▪ Leitfragen zur Analyse der
Zeitgestaltung in einer Erzählung
Zeitdimensionen des Erzähltextes
Mit dem Begriff der
Erzählzeit (= Diskurszeit, discourse-time,
temps de lecture) bezeichnet man jenen
Zeitraum, den man benötigt, um eine Geschichte zu erzählen bzw. zu lesen.
Als synonyme Begriffe werden dafür auch Begriffe wie Lesezeit, Vorlesezeit
oder Textzeit verwendet. Damit unterscheidet sich der Begriff von dem der
erzählten Zeit,
bei der es um den Zeitraum geht, der in einer Geschichte erzählt wird. Das
Verhältnis
dieser beiden Strukturen
der Zeitgestaltung bestimmt im Kern, wie "schnell" ein Geschehen erzählt wird.
Dennoch: Die Erzählzeit ist vom Leser abhängig, der letzten Endes
darüber bestimmt, wie lange sein Leseprozess andauert. Aus diesem Grunde
kann sie sich natürlich auch beträchtlich voneinander unterscheiden. Als
eine Art "Hilfskonstruktion" (Schwarze
1982, S.156, Anm. 18) kann man daher auch den Umfang als
Zeilen- oder Seitenumfang eines Erzähltextes heranziehen und ihn in ein
Verhältnis
zur erzählten
Zeit setzen, wobei grundsätzlich gilt, dass die Erzählzeit "die
im narrativen Text wiedergegebene Wirklichkeit interpretiert." (ebd.)
Die im Text dargestellte Wirklichkeit kann z. B. dadurch interpretiert
werden, dass die Erzählzeit, die vom Leser aufgewendet werden muss,
beträchtlich größer ist als in Wirklichkeit. Wer z. B. den "Lebensfilm"
erzählen will, den eine Figur kurz vor einem Frontalzusammenstoß mit
seinem Auto wahrnimmt, kann so sehr er sich auch bemüht, dieses in
Sekundenbruchteilen sich abspielende psychische Ereignis mit all seinen
Bildern nicht annähernd
zeitdeckend erzählen. Die
Ausdehnung der Erzählzeit kann dabei auch zu einer imaginären
Zeitwahrnehmung führen, wie das
Jose Luis Borges
eindrücklich vor Augen führt.
Gert Egle, zuletzt bearbeitet am:
20.05.2022
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