild könne eben keine Betroffenheit mehr herstellen.
So zieht Seiler am Ende den Schluss, dass die Kurzgeschichte Langgässer
eben das Schicksal auch anderer Werke ereilt habe: Sie sei schlicht
veraltet.
Der Text, der ursprünglich unter dem Titel "Das Straßenschild"
erschienen ist, empfing erst mit dem Erscheinen der Buchausgabe den
Titel "Saisonbeginn". Damit wird die Rezeption des Textes durch den
Leser in unterschiedlicher Art und Weise gesteuert. Während nämlich der
erste Titel schon sogleich auf die pointierte und überraschende Wendung
am Schluss verweist, durch den das ganze vorangehende Geschehen in einem
neuen Licht erscheint", betont der zweite " den Rahmen, innerhalb dessen
sich, den Beteiligten anscheinend unbewusst, etwas Grauenhaftes
vollzieht." (Maassen 1973,
S.92) Und erst "in dem ernüchternd banalen Schlusssatz", betont
Lehmann (1966,
S.93), "löst sich der Knoten", "(entschlüsselt sich) das chiffrierte Geschehen
(...) eine(r) Tragödie von namenlosem Ausmaß".
Die schon erwähnte mystische Naturerfahrung, die Langgässer ein Leben
lang prägte, findet sich in der Beschreibung der Natur, die dem
eigentlichen Geschehen vorangestellt ist. Sie zeichnet dabei "ein deftiges Bild eines sich üppig verschwendenden, saft - und
kraftstrotzenden Frühlingstages in einem almenumgebenden Passörtchen".
(ebd., S.
92) Das Bild, das der Erzähler bietet, zeigt die erwachende Natur an
einem »Spätfrühlingstag« nach dem Winter, die "alle Register gezogen
(hat), um mit vollem Werk ihre brausende Frühlingstoccata zu
spielen." Was geschildert wird, sind Wiesen, die »wieder in Saft und
Kraft standen« Löwenzahn, der strotzte und (...) sein Haupt (blähte)
über den milchigen Stengeln«. Und von der »Wucherblume« heißt es, dass
sie »(sich) verschwendete«. Dabei wird die dargestellte Natur nicht nur
in ihrem Sein beschrieben, sondern als Gegenstand einer Naturerfahrung
präsentiert, die das Bild einer "heilen" Natur bricht. Wenn von
»Trollblumen« die Rede ist, »welche wie eingefettet mit gelber Sahne
waren« und »vor Glück platzten« und »strahlende Tümpel« den »Himmel von
unwahrscheinlichem Blau« widerspiegeln, dann wirkt das eingangs
evozierte Bild eines idyllischen Spätfrühlingstages nach und nach
schief. Dass die Natur ohnehin nicht zum "beglückenden Selbstgenuss" (ebd.,
S. 92) da ist, wird schnell deutlich, wenn man sie in Beziehung zum dem
geschäftigen Treiben setzt, das im Ort offenbar schon vor ein Weile
eingesetzt hat, um die kommende Urlaubs- bzw. Fremdensaison
vorzubereiten. Da wirken die »Häuser und Gasthöfe« mit ihren frisch
gestrichenen Fensterläden, ihren ausgebesserten Fensterläden und
ergänzten Scherenzäunen »wie neu«, hergerichtet "wie zu einem letzten
Musterungsappell dem bevorstehenden Ereignis dem alles entgegenfiebert"
(ebd.),
wenn, wie der Erzähler es auf den Punkt bringt, mit dem Saisonbeginn
»das Geld (...) anrollen« wird. Was diese
Personifikation
so treffend zum Ausdruck bringt, ist das, worum es hier am Ort des
Geschehens wirklich geht und dem auch die Schilderung der Natur in ihrer
überzogen wirkenden Bildsprache untergeordnet zu sein scheint. Alles
steht bereit und verbreitet durch die hart am Bildbruch (Katachrese)
entlangführende Schilderung der Natur einen zumindest ambivalenten
Eindruck, wenn erzählt wird, dass der ganze Ort auf »die Fremden, die
Sommergäste,(...) die Lehrerinnen, die mutigen Sachsen, die
Kinderreichen, die Alpinisten, aber vor allem die Autobesitzer in ihren
großen Wagen…Ford und Mercedes, Fiat und Opel, blitzend von Chrom und
Glas« wartet, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Und so
"wetteifern die pedantisch auf äußere Sauberkeit und bürgerliche
Ordentlichkeit bedachten Einheimischen"
(ebd.)
geradezu mit der Natur um die gebührende Aufmerksamkeit. Dabei bleiben
die Akteure der Erzählung weitgehend gesichtslos, weisen "keinerlei
individuelle Prägung"
(ebd.) und
werden damit zu "typischen Vertreter(n) jenes dumpf verspießerten
Kleinbürgertums, das - soziologisch gesehen - die eigentlich tragende
Schicht des NS-Systems abgab."
(ebd.) Die
drei Arbeiter, die ebenfalls nur im Kollektiv agieren, sind gerade dabei
einen geeigneten Platz für ein auf einem Holzpfosten zu montierende
Schild zu suchen, das sich zunächst wie die anderen Schilder, von denen
es heißt, daß das eine zum anderen komme, von den anderen schon
augestellten Schildern für »die Haarnadelkurve« mit »dem Totenkopf«, »Kilometerschilder(n)
und Schilder(n) für Fußgänger« (»Zwei Minuten zum Café Alpenrose«) nicht
zu unterscheiden scheint. Sie entschließen sich das Schild unmittelbar
bei einem Holzkreuz des gekreuzigten Jesus Christus aufzustellen, das
die bekannte Inschrift J. N. R. J. trägt, wie es Pilatus
seinerzeit für die Kreuzigung des Gottessohnes angeordnet hatte. Dabei
wird "stumpfsinnige Tun der Arbeiter"
(ebd.,
S.95), die pedantische Art und Weise, mit der sie über die Ausführung
ihres Auftrages beraten (»Nun beratschlagten die drei Männer, an welcher
Stelle die Inschrift des Schildes am besten zur Geltung käme; sie sollte
für alle, welche das Dorf auf dem breiten Passweg betraten, besser:
befuhren, als Blickfang dienen und nicht zu verfehlen sein.«) und ihn
letztlich ausführen, "zu einer neuen, die Menschheit nicht weniger
beschämenden Kreuzigung, Ihr Gehaben, ihre Werkzeuge wandeln sich in
jene schauderhaften Vorgänge und Requisiten auf Golgotha, an die die
Menschen seither nur mit Abscheu zurückdachten. In ihrem blindergebenen
Diensteifer, ihrem Unvermögen oder ihrer Feigheit, zu einem eigenen
Urteil zu kommen, unterschieden sie sich kaum von den damaligen römischen
Knechten." (ebd.)
Hauptsache das Schild, so die erzählte personale Sicht der Männer und
des ganzen Dorfes, kann »als Blickfang dienen« und kann bei der Ankunft
im Ort nicht übersehen werden, damit es »gewissermaßen als Gruß, den die
Ortschaft jedem Fremden entgegenschickte«, Eindruck machen konnte. Für
Lehmann (1966,
S.93f.) besitzt das Schild selbst drei Bedeutungen: "Einmal ist es Kundgabe eines amtlichen Ge- oder Verbotes,
Stellvertreter also gleichsam der Hoheit. Daraus bestimmen sich auch die
Platzsorgen der Arbeiter. Sie nehmen sich und ihren (partei)amtlichen
Auftrag ungemein wichtig; [...] Zum andern steckt in dem Wort so etwas wie
Dokumentation, Zurschaustellung einer Meinung, Haltung, Richtung, Partei,
eines Inneren. In diesem Sinne des Aushängeschildes hat es gerade in
totalitären Staaten besondere Bedeutung, angefangen bei der Parteinadel
bis zum Transparent. Deswegen darf das Schild auch nicht zu weit vom
Ortsschild entfernt sein. [...] Auch die dritte Bedeutung des Wortes [...]
würde freilich die grausige Verzerrung der Wirklichkeit nur vollständig
machen: Schild als Schutz und Abwehr. Die satanische Verdrehung der
damaligen Propaganda versuchte ja gerade damit das Gewissen der Spießer
zu beruhigen." (S.93f.)
In der ihrer Beratung über den richtigen Standort des Schildes, rechts,
links von oder direkt vor dem Holzkreuz entscheiden sie die drei
Arbeiter zunächst für einen Platz unter einer »uralte(n) Buche", welche
sich allerdings schnell auch nicht als erste Wahl herausstellt, weil sie
»ihre Äste mit riesiger Spanne nach beiden Seiten wie eine Mantelmadonna
ihren Umhang entfaltete, die Inschrift im Sommer verdeckt und ihr
Schattenspiel deren Bedeutung verwischt, aber mindestens abgeschwächt
hätte.« Man bekommt den Eindruck, als hätten die Arbeiter "die
Unbekümmertheit der Natur nicht mit einkalkuliert, die, völlig
unbeteiligt an dem neuen Geist, nicht nur in alter Verschwendung blüht
und grünt wie eh und je, sondern auch ihren Schatten wirft, unberührt
von den neuen Bedürfnissen und Ambitionen dieser wie von einem Fieber
gepackten Menschen." (ebd.,
S.94) Der Vergleich mit einer Schutzmantelmadonna und die Tatsache, dass
der Platz, den die Arbeiter am Ende für das Schild wählen, sich rechts
vom Kreuz befindet, dort wo einer der Schächer bei der Kreuzigung
Christi auf dem Berg Golgotha ans Kreuz gebunden war, zeigt dazu, wie
biblische Anklänge und religiöse Motive, von denen schon eingangs die
Rede war, von Elisabeth Langgässer in ihre Geschichte eingewebt wurden.
Darüber gewinnt die Natur in Langässers Kurzgeschichte auch eine
mythologisch-religiöse und naturmagische Bedeutung. So fragt
Lehmann (1966,
S.95), ob es nicht scheine, also ob sich die uralte Buche selbst schäme,
wenn sie mit ihrer Baumkrone, einem Madonnenmantel vergleichbar,
wenigstens den Text des neuen Schildes im Sommer mit ihrem Schatten
verberge. Allerdings, so fügt er hinzu, könne die Natur zwar
menschliches Handeln und Tun mitunter hindern, verhindern könne sie es
allerdings nicht. Wie weit die Naturmagie reicht, wird denn auch an
weiteren menetekelartigen Naturereignissen sichtbar. Als der Pfosten
nämlich steht, und zwar so »kerzengerade«, wie es zu der "dumm-dreist
herausfordernden Kollektivhaltung jener Zeit" passe (ebd.),
»(glitt) die Nachmittagssonne (...) wie ein Finger über die zollgroßen
Buchstaben hin und fuhr jeden einzelnen langsam nach wie den Richtspruch
an einer Tafel…«.
So wird auch an dieser Stelle deutlich, dass das
Motiv
des Kreuzes und das Gegenmotiv des Schildes" etwas wie ein geheimes
Kräftefeld" (ebd.,
S.93) aufbauen, das dem Leser geradezu sinnlich spüren lasse, "wie aus
dem scheinbar so wehrlosen Ding (Schild) in der bloßen Gegenüberstellung
mit dem anderen (Kreuz) ein hochbedeutsames, [...] immer geheimnisvoller
sich verschließendes Zeichen mit Chiffrencharakter wird." (ebd.,)
Dementsprechend sind es auch nicht die Menschen, die an dem Sinn und den
Absichten des Schildtextes zweifeln oder sich gar dagegen aussprechen.
Stattdessen bleibt es dem sterbenden Jesus mit seinem »blassen,
blutüberronnenen Haupt« am Kreuz in den Augen des Erzählers selbst
überlassen, im eigenen Todeskampf zum Ausdruck zu bringen, dass ihn das,
was fortan »unerbittlich und dauerhaft wie sein Leiden« »schwarz auf
weiß« als Lettern auf dem Schild gegenüberstehe, ihn gleichfalls anging.
Dies steht wiederum ganz im Gegensatz zu allen in der Geschichte
auftretenden Figuren. Sie können, wie die spielenden Kinder nicht
verstehen, was sich da ereignet, zwei Nonnen, die den Eindruck
hinterlassen, als ob sie den Kontrast zwischen dem Schild und dem Kreuz
wenigstens wahrnehmen, wirken zwar verunsichert, gehen aber dann ihres
Weges und die von den Männern, »die von der Holzarbeit oder vom Acker
kamen« »lachten« die einen, während die anderen »nur «wortlos »den Kopf
(schüttelten)«. Ignoranz, Opportunismus und u. U. auch Feigheit
bestimmte, dass die große Mehrheit von allem »unberührt (blieb)« und
sich in dieser Angelegenheit weder um das Hier und Jetzt noch die
Zukunft kümmerte. In diesem Ort herrscht, so betont
Lehmann (1966,
S.96f.) völlig zu Recht, hat der pure "Untertanengeist" längst Einzug
gefunden. Dabei kommt er in Gestalt einer naiven Einfältigkeit daher.
Was die Bewohner des Dorfes als willige Erfüllungsgehilfen einer
antisemitischen Politik tun, in der Konsequenz mehr als nur sich
wegzuducken. Mit ihrer Haltung werden sie "Spießgesellen des
Verbrechens" (ebd.),
"haben in der Gleichschaltungsmechanik ihr Gesicht längst verloren" (ebd.)
und werden als Kollektiv zu Mittätern mit einer eigenen Schuld an dem,
was sich aus dem Ganzen entwickelt, das mit dem Schild "In diesem Kurort
sind Juden unerwünscht" erst eingeläutet wird. Ob die dem Text
innewohnende die Hoffnung auf Gott, "der zwar von den Gewalten geleugnet
und in Frage gestellt wird, aber dennoch existiert und sich in den
Gegenkräften des Himmels vernehmbar macht" (ebd.)
, kann aber wohl auch als nachträgliche Legitimation eigener
Untätigkeiten und der "inneren Emigration" Elisabeth Langgässers
angesehen werden. So taugt denn auch Elisabeth Langgässer wohl kaum
dafür, ihr, wie es
Bahr (1977) tut, ein "unbestechliches Gefühl für das Problem der
Schuld" zu bescheinigen, die es ihr erlaubt habe, die Verdrängungstaktik
der Deutschen aufzudecken "und das Böse, das im Dritten Reich verkörpert
wurde, nicht als Popanz, sondern als Eigenwirklichkeit" darzustellen.
Was man immer als zentrale Aussage der Kurzgeschichte identifizieren
mag, scheint der Text doch "mehr als alles andere ein furioser Angriff
gegen die bürgerliche Religiosität" (Maassen 1973,
S.92) zu sein, denn diese "bedenkt nicht, dass das
judenfeindliche Schild auch den trifft, »welcher bisher von den
Leuten als einer der ihren betrachtet und wohl gelitten war.«" (ebd.)
Für Langgässer habe, so führt
Maassen (1973,
S.94) aus, "ein kausaler Zusammenhang [...] zwischen
Unmenschlichkeit und einem verbürgerlichten Christentum" bestanden.
Denn, "wo das Christentum zu einer leeren Formel geworden ist, dort hat,
so findet sie, die Unmenschlichkeit eine Chance. Der verstümmelte Mensch
kennt nur ein amputiertes Christentum. Leben und Sterben Christi [...]
sind ihm keine lebende Wirklichkeit. In den leeren Herzen nistet sich
unbemerkt das Böse ein.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
03.04.2024